Karpokrates (2. Jahrhundert n.Chr.)

Begründer der gnostischen Sekte der Karpokratianer, die nach Irenäus seit Mitte des 2. Jahrhunderts. in Rom - und laut Klemens von Alexandria auch in Alexandrien - aufgetreten sein soll. Ob es sich bei Karpokrates aber tatsächlich um eine historische Person oder nur um eine gnostische Gemeinschaft handelt, die sich ihren Namen nach dem ägyptischen Gott Horus-Harpokrates gab, ist umstritten.

Das System der Karpokratianer
In der Höhe ist der eine Ursprung und der Vater des Alls, unerkennbar, unnennbar, willens, Gleichheit unter den Dingen zu stiften.

Die Welt jedoch, und was in ihr ist, stammt von Engeln, welche weit hinter dem unerkennbaren Vater zurückstehen.

Dadurch, daß sie der höchsten Macht abtrünnig wurden, bildeten sie die Welt.

Und Jesus, unser Herr, war ein Sohn des Joseph, nicht anders als alle Menschen aus dem Samen von Mann und Weib entstanden, doch von den gewöhnlichen Menschen durch Weisheit, Tugend und Gerechtigkeit unterschieden.

In seinen Körper wurde das Gesalbte mit der Erinnerung an das, was er in der Höhe, als er im Umkreise des unerkennbaren Vaters war, gesehen hatte, von eben diesem Vater entsandt, mit dem Auftrage, den Jesus zu veranlassen, er möge die weltbildenden Engel fliehen, alle Dinge der Weltordnung durchschreiten und hernach, in allen befreit, das ihm Gleichwertige in Liebe umfassend, zu ihm zurückkehren.

So kam es, daß Jesus, aufgezogen in den jüdischen Vorschriften, dieselben verachtete, und eben hierdurch jene Macht erhielt, durch die er im Stande war, im sieghaften Widerstreite gegen die Macht der weltbildenden Herrscher die Leiden auf zu heben, die zur Bestrafung der Menschen dienen.

Und eine Seele, welche im Stande ist, die weltbildenden Herrscher ebenso zu verachten wie Christus, wird wie er die Macht zu gleichen Taten erhalten, und falls sie noch größerer Verachtung fähig ist, noch größerer Macht gewürdigt werden und Jesus selbst übertreffen.

Denn Gut und Böse gibt es nur in der Meinung der Menschen; denn keines Menschen Leben führt zur Befriedigung, es sei denn, daß alles, was ihm entgegensteht, ausgestochen ist.

Deshalb droht notwendig der Seele die Verpflanzung, wenn sie nicht schon im ersten Verkehre dieses Lebens allen Verlockungen nachgibt. Denn die Verbrechen sind ein Tribut an das Leben.

Und so oft muß die Seele in den Körper zurückkehren, so oft sie etwas ungetan gelassen hat, durch dessen Unterlassung sie in ihrer Freiheit behindert wurde.

Und deshalb hat Jesus im Gleichnisse gesagt:

»Wenn du mit deinem Widersacher unterwegs bist, dann sieh zu, daß du von ihm befreit werdest, auf daß er dich nicht dem Richter ausfolge, und der Richter dem Diener, und dieser dich in den Körper einschließe. Wahrlich, ich sage dir, du verlässest diesen Ort nicht, bis daß du nicht den letzten Groschen zurückgegeben hast« (Luk. 12,58, Matth. 5, 25-26)

Und der Widersacher ist einer der Herrscher, die in der Welt sind; er heißt Verleumder und ist dazu geschaffen, untergegangenen Seelen aus der Welt zu dem Fürsten zu führen.

Und dieser Fürst ist der erste unter den Weltbildnern, und er gibt solche Seelen einem anderen Engel, der sein Diener ist, auf daß er sie in neue Körper einschließe; denn der Körper ist ein Kerker.

Und das ist es, was er sagt: »Du verlässest diesen Ort nicht, bis daß du nicht den letzten Groschen zurück gegeben hast«.

Keiner vermag der Macht der Engel, welche diese Welt gebildet haben, zu entgehen, und jeder wird von ihnen in neue Körper verpflanzt; es sei denn, daß er das Maß seiner Verfehlungen erfüllt hat.

Und wenn nichts mehr davon fehlt, dann zieht die Seele befreit zu jenem Gotte, der über den weltbildenden Engeln ist; und derart werden alle Seelen gerettet.

Wenn aber einige dem zuvor kommen und schon in einer Verkörperung in alle Verfehlungen aufgehen, dann kommen sie nicht nochmals in einen Körper; sondern da sie alle Verfehlungen erfüllt haben, werden sie von der Verkörperung befreit.
S.158-159
Aus: Wolfgang Schultz, Dokumente der Gnosis. Verlegt bei Eugen Diederichs Jena 1910