Alexandre Vinet (1797 – 1847)

  Schweizer Theologe und Literaturhistoriker, der auch der protestantische »Pascal« oder der »Schleiermacher« des französischen Protestantismus genannt wird. Vinet war einer der Führer der »Erweckung« in der Schweiz. Er trat für die Trennung von Staat und Kirche ein und wirkte bei der Gründung der waadtländischen Freikirche mit.

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Inhaltsverzeichnis
Die gottsuchende Menschheit
Wahre Religion
Leiden - eine göttliche Erziehung


Die gottsuchende Menschheit
Ich bin das A und O, der Anfang und das Ziel. Dem Durstigen will ichaus Gnaden geben vom Quell des Wassers des Lebens. Off 21, 6
Die Menschheit hat sich von Gott getrennt; die Stürme der Leidenschaften haben das Tau zerrissen, welches das Schiff im Hafen hielt. In unbekannte Weiten abgetrieben, sucht es doch immer heim, sucht die Geborgenheit und den Frieden, die es im weiten Meere der Welt nicht findet. Auch in den größten Abirrungen verliert die Menschheit nicht ganz die Idee ihres Ursprungs und ihrer Bestimmung. Eine dunkle Erinnerung an ihre ursprüngliche Harmonie verfolgt sie, und ohne sich ihrer Leidenschaften zu entschlagen und das Böse zu lassen, möchte sie ihre von Finsternis und Elend erfüllte Existenz an etwas Lichtes, Friedenbringendes, möchte das vergängliche, flüchtige Leben an etwas Wandelloses, Bleibendes knüpfen. Mit einem Worte: Gott ist noch immer und immer wieder die Sehnsucht des Menschengeschlechts.

Aber ach, die Huldigungen, die es der Gottheit darbringt, sind befremdlich, die Formen der Anbetung entartet, und selbst die Frömmigkeit des Herzens ist unrein. Dennoch, im heimlichen Grunde aller so erschreckenden Verirrungen verrät sich die
tiefe Sehnsucht der Menschenseele, und alle noch so entarteten kultischen Äußerungen sind ein Schrei der leidenden Seele, die, vom Anker losgerissen, sich von ihrem Ziele getrennt weiß. Es ist die Nacktheit, die sich mit den ersten besten Fetzen kleiden möchte; es ist die Wüste, in der der Wanderer an beliebigen schmutzigen Wassern seinen Durst zu stillen sucht.

Meine Freunde, gäbe es nicht die Frohbotschaft
Jesu Christi, die das Geheimnis der Menschenseele deutet und ihrer Sehnsucht Erfüllung verheißt, wir müssten sterben vor Leid, dass wir zum Leben verurteilt sind, dass wir dieses unauslöschliche Verlangen nach dem Guten in uns tragen, diesen glühenden Durst nach Gott — wenn alles doch nur eine grausame Täuschung wäre, das tragische Spiel einer unbekannten Macht, die uns ungefragt in dieses Leben geworfen hat.
S.15

Wahre Religion
Wenn ich alle Geheimnisse wüsste und alle hohe Erkenntnis besäße, aber hätte nicht Liebe, so wäre ich nichts
. 4 Kor 43,2
Man pflegt dem Wort »Wahrheit« in der Sprache der Welt einen zu engen Sinn zu geben: man versteht darunter die Übereinstimmung unseres Vorstellungsbildes mit dem Gegenstand. Aber die Wahrheit liegt ebenso in den Tatsachen wie in den Ideen. Wenn das Mittel dem Ziel entspricht, wenn das Tun im Grundsatz begründet ist, wenn das Leben mit der Erkenntnis übereinstimmt, so ist das Wahrheit. In moralischen Dingen lässt sich die Wahrheit nicht vom Leben trennen, und wenn sie, statt sich im Leben darzustellen, im Gedankenbereiche bleibt, so verdient sie nicht den Namen Wahrheit. Wenn jemand fragt, ob ich in der Wahrheit stehe, so ist es ihm nicht darum zu tun, was ich weiß, sondern was ich bin.

Wenden wir dies auf die christliche Wahrheit an, so finden wir: in der Wahrheit sein, heißt im innern Leben und im äußeren Verhalten immer mehr
Jesus Christus ähnlich werden; es heißt seinem Wandel folgen in allen Entscheidungen des persönlichen Lebens, seinem Tod durch eigenes Absterben der Sünde, seiner Auferstehung durch persönliche Wiedergeburt, seiner unsichtbaren Herrlichkeit durch das verborgene Leben mit ihm in Gott — mit einem Wort: es heißt das ganze Leben Christi im Geiste in sich nachvollziehen. Nur so kann man von »Erkenntnis der Wahrheit« und »Leben in der Wahrheit« reden.

Wenn Religion etwas mehr ist als Wissenschaft, wenn sie ein auf
göttlichen Wirklichkeiten begründetes Leben ist, so heißt das mit andern Worten: sie ist mehr als ein Gedankensystem — und wer in ihr nur den Lehrgehalt sieht, bleibt außerhalb der christlichen Wahrheit. Und würde er selbst alle nur mögliche Aufmerksamkeit jeder einzelnen dieser Ideen, ihrem gegenseitigen Verhältnis und ihrem Zusammenhang widmen und darin täglich eine neue Entdeckung machen — so würde der ganze Fortschritt ihn um keinen Schritt der Wahrheit näherbringen. Was er gelernt hat, kann alles wahr sein, aber er ist deshalb doch nicht in der Wahrheit.
S.28

Leiden - eine göttliche Erziehung
Wir freuen uns auch über die Drangsale. Röm 5,3
Wenn die Gerechtigkeit Gottes aufscheint in den Leiden der Menschheit, so entfaltet sich darin noch mehr seine Barmherzigkeit. Diese Leiden sind die Schule, in der der Geist Gottes uns die ewigen Wahrheiten lehren und uns zum Himmel erheben will. Diese Leiden sind gewissermaßen die notwendige Vorrede des göttlichen Werkes. das durch Enttäuschungen, Misserfolge, Erniedrigungen daran arbeitet, unsere Seele von ihren alten Anhänglichkeiten zu lösen. und sie zum Empfang des neuen Gastes bereitet. Die Leiden, mit einem Wort, sind Hinführungen zur Gnade.

Gewiss wäre die Erziehung durch den Schmerz unnötig, wenn es sich nur um unsere Vervollkommnung handelte; aber diese Erziehung ist unbedingt nötig für Wesen, die der Wiedergeburt bedürfen. Durch die Zuchtrute für die Sünde will Gott die einzelnen und die Völker aus den Ketten der Sünde lösen. Auf den Trümmern unserer menschlichen Hoffnungen und unseres Glücks, auf der Asche alles dessen, was uns teuer ist, müssen mit aller Kraft die Schößlinge wachsen, die Frucht für das ewige Leben bringen.

Die Stunde der Trübsal wird dich lehren, wie sehr Gott dich liebt; denn Gott hat dir für diese Stunde die größten Gnaden vorbehalten. Wie viele haben schon bekannt und werden es noch bekennen, dass sie nie so wie in den Stunden der Not verkostet haben, wie gut der Ewige ist. Die durch Leid gingen, sind die Dankbaren
. S.98
Aus: Otto Karrer, Jahrbuch der Seele . Aus der Weisheit der christlichen Jahrhunderte. Verlag Ars Sacra Josef Müller München