Helmuth Johannes Ludwig Graf von Moltke (1800 - 1891)
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Deutscher
General-Feldmarschall, der u. a. im Deutsch-Französischen
Krieg von 1870/71 der deutschen Heeresleitung vorstand. Siehe auch Wikipedia |
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Letzte Gedanken
Die Gesetze, welche die menschliche Gesellschaft sich gegeben hat, ziehen nur
das Handeln vor ihren Richterstuhl, nicht auch das Denken und Empfinden. Selbst
die verschiedenen Religionen fordern anderes bei anderen Völkern. Sie verlangen
die Heiligung hier des Sonntags, dort des Sonnabends oder Freitags. Die eine
erlaubt Genüsse, welche die andere verbietet. Ohnehin bleibt zwischen Erlaubtem
und Verbotenem noch ein weiter Spielraum, und eben hier erhebt mit feinerem
Gefühl das Gewissen seine Stimme. Es sagt uns, dass
jeder Tag dem Herrn geweiht sein sollte, dass selbst der erlaubte
Zins, vom Bedrängten erhoben, unrecht sei, mit einem Wort, es predigt die
Moral in der Brust von Christen und Juden, von Heiden und Wilden. Denn selbst
bei den ungebildetsten Völkern, denen das Christentum nicht leuchtet, stimmen
die Grundbegriffe über Gutes und Böses überein. Auch sie erkennen Treubruch und Lüge,
Verrat und Undank für schlecht, auch ihnen ist das Band zwischen Eltern,
Kindern und Verwandten heilig. Es ist schwer, an die allgemeine
Verderbtheit des Menschengeschlechtes zu glauben, denn wie sehr auch
von Rohheit und Wahnvorstellungen verdunkelt, liegt doch in jeder Menschenbrust
der Keim zum Guten, der Sinn für Edles und Schönes, wohnt in ihr das
Gewissen, welches den rechten Weg zeigt. — Gibt
es einen überzeugenderen Beweis für das Dasein
Gottes, als dies allen gemeinsame Gefühl für Recht und Unrecht,
als die Übereinstimmung eines Gesetzes,
wie in der physischen, so in der moralischen Welt; nur dass die Natur diesem
Gesetze unbedingt folgt, dem Menschen aber, weil frei, die Möglichkeit
gegeben ist, es zu verletzen.
Körper und Vernunft dienen der herrschenden
Seele, aber sie stellen auch
ihre selbständigen Forderungen, sie sind mitbestimmend, und so wird das Leben des Menschen ein steter Kampf mit sich selbst. Wenn
dabei nicht immer die Stimme des Gewissens die
Entschließung der so vielfach von äußerem
und innerem Widerstreit bedrängten Seele entscheidet, so müssen
wir hoffen, dass der Herr, welcher uns unvollkommen
schuf, nicht das Vollkommene
von uns fordern wird.
Denn wie vieles stürmt nicht bei seinem Handeln auf den Menschen ein, wie
verschieden sind schon seine ursprünglichen
Naturanlagen, wie ungleich Erziehung und Lebenslage. Leicht wird es dem vom Glück Bevorzugten, den rechten Weg einzuhalten,
kaum dass die Versuchung, wenigstens zum Verbrechen,
an ihn herantritt; schwer dagegen dem hungernden, ungebildeten,
von Leidenschaften bestürmten Menschen. Dies alles muss bei
Abwägung von Schuld und Unschuld vor dem Weltgericht schwer in die Waagschale
fallen, und hier wird Gnade zur Gerechtigkeit;
zwei Begriffe, die sich sonst ausschließen.
Es ist schwerer, das Nichts als das Etwas zu denken, zumal dies Etwas doch
einmal da ist, schwerer das Aufhören als die Fortdauer. Unmöglich kann dies Erdenleben ein letzter
Zweck sein. Wir haben ja nicht um dasselbe
gebeten, es ward uns gegeben, auferlegt.
Eine höhere Bestimmung müssen wir haben,
als etwa den Kreislauf dieses traurigen Daseins immer wieder zu erneuern.
Sollen die uns rings umgebenden Rätsel sich
niemals klären, an deren Lösung die Besten der Menschheit ihr Leben
hindurch geforscht? Wozu die tausend Fäden von Liebe und Freundschaft, die uns mit Gegenwart und Vergangenheit verbinden, wenn
es keine Zukunft gibt, wenn alles mit dem
Tode aus ist.
Was aber kann in diese Zukunft
hinübergenommen werden?
Die Funktionen unseres irdischen Kleides, des Körpers, haben aufgehört;
die Stoffe, welche ja schon bei Lebzeiten beständig wechseln, treten in
neue chemische Verbindungen, und die Erde hält alles fest, was ihr gehört. Nicht das Kleinste geht verloren. Die Schrift verspricht uns die Auferstehung eines verklärten Leibes, und freilich lässt sich ein
Sonderdasein ohne Begrenzung nicht denken; dennoch ist unter dieser Verheißung wohl nur die Fortdauer der Individualität zu verstehen,
im Gegensatz zum
Pantheismus.
Dass die Vernunft und mit ihr alles, was wir an Kenntnis
und Wissen mühsam erworben, uns in die
Ewigkeit begleiten wird, dürfen wir hoffen, vielleicht auch die Erinnerung
an unser irdisches Dasein. Ob wir das zu wünschen haben, ist eine
andere Frage. — Wie, wenn einst unser ganzes Leben,
unser Denken und Handeln vor uns ausgebreitet daläge und wir nun selbst
unsere eigenen Richter würden, unbestechlich, erbarmungslos?
Aber vor allem das Gemüt muss der Seele verbleiben,
wenn sie unsterblich
ist. Die Freundschaft zwar beruht auf Gegenseitigkeit, bei ihr spricht
noch die Vernunft mit, aber die Liebe kann bestehen
ohne Gegenliebe. Sie ist die reinste,
die göttliche Flamme unseres Wesens.
Nun sagt uns die Schrift, wir sollen vor allem
Gott lieben, ein unsichtbares, uns völlig unfassbares
Wesen, welches uns Freude und Glück, aber auch Entbehrung
und Schmerz bereitet. Wie können wir es anders, als indem wir seine
Gebote befolgen und unsere Mitmenschen lieben, die wir sehen und verstehen.
Wenn, wie der Apostel Paulus schreibt, einst der
Glaube in die Erkenntnis, die Hoffnung in die Erfüllung aufgeht und nur
die Liebe besteht, so dürfen wir hoffen, auch
der Liebe eines milden Richters zu begegnen.
Aus: Helmut Graf Moltke, Leben und Werk in Selbstzeugnissen.
Leipzig o. J., S.469 bis 472
Enthalten in: Zeichen der Zeit, Ein deutsches Lesebuch in vier Bänden.
Band 3: Auf dem Wege zur Klassik, Herausgegeben von Walther Killy Fischer Bücherei
276 (S.357ff.)