Harald Höffding (1843 – 1931)
Dänischer
Philosoph, der teils von Kant und Schopenhauer,
teils vom englischen Positivismus und Evolutionismus beeinflusst wurde.
Seine Psychologie ist in der Mitte zwischen Assoziations- und Apperzeptionspsychologie angesiedelt und hat voluntaristische Züge. Höffding hat - nach seinen eigenen Worten - von Kierkegaard
gelernt, dass »religiöse Überzeugung
in letzter Instanz eine Sache der persönlichen Erfahrung und des persönlichen
Bedürfnisses ist.« Siehe auch Wikipedia |
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Religionsphilosophie
Nach dem Abschlusse der »Geschichte der neueren
Philosophie« konzentrierten sich meine Studien um Erkenntnistheorie
und Religionsphilosophie. Eine der Vorarbeiten zu meiner Erkenntnistheorie liegt
in einer Abhandlung über »Die psychologische
Grundlage logischer Urteile«, die in den Schriften der dänischen
Gesellschaft der Wissenschaft (1898) und später in Revue philosophique
gedruckt wurde. Vorläufig nahm mich doch besonders das religiöse Problem
wieder in Anspruch, nachdem es mich eine Zeitlang nicht sehr interessiert hatte.
Ich hatte nicht daran gedacht, es einer speziellen Behandlung zu unterwerfen,
außer den Andeutungen in meiner Psychologie und in meiner Ethik. Nun war
aber Lesung von Biographien meine Lieblingslektüre geworden, und so kam
ich auch dazu, mich mit Augustins Konfessionen
zu beschäftigen. Sie interessierten mich außerordentlich,
sowohl psychologisch als religionshistorisch.
Als ich mich dann in das zehnte Buch vertiefte,
wo der große Kirchenlehrer die Frage aufwirft: »Was
liebe ich, wenn ich Gott liebe?« (Quid est
quod amo, quum deum amo?) - ward es mir klar, daß eine wichtige
Quelle zum Verständnisse religiöser Erscheinungen in den Selbstzeugnissen
von Persönlichkeiten zu finden ist, die; während sie ganz und voll
in ihrer Religion leben, das Bedürfnis und das Vermögen haben, ihre
Erlebnisse während der religiösen Ergriffenheit in der Form des Nachdenkens
sich zu klären. Ich sammelte dann eine Reihe ähnlicher Zeugnisse -
aus indischer Literatur, aus der Mystik
des Mittelalters, aus Luther und aus Pascal - und analysierte sie psychologisch. Ich sah natürlich klar, daß man auf diesem Wege das historische Problem von dem Entstehen der Religion nicht lösen kann.
Hier bin ich oft mißverstanden worden. Man kann aber vielleicht entdecken,
was die Religion erhält, was ihr, wenn sie einmal entstanden ist, ihre
Macht und Bedeutung gibt, und dies ist für den Philosophen, der den aktuellen
Stand des Problems untersuchen will, wichtiger als die rein historische Frage
vom ersten Entstehen der Kultus formen und der Dogmen.
Ich sah natürlich auch, daß das Studium der subjektiven und individuellen
Seite der Religion mit einem Studium der Religionsgeschichte verbunden werden
mußte. Und hier suchte ich besonders nachzuspüren, welchen Maßstab
die Religionshistoriker anlegen, wenn sie die eine Religion als eine höhere,
die andere als eine niedrigere bezeichnen. Auf beiden Wegen suchte ich mir eine
Hypothese über die Fundamente der Religion in allen ihren Formen zu bilden.
Und damit meinte ich auch die Grundlage für ein Verständnis der Stellung
der Religion in unseren Tagen und für Vermutungen über ihre Zukunft
zu finden. -
In einer Rede an einem Universitätsfest 1897 gab ich eine vorläufige
Charakteristik meines Standpunktes, und in einer Vorlesung, die ich durch zwei
Semester (1899-1900) für Studenten aller Fakultäten
hielt, gab ich eine ausführliche Darstellung meiner Auffassung. Im folgenden
Jahre erschien dann meine »Religionsphilosophie« (1901).
Jede kirchliche Theologie hat einen Inbegriff religiöser Vorstellungen,
denen sie buchstäbliche Gültigkeit zuschreibt. Innerhalb einer und
derselben Religion können doch verschiedene Meinungen darüber hervortreten,
wo die Grenze zwischen dem Bildlichen und dem Buchstäblichen liegt; die Philosophie muß aber diese Frage einer prinzipiellen
Untersuchung unterwerfen, indem sie religiöse Vorstellungen mit den Vorstellungen,
die auf wissenschaftlichem Boden und nach wissenschaftlicher Methode gebildet
werden, vergleicht. Die erste Untersuchung in der Religionsphilosophie
wird daher erkenntnistheoretisch sein. Eine Analyse der Hauptbegriffe, mit welchen
die Religion operiert, führte mich zu dem Resultat, daß diese Begriffe
durch Analogie gebildet sind, und zwar durch eine Analogie, die nicht - wie
die Analogien, die in der Wissenschaft als Arbeitsanweisungen dienen - ihre
Bestätigung durch genaue Beobachtung finden kann.
Die Sprache der Religion ist eine Bildersprache, die aus
einer Zeit stammt, wo man zwischen Bild und Gedanke keinen Unterschied machte
und nicht machen konnte, weil eine streng prüfende Wissenschaft sich nicht
entwickelt hatte. Nicht so sehr die Resultate der Wissenschaft als die
wissenschaftliche Methode, die wissenschaftliche Art, Fragen zu stellen und
Begriffe zu bilden, sind hier von Bedeutung. Die Fragen der Religion können
von der Wissenschaft weder gestellt noch beantwortet werden, und die Antworten
der Religion beantworten nicht die Fragen der Wissenschaft.
Es sind also verschiedene geistige Interessen, die in Religion und in Wissenschaft
hervortreten. Welches Interesse ist dann religiös zu nennen? Auf diese
Frage versucht der psychologische Teil der Religionsphilosophie zu antworten.
Mein Bestreben geht darauf aus, die Religion als eine psychologische Erscheinung
zu betrachten. Die Aufgabe ist zu finden, in welcher Region
des Seelenlebens die Religion ihre Wurzel hat, - welches Bedürfnis
sie befriedigen kann, - und dann die Bedingungen des fortgesetzten Bestehens
dieses Bedürfnisses zu untersuchen. Es ist hier nicht genug zu zeigen,
daß dieselben Dogmen gelehrt und derselbe Kultus geübt werden. Man
muß untersuchen, wie diese Dogmen und dieser Kultus auf die einzelnen
Individualitäten wirken, und besonders, woran es liegt, daß Menschen
immer wieder zu ihnen zurückkehren.
Es zeigt sich dann, daß sowohl Dogmen als Kultusformen sehr genau mit
dem zusammenhangen, was den Menschen auf einer gegebenen Stufe das höchste
Wertvolle ist, der Gegenstand ihres Wunsches und ihres Strebens. Der Begriff
des Grundwertes meldet sich hier wieder. Die Hypothese über das Wesen der Religion muß daher die werden, daß Religion
in einem Wunsche oder einem Bedürfnisse ihren Grund hat, das Bestehen des
Grundwertes auch über die Grenzen hinaus, innerhalb welcher menschliche
Arbeit für dieses Bestehen wirken kann, gesichert zu sehen.
Wenn es nun dazu kommt, daß die religiösen Vorstellungen in ihrer
buchstäblichen Bedeutung nicht festgehalten werden können, dann muß
sich das Bedürfnis, das Bestehen des Wertvollen zu behaupten, in Symbolen,
in einer Lebenspoesie, d. h. in einer aus dem Leben selbst herauswachsenden
Poesie, Ausdruck suchen. Das Ideal wäre, daß
jeder Einzelne seine eigenen Symbole erschüfe. Es wird aber vom
Standpunkte des Einzelnen berechtigt sein, die Gedanken, zu welchen ihn seine
Lebenserfahrung führt, in den überlieferten religiösen Vorstellungen
durch eine unwillkürliche Deutung wiederzufinden. Weit mehrere als die,
welche sich dessen bewußt sind, haben den Übergang vom Dogmenglauben
zur Lebenspoesie schon gemacht. Man nimmt aus der religiösen Überlieferung,
was man gebrauchen kann; das Übrige läßt man liegen. So macht
es jede Kirche und jede religiöse Partei. Das moderne
Christentum ist auf diesem Wege eine andere Religion als das Urchristentum geworden,
indem es sehr wesentliche Voraussetzungen, die die Ethik der ersten Christen
bedingen, praktisch hat fallen lassen, um sich den neuen historischen Verhältnissen
anzupassen.
Es ist für mich immer mehr ein rein psychologisches Interesse, das mich
zur Beschäftigung mit dem religiösen Probleme führt.
Ich finde da, wo man in das innere Leben tief religiöser Persönlichkeiten
einen Einblick gewinnen kann, einen Reichtum der Stimmung, eine Größe
der Phantasie, eine Leidenschaft des Wollens, die nicht nur für den Psychologen
als solchen anziehende und ergreifende Gegenstände sind, sondern ihn auch
veranlassen müssen, die Frage aufzuwerfen, ob Kräfte wie diese aus
dem menschlichen Geistesleben verschwinden können, ohne daß neue
psychische Errungenschaften einen wirklichen Ersatz bieten können.
Die Idee der psychischen Äquivalente, die schon bei Platon
auftauchte, führt dazu, neue Quellen der Begeisterung
und der innerlichen Ergriffenheit zu suchen. Und dieses Suchen ist eigentlich
selbst religiös, weil es durch ein Bedürfnis, die Werte erhalten zu
sehen, motiviert wird.
Bisweilen habe ich das religiöse Problem in folgender Weise dargestellt. Ist die Religion ein Organ oder ein Geschwür? Ist sie ein Organ, kann es lebensgefährlich sein, sie wegzuoperieren, selbst
wenn sie zu den 107 überflüssigen Organen gehören sollte, die
wir, Metschnikoff zufolge, noch haben. Die Frage
kann nur die sein, ob sie wegen Mangel an Übung und an Nahrung wegfallen
wird. Ist sie ein Geschwür, wird der Versuch, es wegzuoperieren, einen
lebensgefährlichen Blutverlust veranlassen können. Sicherer wäre
es, eine Unterbindung zu versuchen, so daß es aus Mangel an Nahrung sterben
könnte. In beiden Fällen wird die Erfahrung der Zukunft die Entscheidung
bringen. -
Diese letzte Betrachtung führt zur ethischen Religionsphilosophie hinüber,
in welcher teils die Möglichkeit eines Konflikts zwischen Ethik und Religion (wenn nämlich der Glaube an das Bestehen der Werte
uns davon abhält, für Erschaffen und Erhalten von Werten zu arbeiten), teils die Frage, inwieweit ein Glaube an das Bestehen der Werte Stärke
und Mut zu ethischer Arbeit geben kann, erörtert wird. -
Außer den drei Betrachtungen, der erkenntnistheoretischen, der psychologischen
und der ethischen, gibt es keine religionsphilosophischen Gesichtspunkte. Eine
besondere religionsphilosophische Methode gibt es nicht. -
In einem Aufsatze, den ich »Vorwort und Nachschrift
zu meiner Religionsphilosophie« genannt habe, und in dem später
zu erwähnenden Buche »Der große Humor«
habe ich meine Stellung als Philosoph und als Mensch zu religiösen
Problemen zu beleuchten versucht. Als Philosoph habe ich nur mit den allgemeinen
Prinzipien der Wissenschaft und des Lebens zu tun, als Mensch habe ich mit der
speziellen Nuancierung und Anwendung dieser Prinzipien zu tun, wozu mich mein
Lebensgang und meine persönlichen Erfahrungen geführt haben. Ich glaube,
daß sich bei mir der Philosoph und der Mensch im Laufe des Lebens genähert
haben, und ich hoffe, daß es keinem von beiden zum Schaden gewesen ist.
- Ich verweise besonders auf das Kapitel »Tragik
und Humor« in dem Buche »Der große
Humor«, als den klarsten und tiefsten Ausdruck, den ich für
das Gebiet, wo meine Philosophie und meine persönliche Lebenserfahrung
einander begegnen, habe geben können. S.8ff.
Aus: Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Herausgegeben von Dr.
Raymund Schmidt.
Vierter Band: Benedeto Croce, Constantin Gutberlet, Harald Höffding, Graf
Herman Keyserling, Wilhelm Ostwald, Leopold Ziegler, Theodor Ziehen . Verlag
von Felix Meiner 1923