Herbert Haag (1915 – 2001)

 Römisch-katholischer Schweizer Theologe mit deutscher Abstammung, der in Singen am Hohentwiel geboren wurde und in Luzern verstarb. Haag studierte Theologie, Philosophie und altorientalische Sprachen und war von 1960 bis 1980 als Professor für alttestamentliche Wissenschaft an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen tätig.
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Der Mensch – Gottes Schöpfung?
Seit die Naturwissenschaft den Nachweis erbracht hat, dass der Mensch in seiner heutigen Erscheinungsform das Ergebnis einer über mehrere hundert Millionen Jahre sich hinziehenden stammes-geschichtlichen Entwicklung ist, seit auch die konservativste Dogmatik sich diese Erkenntnis zu eigen gemacht hat, stößt die Aussage, der Mensch sei Gottes Geschöpf, auf Zurückhaltung, Skepsis oder kategorische Ablehnung. Zwar wurden innerhalb der Entwicklung zum Menschen bis vor kurzem noch zwei besondere Schöpfungsakte Gottes postuliert: bei der Entstehung des Lebens auf unserem Planeten und beim Übergang vom »geistlosen« Tier zum geistbegabten Menschen. Aber solche Postulate sind heute aufgegeben.

Denn die Annahme, das Leben habe sich durch chemische Reaktionen aus dem Unbelebten entwickelt, kann nicht mehr abgewiesen werden. Die ersten primitiven einzelligen Lebewesen, die vor etwa einer Milliarde Jahre auf der Erde erschienen, waren ihrerseits das Resultat eines davorliegenden chemischen Entwicklungsprozesses, dessen Dauer vielleicht auf zwei Milliarden Jahre veranschlagt werden kann. Seit überdies bekannt ist, dass Materie geistige Qualitäten besitzt, sind wir berechtigt, auch den Übergang vom Tier zum Menschen als Glied in der Kette einer kontinuierlichen, zielgerichteten Evolution anzusehen. Wo bleibt also hier noch Raum für einen Schöpfer? Und weiter: Ist die Frage nach einem Schöpfer für den Menschen von heute überhaupt noch brennend? Quält ihn nicht viel mehr die Frage nach dem Sinn des Lebens als nach seinem Woher?

Immerhin sieht sich der bibelgläubige Jude und Christ vor die Tatsache gestellt, dass sich in der Heiligen Schrift formelle Aussagen finden, die den Menschen als Geschöpf Gottes bezeichnen, wie etwa der Schöpfungsbericht im ersten Kapitel der Genesis:

»Gott erschuf den Menschen als sein Bild,
als Gottes Bild erschuf er ihn,
als Mann und Weib erschuf er sie.«

(Gen. 1, 27)

Wenn wir aber diese Aussage in ihren Zusammenhang stellen und wenn wir auch die anderen Texte hinzunehmen, die das schöpferische Handeln Gottes preisen: in den Psalmen, bei Deuterojesaja, im Buche Hiob — um beim Alten Testament zu bleiben —, so zeigt sich, dass auch für die Bibel, wie für uns, die Frage nach dem Sinn des Lebens und nicht nach seinem Woher die letzte ist. Der mit schwerer Krankheit geschlagene Hiob, der schon die offenen Tore des Todes vor sich sieht, richtet an Gott die bewegte Frage und Klage:

»Deine Hände haben mich geformt, geschaffen,
und nachher vernichtest du mich ganz?

Denk doch, dass du mich aus Ton geschaffen,
und zum Staub lässt du mich wiederkehren?

Hast du nicht wie Milch mich ausgegossen,
mich dem Käse gleich gerinnen lassen?

Hast mich doch mit Haut und Fleisch bekleidet,
hast mit Knochen und mit Sehnen mich durchwirkt.

Leben hast du mir gewährt und Liebe,
deine Sorge hat den Odem mir behütet.«

(Hiob 10, 8—12)

In diesem Text, der nach althebräischen physiologischen Vorstellungen das Werden des Menschen im Mutterschoß beschreibt, geht es offensichtlich nicht darum, einen Glaubenssatz über die Schöpfung auszusprechen. Hiobs Anliegen ist nicht dogmatischer, sondern existentieller Art. Er fühlt sich von Gott preisgegeben, dem Tode ausgeliefert, Gott gebärdet sich wie sein Feind. Wie ist dies möglich, wie kann Gott ihn wieder vernichten, nachdem er ihn erschaffen hat? Nicht die Frage nach dem Woher der Schöpfung wird hier aufgeworfen, sondern nach dem Sinn der Schöpfung. Nach biblischer Vorstellung kann dieser nicht der Tod sein, sondern nur das Leben.

Gewiss weiß der hebräische Mensch so gut wie wir, ja vielleicht intensiver als wir, um das unentrinnbare Geschick des Todes. Dieses wird schon auf den ersten Seiten der Bibel angedeutet, in jener bildhaften Erzählung von der Erschaffung des Menschen, in der Gott den Adam aus Ackererde formt und ihn dadurch auch schon zur Rückkehr in die Ackererde bestimmt. Dennoch liegt der Gedanke, der Tod könne der Sinn menschlicher Existenz sein, der Schrift völlig fern. Er ist auch niemals die Mitte der eben angeschnittenen Erzählung. Denn es heißt dort weiter, Gott habe den Menschen, nachdem er ihn erschaffen, genommen und in den Wonnegarten gebracht. Aus dem Zusammenhang wird deutlich, dass Gott selbst in diesem Garten lebt. Damit stellt der hebräische Erzähler in den Vorstellungen seiner Zeit die ausgesuchte Liebe dar, mit der Gott den Menschen behandelt, der aus seiner Hand hervorging. Das Verhältnis Gottes zum Menschen ist das einer Partnerschaft. Selbst nachdem der Mensch gesündigt hat, kleidet Gott ihn liebevoll und schenkt ihm Kinder. Das Leben geht weiter, dem zu dienen und an dem Anteil zu haben nach der Bibel des Menschen einzige Bestimmung ist.


Die Erschaffung des Menschen wird also im Alten Testament nie um ihrer selbst willen bezeugt, sondern steht immer in einem weiteren theologischen Zusammenhang. Wenn der Schöpfungsbericht die schon erwähnte Aussage macht: »Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Gottes Bild erschuf er ihn, als Mann und Weib erschuf er sie«, so geht es ihm nicht um die Feststellung, der Mensch sei Gottes Geschöpf. Daran zweifelte, als dieser Text geschrieben wurde, im jüdischen Volk niemand. Es geht dem Verfasser vielmehr darum, dem Menschen seinen Platz im Kosmos anzuweisen. Seine Erschaffung wird in dem hierarchisch aufgebauten Bericht als letzte der Schöpfungstaten Gottes erzählt. Er steht an der Spitze der Schöpfung, über den Tieren, ja über den gewaltigen Himmelskörpern — den einen wie den anderen wurde im alten Orient göttliche Verehrung erwiesen. Weil Herr des Geschaffenen und damit Teilhaber an Gottes Herrschaft, ist der Mensch Bild Gottes, sei er nun Mann oder Frau.

Ein Echo dieser Theologie finden wir im 8. Psalm. Auch hier geht es dem Beter nicht darum zu bezeugen, Gott habe die Sterne erschaffen, sondern der Mensch stehe über den Sternen:

»Wenn ich deine Himmel schaue,

das Werk deiner Finger,
den Mond und die Sterne,
die du hingesetzt hast.

Was sind die Menschen, dass du ihrer gedenkst,
und ein Mensch, dass du dich seiner annimmst?
Du hast ihn nur wenig unter Gott gestellt,
mit Herrlichkeit und Glanz hast du ihn gekrönt.
Du hast ihn zum Herrscher gesetzt über das Werk
deiner Hände,
alles hast du ihm unter die Füße gelegt.«


Diese Reihe biblischer Zeugnisse ließe sich lange weiterführen. Wenn Deuterojesaja, der den verbannten Juden in Babylonien die Befreiung aus dem Exil und die Rückkehr in die Heimat ankündigt, scheinbar unvermittelt die Großartigkeit der Schöpfung preist:

»Wer hat die Wasser mit der hohlen Hand gemessen,
und die Himmel mit der Spanne abgegrenzt?
Wer hat ins Hohlmaß eingefasst den Staub der Erde,
wer die Berge gewogen mit der Waage und die Hügel mit
Waagschalen?«

(Js. 40, 12)


so ist dies keine Abweichung vom Thema. Denn der Prophet will auch hier nicht eine Lehre von der Schöpfung geben. Diese dient ihm nur zum Vergleich: Der Gott, der Weltmeer und Himmel, Berge und Hügel in seiner Hand zu tragen vermag, der vermag auch sein Volk in die Freiheit zu führen.

Wenn dies schon israelitisch-jüdische Weltanschauung war, so muss es erst recht christliche Weltanschauung sein. Wenn der Christ sein Credo mit dem Glaubenssatz beginnt:

»Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde«,

so kann dieser Satz für ihn nie isoliert stehen. Denn es folgt ihm sogleich das große Heilsbekenntnis:

»Ich glaube an Jesus Christus, unseren Herrn, der empfangen und geboren wurde, gekreuzigt und begraben, der auferstanden ist von den Toten und aufgefahren ist in den Himmel.«

Nicht dass wir von Gott erschaffen sind, ist die Mitte unseres Glaubens, sondern dass er uns das Heil bereitet hat.

Hier erinnern wir uns wieder an den Eingang unserer Überlegung:

Der Mensch von heute fragt nicht primär nach seiner Herkunft, sondern nach dem Sinn und Ziel seines Lebens — biblisch gesprochen: nach seinem Heil. Nur in diesem Zusammenhang ist für ihn die Frage nach seinem Geschöpfsein von Bedeutung. Ist er Geschöpf Gottes, so ist sein Leben im Willen Gottes begründet und auf diesen Willen hingeordnet. Dann ist ihm auch die feste Hoffnung gegeben, dass sein Leben Sinn und Ziel hat — über das diesseitig Sichtbare und Greifbare hinaus.

Hier freilich führt uns ein an exakten naturwissenschaftlichen Methoden geschultes Denken nicht weiter. Experimentell nachprüfbar und jederzeit wiederholbar ist das persönliche Leben eines Menschen ja gerade nicht. Die Naturwissenschaft befasst sich mit der Schöpfung, die Gott nach dem Zeugnis der Bibel dem Menschen unter die Füße gelegt hat. Nach dem Schöpfer zu fragen gehört nicht in ihre Zuständigkeit.

Damit soll keineswegs bestritten oder auch nur bezweifelt sein, dass der Naturwissenschaftler ein gläubiger Christ und der gläubige Christ ein Naturwissenschaftler sein kann. Wenn er aber glaubt, so kann ihn dazu nicht seine Forschung bestimmen, sondern der Anruf des sich offenbarenden Gottes.


Die herkömmliche Theologie beging einen schweren Fehler, wenn sie in der Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft immer wieder versuchte, mit scharfsinnigen und zwingenden Gedankenführungen Glaubensinhalte »verstehbar« zu machen oder sie gar mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen »in Einklang zu bringen«. Dabei mussten — gerade in Fragen um Schöpfung, Ursprung und Einheit des Menschengeschlechts, Urstand, Erbsünde — bisherige angebliche Dogmen unter dem Druck des naturwissenschaftlichen Weltbildes in einem fort modifiziert und den veränderten Erkenntnissen angepasst werden, was dem Christen den Glauben an die Unveränderlichkeit der Dogmen wahrhaftig nicht leichter gemacht hat.

Wenn sich die Theologie ihre Fragestellungen von der Naturwissenschaft diktieren lässt, dann sind die Weichen von vornherein falsch gestellt. Denn die eine und die andere Wissenschaft hat ihre je eigene Zuständigkeit, deren Grenzen nie verwischt werden dürfen. Wird jedoch die Frage nach einem Schöpfer und Vollender des Alls deutlich als eine Glaubensfrage gesehen, dann erzeugen auch die Ergebnisse der Naturwissenschaft nicht mehr Ratlosigkeit, sondern Dankbarkeit und fördern die heitere Ruhe des Glaubens. Wir können in der Tat nur dankbar dafür sein, dass der Gott, der einst Staub vom Ackerboden nahm und daraus wie ein Töpfer einen ersten Menschen formte, abgelöst ist von einem Gott, der dem Urstoff die Fähigkeit mitgab, im Verlauf von Milliarden von Jahren sich zum Menschen zu entwickeln. Das Bild des Schöpfers ist damit nicht kleiner geworden, sondern größer.
S. 67-71
Aus: Dialog mit dem Zweifel. Herausgegeben von Gerhard Rein. Kreuz-Verlag Stuttgart . Berlin. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Herrn Gerhard Rein