Albertus Magnus, Albert der Große, Graf von Bollstädt (1200 – 1280)
>>>Gott
Zur
synoptischen Frage
275. Beachte: Die drei Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas möchten
die drei Verleugnungen Jesu durch Petrus sämtlich im Hof des Kajafas geschehen
sein lassen. Johannes besteht ausdrücklich darauf, das erstemal habe Petrus den Herrn im Hof des Hannas verleugnet. Es ist anzunehmen, daß damit der
wirkliche Tatbestand getroffen ist. Dieser Angabe haben wir uns bei der Auslegung
angeschlossen. Die drei anderen Evangelisten haben wohl eine Zusammenfassung
vorgenommen.
276. Das vierte Evangelium steht dem Rang nach am höchsten, weil es den
erhabensten Inhalt hat: das Mensch-gewordene Wort. Freilich, die anderen Evangelisten
schreiben Wahrheit Gottes nieder, nicht aber die Wahrheit vom Fleisch-gewordenen
Wort. Darum steht Johannes über den anderen dreien, und sein Evangelium
kommt vor den anderen göttlichen Schriften.
277. Dieses vierte Evangelium handelt über das Mensch-gewordene Wort, sowohl
in sich wie in den Geheimnissen seines angenommenen Menschenlebens. Wir haben
ja schon in den früheren Erklärungen des Evangeliums (Mt, Mk, Lk) gesehen, dass jeder Evangelist seine Darstellung gemäß einer
eigenen Leitidee aufbaut. So ist bei Johannes das Ziel, von dem er sich leiten
lässt, die Kundmachung der Gottheit des Wortes.
Geheimnis
der Menschwerdung
278.»Mit der Geburt Jesu war es so« Nicht als wäre diese menschliche
Geburt voll in Worte zu fassen. Sagbar ist sie höchstens in allgemeiner
Form: Dass sie durch den Heiligen Geist geschehen ist und von der Jungfrau.
Wie aber nun im einzelnen durch den Heiligen Geist und wie aus der Jungfrau,
das ist unsagbar. Ps. 19, 5f.: »Dort hat er der Sonne ein Zelt gebaut; sie
tritt aus ihrem Gemach hervor wie ein Bräutigam.« Mit ihrem überstarken
Licht überwältigt die Sonne das Auge, und so blendet der Glanz des
Wunderbaren an dieser Geburt den Verstand. Koh 11,5: »Wie du nicht weißt,
auf welchem Weg der Lebensodem zur Leibesfrucht gelangt und wie das Gebein sich
bildet im Schoß der Schwangeren, ebensowenig kennst du das Tun Gottes,
der alles wirkt.« Wie der Geist in der Jungfrau das Blut gereinigt, abgesondert,
gesammelt, umgewandelt und mit Lebenskraft erfüllt hat, und wie die Glieder
Christi sich formten und zugleich beseelt und mit der Gottheit vereinigt wurden,
das wissen wir nicht. Wir mögen auch in aller Demut, Ehrfurcht und Andacht
mit Johannes dem Täufer (Mk 1, 7), der sich nicht würdig fühlte,
ihm die Schuhriemen zu lösen, uns niederwerfen, so sind wir es doch nicht
wert, mit der Schärfe des Verstandes das Band zu fassen, das unsere Sterblichkeit
mit der Gottheit einte, als er den Fuß auf unser (unter Gottes Zorn stehendes) Land Idumäa setzte. Noch viel weniger kennen wir jenes Tun der alleswirkenden
Dreieinigkeit, als sie im Schoß der Jungfrau wie in einem prachtvollen
Gemach Wohnung nahm und, als der Bildner des Alls, dem Sohn, durch den er alles
geschaffen hatte, die Menschengestalt in Vollendung gab. So also ist es zu verstehen,
dass die Geburt Jesu nur mit einem zusammenfassenden Ausdruck wiedergegeben
wird. Im einzelnen ist sie für keinen Menschen einsichtig.
279. Mit Zurückhaltung und Vorsicht müssen wir hier (beim Sprechen über das Geheimnis der Menschwerdung) auf die vorgebrachten Schwierigkeiten
eingehen. Da können sich leicht Irrtümer einschleichen. An der Wahrheit
des Glaubens ist unbedingt festzuhalten, jedenfalls viel eher als (an der Sprachlogik) des Aristoteles, des Fürsten der Philosophen. Es darf doch nicht wundernehmen,
daß die Menschwerdung etwas an sich hat, das gegen die gewöhnlichen
Regeln des Denkens verstößt. Sie ist ja nicht einmal dem Forschen
des von der Gnade Gottes erleuchteten Menschengeistes zugänglich. Darum
sagt Johannes der Täufer (Mk 1, 7): » Nach mir kommt einer, der ist stärker
als ich; ich bin es nicht wert, mich zu bücken und ihm die Schuhriemen
zu lösen.« Soweit es geht, halten wir an den Regeln der Sprachlehre
fest.
Aus: Albertus Magnus, Ausgewählte Texte. Lateinisch
und Deutsch. Hrsg. und übers. von Albert Fries
© 1981 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 4. unveränderte
Auflage (S. 249, 251)
Texte zur Forschung Band 35
Veröffentlichung auf Pilos-Website mit freundlicher
Erlaubnis der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt