>>>Gott
Christentum
ist der Glaube an Christus – die Religion Christi
Als der feste Punkt zur Bestimmung des beharrenden Wesens des Christentums,
auf welchen auch die fortgeschrittenere liberale
Theologie bei aller »Perfektibilität«
[Fähigkeit zur Vervollkommnung],
die sie vom Christentum aussagt, doch geraten muss, ergibt sich ihr das »Christentum
Christi«, ein Begriff, der in dieser Theologie wohl allgemeine
Anerkennung findet, aber eine für sie überhaupt charakteristische
Unklarheit enthält. Es wird sich nicht wohl bezweifeln lassen, dass mindestens
hier von Christentum die Rede ist an einer Stelle, an welcher davon nicht geredet
werden kann. Denn Christentum ist jedenfalls, was schon die Etymologie
[Ableitung und Erklärung] des
Worts sagt, ein Glaube an Christus, mithin jedenfalls
nicht sein eigener Glaube. In der Tat verbirgt sich auch in dieser unmöglichen
Vorstellung eines Christentums Christi eine andere, welche freilich die Illusion
nicht gestattet, die noch bei der eines Christentums Christi möglich ist,
die Lessing‘sche
nämlich von einer »Religion Christi«.
Von dieser kann man in der Tat nicht verkennen, dass sie das Christentum als
Religion aus den Angeln hebt, und Lessing jedenfalls weiß es im Fragment
über die »Religion Christi« sehr
wohl, dass wer von einer Religion Christi redet
und sich an diese halten zu wollen des Sinnes ist, sich außerhalb der
christlichen Religion stellt, welche ihrer ganzen Vorstellung von Christus zufolge
von einer eigenen Religion Christi nichts wissen
kann, jedenfalls nicht in dem Sinne, in welchem diese Religion unmittelbar die
aller Menschen werden könnte.
Die Vorstellung einer »Religion Christi«
dagegen beruht auf der historischen Entdeckung des menschlichen Wesens Christi,
d. h. auf der Entdeckung, dass die christliche Religion, wenn sie auch schon
im ersten Moment ihres Auftretens als Universalreligion Christus zur Würde
eines göttlichen Wesens erhoben hat, doch mit Unrecht diese ihre Vorstellung
von ihm in die vorausgegangene Urzeit zurückverlegt und mit besonderem
Unrecht auf das eigene Zeugnis des Stifters begründet hat. Nun liegt die
kritische Bedeutung dieser Entdeckung der ganzen christlichen Religion gegenüber
ebenso auf der Hand, als ihre Unbrauchbarkeit zu deren Rekonstruktion. Denn
nur jene Zurückverlegung hat das Christentum zu der Universalreligion gemacht,
die wir Christentum nennen. Als solche hat es ohne jene Zurückverlegung
nie bestanden, während die Entdeckung der Unrechtmäßigkeit der
Zurückverlegung, wenn wir sie praktisch machen wollen, uns zunächst
nur auf den sogenannten judenchristlichen Standpunkt versetzen kann, d. h. auf
einen Standpunkt, der, wenn er schon durch die unmittelbaren Jünger Jesu
nicht zu universeller Bedeutung erhoben werden konnte, jedenfalls durch uns
und namentlich nur durch unsere gelehrten Entdeckungen dazu erhoben zu werden
noch viel weniger Aussicht hat. Ja wenn wir, nur von einer Religion
Christi reden, gehen wir selbst hinter jenen Standpunkt der ältesten
an Christus Glaubenden zurück, welche in ihm doch einen menschlichen Messias
verehrten, und an ihm also jedenfalls mehr hatten als das Vorbild seiner Religion,
da natürlich sein Glaube der Messias zu sein zu dieser Vorbildlichkeit
nicht gehören kann. Wir gelangen also, wenn wir uns der eigenen menschlichen
Religion Christi gegenüberstellen, nur zu einer vom Christentum
aus betrachtet dahinter liegenden aber für dessen Begründung gleichgültigen
Tatsache, da in Wirklichkeit nicht diese Religion das Christentum begründet
hat, welche also, ob sie heute für uns mehr Wert hat, als eine historische
Entdeckung, nur dadurch beweisen könnte, dass sie uns zur Begründung
einer neuen Religion dienlich wäre.
Aus: Franz Overbeck, Über die Christlichkeit
unserer heutigen Theologie, (S.74-76)
2., um eine Einleitung und um ein Nachwort vermehrte Auflage, Leipzig 1903.
Reprog. Nachdruck 1981. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt