Franz Overbeck (1837 - 1905)

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Christentum ist der Glaube an Christus – die Religion Christi

Als der feste Punkt zur Bestimmung des beharrenden Wesens des Christentums, auf welchen auch die fortgeschrittenere liberale Theologie bei aller »Perfektibilität« [Fähigkeit zur Vervollkommnung], die sie vom Christentum aussagt, doch geraten muss, ergibt sich ihr das »Christentum Christi«, ein Begriff, der in dieser Theologie wohl allgemeine Anerkennung findet, aber eine für sie überhaupt charakteristische Unklarheit enthält. Es wird sich nicht wohl bezweifeln lassen, dass mindestens hier von Christentum die Rede ist an einer Stelle, an welcher davon nicht geredet werden kann. Denn Christentum ist jedenfalls, was schon die Etymologie [Ableitung und Erklärung] des Worts sagt, ein Glaube an Christus, mithin jedenfalls nicht sein eigener Glaube. In der Tat verbirgt sich auch in dieser unmöglichen Vorstellung eines Christentums Christi eine andere, welche freilich die Illusion nicht gestattet, die noch bei der eines Christentums Christi möglich ist, die Lessing‘sche nämlich von einer »Religion Christi«. Von dieser kann man in der Tat nicht verkennen, dass sie das Christentum als Religion aus den Angeln hebt, und Lessing jedenfalls weiß es im Fragment über die »Religion Christi« sehr wohl, dass wer von einer Religion Christi redet und sich an diese halten zu wollen des Sinnes ist, sich außerhalb der christlichen Religion stellt, welche ihrer ganzen Vorstellung von Christus zufolge von einer eigenen Religion Christi nichts wissen kann, jedenfalls nicht in dem Sinne, in welchem diese Religion unmittelbar die aller Menschen werden könnte.

Die Vorstellung einer »Religion Christi« dagegen beruht auf der historischen Entdeckung des menschlichen Wesens Christi, d. h. auf der Entdeckung, dass die christliche Religion, wenn sie auch schon im ersten Moment ihres Auftretens als Universalreligion Christus zur Würde eines göttlichen Wesens erhoben hat, doch mit Unrecht diese ihre Vorstellung von ihm in die vorausgegangene Urzeit zurückverlegt und mit besonderem Unrecht auf das eigene Zeugnis des Stifters begründet hat. Nun liegt die kritische Bedeutung dieser Entdeckung der ganzen christlichen Religion gegenüber ebenso auf der Hand, als ihre Unbrauchbarkeit zu deren Rekonstruktion. Denn nur jene Zurückverlegung hat das Christentum zu der Universalreligion gemacht, die wir Christentum nennen. Als solche hat es ohne jene Zurückverlegung nie bestanden, während die Entdeckung der Unrechtmäßigkeit der Zurückverlegung, wenn wir sie praktisch machen wollen, uns zunächst nur auf den sogenannten judenchristlichen Standpunkt versetzen kann, d. h. auf einen Standpunkt, der, wenn er schon durch die unmittelbaren Jünger Jesu nicht zu universeller Bedeutung erhoben werden konnte, jedenfalls durch uns und namentlich nur durch unsere gelehrten Entdeckungen dazu erhoben zu werden noch viel weniger Aussicht hat. Ja wenn wir, nur von einer Religion Christi reden, gehen wir selbst hinter jenen Standpunkt der ältesten an Christus Glaubenden zurück, welche in ihm doch einen menschlichen Messias verehrten, und an ihm also jedenfalls mehr hatten als das Vorbild seiner Religion, da natürlich sein Glaube der Messias zu sein zu dieser Vorbildlichkeit nicht gehören kann. Wir gelangen also, wenn wir uns der eigenen menschlichen Religion Christi gegenüberstellen, nur zu einer vom Christentum aus betrachtet dahinter liegenden aber für dessen Begründung gleichgültigen Tatsache, da in Wirklichkeit nicht diese Religion das Christentum begründet hat, welche also, ob sie heute für uns mehr Wert hat, als eine historische Entdeckung, nur dadurch beweisen könnte, dass sie uns zur Begründung einer neuen Religion dienlich wäre.
Aus: Franz Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, (S.74-76)
2., um eine Einleitung und um ein Nachwort vermehrte Auflage, Leipzig 1903. Reprog. Nachdruck 1981. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt