Ernest Hello (1828 – 1885)
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Französischer Philosoph und katholischer Theologe, dessen Schriften eine bibelfeste, tiefgründig ein- und mitfühlende Frömmigkeit widerspiegeln. Siehe auch Wikipedia |
Inhaltsverzeichnis
Tränen
Der Abgrund
Ich hatte Hunger, ich hatte
Durst …
Tränen
Hagar irrte in der Wüste von Beerseba umher.
Ihr Reisevorrat bestand aus einem Brot und einem gefüllten Wasserschlauch.
Aber das Wasser ging zu Ende. Sie legte Ismael unter einem Baume nieder, entfernte sich einen Bogenschuß weit, setzte
sich nieder, erhob ihre Stimme und weinte.
Wir können ein Wenig von den Gefühlen ahnen, von denen sie bewegt
war. Wenn ich mich nicht täusche, werden in der Geschichte Hagars die Tränen zum ersten Male in der Schrift genannt.
Ich glaube nicht, daß sie im Bericht der ersten Weltkatastrophe genannt
werden.
Adam ist aus dem Paradiese verjagt. Die Schrift
sagt nichts von seinen Tränen.
Die Sintflut vertilgte fast sein ganzes Geschlecht. Ich sehe nicht, daß
die heiligen Bücher in diesem Augenblicke von Tränen berichten.
Hagar sieht ihren Sohn in der Wüste vor Durst
sterben.
Sie setzt sich nieder und weint.
Diese Einweihung der Tränen, oder doch wenigstens ihrer geschriebenen Geschichte,
hat etwas Feierliches. Sie weint, und siehe, der Engel erscheint.
Gott öffnet die Augen der Hagar und
zeigt ihr einen mit Wasser gefüllten Brunnen. Sie füllt den Schlauch
und gibt dem Kinde zu trinken. Zwischen den großen Augenblicken der Hilfe Gottes und den Wasserquellen, die mit einem Male
aufspringen oder mit einem Male entdeckt werden, gibt es häufig sehr eigentümliche
Beziehungen. Die Quelle der Gnaden erscheint sehr oft zugleich mit ihrem Sinnbild,
und die sichtbare Quelle des Wassers wird zum Zeugnis und zum Angedenken der
unsichtbaren Quellen, die strömen werden.
Was bedeuten die Tränen? Sie sind zugleich ein Geheimnis des Leibes und
des Geistes! Ein menschliches Geheimnis, in dem Seele und Leib sich vereinen
und eine herzzerreißende Sprache sprechen!
Eine Quelle hat sich im Herzen der Hagar geöffnet, und das unsterbliche
Wort, dessen unwandelbare Tugend im Strom der Zeiten weiterblüht. das Wort
der Schrift heiligt ihre Tränen. Ihre Tränen sind die ersten, von
denen die Schrift spricht und nicht eine von ihnen wird verloren sein. Sie werden
für immer im Gedächtnis der Geschichte weiterleben.
Und in dem Augenblick, da diese Quelle in den Augen der Hagar sich öffnet, erscheint ihr eine Quelle lebendigen Wassers, das der Erde
entspringt, in einem Brunnen, den Gott, der alles
weiß, dahingesetzt hatte, wo sie weinen mußte.
Der Gott der Ewigkeit hatte von aller Ewigkeit
her den Durst des Kindes in der Wüste vorausgesehen, und als die Zeit begonnen
hatte, grub er einen Brunnen an dem Orte, wo Ismael dürsten und seine Mutter
weinen mußte.
Zuweilen machen die Tränen blind. Hier machen sie sehend.
Hagar hatte den Brunnen nicht gesehen. Als sich
aber ihre Augen mit Tränen füllten, öffnete Gott ihre benetzten
Augen, und sie sah, was sie vorher nicht sah.
Das Wasser erscheint hier in einem doppelten Sinne. Eine Quelle öffnet
sich in dem Herzen der Hagar, das barer des Trostes ist als das Angesicht der
Wüste.
Und eine Quelle öffnet sich, die aus den Eingeweiden der Erde hervorströmt.
Nein, ich will dieses Kind nicht sterben sehen! Was für ein Schmerz liegt
in diesem Wort! Es ist der Schmerz einer Mutter, die zum ersten Male die Tränen
in den heiligen Bericht einführt.
Wie herzzerreißend ist dieses Wort, das so kurz ist! Aber die Quelle ist
nahe, und die weinende Mutter sieht sie durch die Tränen hindurch. Das
Kind wird nicht sterben.
Und die Wüste, die durch die berühmten Tränen der Hagar,
der Dienerin und Mutter, geheiligt ist, erscheint in der Ferne der Geschichte,
wunderbar eingehüllt in die Barmherzigkeit des Herrn! S.
200-202
Der
Abgrund
Was liegt nicht alles in diesem Wort! Es gehört zu denen, die am häufigsten
in der Schrift wiederkehren. Die Seele ist ein Abgrund:
die Tiefe ist der Ort, von dem aus die Seele zur Höhe ruft:
De profundis! De profundis! Wenn der Mensch einen Schrei zu Gott ausstößt,
ist es immer ein Schrei de profundis. Die Tiefe erhebt ihre beiden Hände,
weil das vom Sturm aufgewühlte Meer sich auftut vor dem Schrei, der vorübergeht,
wie das Rote Meer von Moses, und wie das Rote Meer enthüllt er die Abgründe,
die es bedeckt, die erstaunten Abgründe, die zum erstenmal den Tag sehn;
und die Abgründe stoßen ihren ersten Schrei aus, weil die Tiefe ihre
beiden Hände erhoben hat.
Die menschliche Seele hat Abgründe, die das Licht noch nicht gesehen haben:
sie hat ihre unerforschten Schluchten, die immerdar von großen Wassern
bedeckt sind. Aber es kommt ein Augenblick, da die Tiefe ihre beiden Hände
erhebt. Das Gebet schleudert alle Mächte der vom Sturm aufgewühlten
Seele gegen den Himmel; die Abgründe, die jeglichem Blick verborgen waren,
sehen zum erstenmal die Sonne, und ihr erster Blick ist wie ein Schrei, der
sich der Unendlichkeit entgegenschwingt. S. 257
Ich
hatte Hunger, ich hatte Durst …
Die Gestalt des Fremden war in der Menschheit immer von schwer faßbaren
Ahnungen umgeben, und wenn am letzten Tage die Söhne Adams
verloren oder gerettet sein werden, nach dem Maße der Gastfreundschaft,
die sie gewährt oder verweigert haben, wenn sie den, der schrecklich ist,
fragen werden:
«Herr, wann haben wir dich als Fremdling gesehen?»...
Wenn die Freude oder Verzweiflung der Antwort über sie kommen wird: An
diesem Tage werden sie wahrscheinlich in ihrem Innersten den Widerhall eines
Schreies ertönen hören, der die Welt richten wird, nachdem er sie
geprüft hat.
Nicht ganz aber wird sie überraschen die dreifach furchtbare Offenbarung
des Richters, der sprechen wird:
«Ich hatte Hunger.»
Sie werden den sehen, den sie geschlagen, und das Erstaunen wird eine seltsame
Gestalt annehmen, die man vorher nicht gekannt hatte, und dennoch wird die letzte
Offenbarung, die den einen und den andern die Pforten zur Ewigkeit öffnen
wird, sie nicht ganz überraschen.
Er, der am Ende der Welt das furchtbare Wort aussprechen wird:
Er hat vom Anbeginn der Welt an das Wort bereitet, das
er am Ende der Zeiten sprechen wird.
Schon Homer hat dem alten Heidentum gesagt:
«Alle Fremden und alle Armen kommen von Gott.»
Und als er so sprach, sprach er nicht im Namen des Heidentums, sondern im Namen
uralter Überlieferungen, die irrend und verwandelt durch die Welt wanderten,
selbst Fremdlingen gleich, weil sie nicht ein Gesetz gläubiger Völker
waren, sondern durch Völker wanderten, die sie kaum kannten.
Zu allen Zeiten waren die Menschen irgendwie gewarnt. Zu allen Zeiten mißtrauten
sie dem Fremden, als ahnten sie in ihm etwas Göttliches. Der heilige Paulus
spricht von den Engeln, die sich verbergen und weist uns an, den Fremden nicht
abzuweisen. Man könnte sagen, daß die Worte, die uns zur Gastfreundschaft
raten, das Siegel göttlicher Weisheit tragen. Sie enthalten — seht
euch vor — etwas ganz Besonderes. Das Gesetz der Gastfreundschaft ist
nicht ein Gesetz wie jedes andere. es ist ein Gesetz, das zu sagen scheint:
«Mißtrauet dem äußeren Anschein. Ihr glaubt. einander
zu kennen, und doch kennt ihr einander nicht. Aber mißtrauet erst recht
dem Fremden:
Man weiß in seiner Nähe nie sicher, mit wem man es zu tun hat.
Der Osten ist das Land der Gastfreundschaft, denn er ist die Wiege der Welt;
der Widerhall der ersten Überlieferungen ertönt dort mit vollerem
Klang. Die Schwingungen der Luft sind dort leben¬diger, so daß man
leichter von der Gastfreundschaft spricht. Die östliche Gastfreundschaft
teilt nicht ihr Haus mit dem Fremden: sie überläßt es ihm. Der
Eigentümer gibt es auf und überläßt es seinem Gast.
Die Achtung vor dem Gast und seine Unverletzlichkeit gehören zu den größten
Lehrsätzen der Menschenwelt. Es gibt ein feierliches Versprechen, ausgesprochen
oder unausgesprochen, den Fremden zu achten und zu schützen.
Die Länder des Lichtes und die Länder der Berge scheinen in einer
besondern Weise die Hüter dieser Überlieferung zu sein.
In den Ebenen, in den Flächen und in der Kälte des Westens verlischt
der Widerhall, und die Schwingungen der Luft werden kaum noch gespürt.
Bei den Arabern besteht die Gastfreundschaft noch in ihrer vollen Größe,
denn die Araber sind die Menschen des Abends, und der Abend ist wie der Morgen
die Stunde der Erinnerung. In der Mitte des Tages wohnt die Vergessenheit. Der
Dämon der Tagesmitte ist ein Dämon der Vergessenheit.
Der Fremde und der Arme, die in den Versen Homers zusammen genannt werden, gehören
in der Wirklichkeit der Dinge zusammen. Überall und immer sind sie die
Abgesandten des Herrn und in der Schrift sind ihre Namen immer miteinander verbunden.
Der Name des Armen verläßt nicht den Namen Gottes. Wenn man den Worten
ihre eigenste Bedeutung wiedergibt, könnte man vielleicht sagen. daß
er ihn ebensowenig verläßt wie sein Schatten.
Immer wieder hört man in der alten Welt eine Stimme, die von Norden oder
von Süden kommt. vom Osten oder vom Westen, und die die Gastfreundschaft
empfiehlt. Das ist nicht nur ein sittlicher Rat, es handelt sich hier um etwas
ganz Besonderes; die Gastfreundschaft wird nicht nur einfachhin wie eine Tugend
empfohlen, sondern wie ein Geheimnis. Man könnte sagen, daß Gott
die Welt durch diese so schrecklichen Worte richten wird, die durch ihre Einfachheit
noch tausendfach schrecklicher sind.
Ich war ein Fremdling, ich hatte Hunger, ich hatte Durst... Man könnte
sagen, daß der, der die Welt durch diese vertrauten Worte richten wird,
die Welt damit nicht überfallen will, sondern ihr im voraus eine Ahnung
von dem geschenkt hat, was ihr eines Tages widerfahren würde.
Die griechische Antike hat Homer besungen, und
die Gastfreundschaft ist ein immer wiederkehrender Gedanke bei diesem seltsamen
Dichter, dessen Persönlichkeit in seinem Werk untergegangen ist. S.
310-313
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz &
Wasmuth Verlag AG. Zürich