Helmuth Johannes Ludwig Graf von Moltke (1800 - 1891)

  Deutscher General-Feldmarschall, der u. a. im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 der deutschen Heeresleitung vorstand.

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Letzte Gedanken
Die Gesetze, welche die menschliche Gesellschaft sich gegeben hat, ziehen nur das Handeln vor ihren Richterstuhl, nicht auch das Denken und Empfinden. Selbst die verschiedenen Religionen fordern anderes bei anderen Völkern. Sie verlangen die Heiligung hier des Sonntags, dort des Sonnabends oder Freitags. Die eine erlaubt Genüsse, welche die andere verbietet. Ohnehin bleibt zwischen Erlaubtem und Verbotenem noch ein weiter Spielraum, und eben hier erhebt mit feinerem Gefühl das Gewissen seine Stimme. Es sagt uns, dass jeder Tag dem Herrn geweiht sein sollte, dass selbst der erlaubte Zins, vom Bedrängten erhoben, unrecht sei, mit einem Wort, es predigt die Moral in der Brust von Christen und Juden, von Heiden und Wilden. Denn selbst bei den ungebildetsten Völkern, denen das Christentum nicht leuchtet, stimmen die Grundbegriffe über Gutes und Böses überein. Auch sie erkennen Treubruch und Lüge, Verrat und Undank für schlecht, auch ihnen ist das Band zwischen Eltern, Kindern und Verwandten heilig. Es ist schwer, an die allgemeine Verderbtheit des Menschengeschlechtes zu glauben, denn wie sehr auch von Rohheit und Wahnvorstellungen verdunkelt, liegt doch in jeder Menschenbrust der Keim zum Guten, der Sinn für Edles und Schönes, wohnt in ihr das Gewissen, welches den rechten Weg zeigt. — Gibt es einen überzeugenderen Beweis für das Dasein Gottes, als dies allen gemeinsame Gefühl für Recht und Unrecht, als die Übereinstimmung eines Gesetzes, wie in der physischen, so in der moralischen Welt; nur dass die Natur diesem Gesetze unbedingt folgt, dem Menschen aber, weil frei, die Möglichkeit gegeben ist, es zu verletzen.

Körper und Vernunft dienen der herrschenden Seele, aber sie stellen auch ihre selbständigen Forderungen, sie sind mitbestimmend, und so wird das Leben des Menschen ein steter Kampf mit sich selbst. Wenn dabei nicht immer die Stimme des Gewissens die Entschließung der so vielfach von äußerem und innerem Widerstreit bedrängten Seele entscheidet, so müssen wir hoffen, dass der Herr, welcher uns unvollkommen schuf, nicht das Vollkommene von uns fordern wird.

Denn wie vieles stürmt nicht bei seinem Handeln auf den Menschen ein, wie verschieden sind schon seine ursprünglichen Naturanlagen, wie ungleich Erziehung und Lebenslage. Leicht wird es dem vom Glück Bevorzugten, den rechten Weg einzuhalten, kaum dass die Versuchung, wenigstens zum Verbrechen, an ihn herantritt; schwer dagegen dem hungernden, ungebildeten, von Leidenschaften bestürmten Menschen. Dies alles muss bei Abwägung von Schuld und Unschuld vor dem Weltgericht schwer in die Waagschale fallen, und hier wird Gnade zur Gerechtigkeit; zwei Begriffe, die sich sonst ausschließen.

Es ist schwerer, das Nichts als das Etwas zu denken, zumal dies Etwas doch einmal da ist, schwerer das Aufhören als die Fortdauer. Unmöglich kann dies Erdenleben ein letzter Zweck sein. Wir haben ja nicht um dasselbe gebeten, es ward uns gegeben, auferlegt. Eine höhere Bestimmung müssen wir haben, als etwa den Kreislauf dieses traurigen Daseins immer wieder zu erneuern. Sollen die uns rings umgebenden Rätsel sich niemals klären, an deren Lösung die Besten der Menschheit ihr Leben hindurch geforscht? Wozu die tausend Fäden von Liebe und Freundschaft, die uns mit Gegenwart und Vergangenheit verbinden, wenn es keine Zukunft gibt, wenn alles mit dem Tode aus ist.

Was aber kann in diese Zukunft hinübergenommen werden?

Die Funktionen unseres irdischen Kleides, des Körpers, haben aufgehört; die Stoffe, welche ja schon bei Lebzeiten beständig wechseln, treten in neue chemische Verbindungen, und die Erde hält alles fest, was ihr gehört. Nicht das Kleinste geht verloren. Die Schrift verspricht uns die Auferstehung eines verklärten Leibes, und freilich lässt sich ein Sonderdasein ohne Begrenzung nicht denken; dennoch ist unter dieser Verheißung wohl nur die Fortdauer der Individualität zu verstehen, im Gegensatz zum Pantheismus.

Dass die Vernunft und mit ihr alles, was wir an Kenntnis und Wissen mühsam erworben, uns in die Ewigkeit begleiten wird, dürfen wir hoffen, vielleicht auch die Erinnerung an unser irdisches Dasein. Ob wir das zu wünschen haben, ist eine andere Frage. — Wie, wenn einst unser ganzes Leben, unser Denken und Handeln vor uns ausgebreitet daläge und wir nun selbst unsere eigenen Richter würden, unbestechlich, erbarmungslos?

Aber vor allem das Gemüt mu
ss der Seele verbleiben, wenn sie unsterblich ist. Die Freundschaft zwar beruht auf Gegenseitigkeit, bei ihr spricht noch die Vernunft mit, aber die Liebe kann bestehen ohne Gegenliebe. Sie ist die reinste, die göttliche Flamme unseres Wesens.

Nun sagt uns die Schrift, wir sollen vor allem Gott lieben,
ein unsichtbares, uns völlig unfa
ssbares Wesen, welches uns Freude und Glück, aber auch Entbehrung und Schmerz bereitet. Wie können wir es anders, als indem wir seine Gebote befolgen und unsere Mitmenschen lieben, die wir sehen und verstehen.

Wenn, wie der Apostel Paulus schreibt, einst der Glaube in die Erkenntnis, die Hoffnung in die Erfüllung aufgeht und nur die Liebe besteht, so dürfen wir hoffen, auch der Liebe eines milden Richters zu begegnen.

Aus: Helmut Graf Moltke, Leben und Werk in Selbstzeugnissen. Leipzig o. J., S.469 bis 472
Enthalten in: Zeichen der Zeit, Ein deutsches Lesebuch in vier Bänden. Band 3: Auf dem Wege zur Klassik, Herausgegeben von Walther Killy Fischer Bücherei 276 (S.357ff.)