Heinrich Graetz (1817 - 1891)
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Deutschjüdischer Geschichtsinterpret, der in seinem mehrbändigen Monumentalwerk »Geschichte der Juden« die Geschichte des jüdischen Volkes im Wesentlichen als die Verwirklichung eines großen göttlichen Plans darstellt. Siehe auch Wikipedia |
Die Konstruktion der
jüdischen Geschichte: Die Religion der Zukunft
Das Judentum stellt sich bei seinem Eintritt in die Geschichte als Negation
dar, es negiert das Heidentum, es tritt gleichsam als Protestantismus auf. Diese
Wahrheit hat bereits Maimuni aufgestellt, nur
blieb er bei der Oberflächlichkeit dieses Gedankens stehen. Er fasste
das Heidentum in seiner nackten Äußerlichkeit, in der konkreten Manifestation
seines Wesens, und stellte ihm das Judentum, eben auf ganz äußerliche
Weise, als Opposition gegen dasselbe, besonders gegen den obszönen Kultus
des Heidentums, gegenüber. Bekannt ist Maimunis höchst
oberflächliche Auffassung der judentümlichen Opfergesetze. Allein
selbst den Extravaganzen des Heidentums, seinen grellen, oft die Sittlichkeit
beleidigenden Institutionen, liegt ein Gedanke zugrunde, alle Manifestationen
des heidentümlichen Lebens müssen sich in einer Grundidee zusammenfassen
lassen, und eben zur Negation dieser Idee ist das Judentum berufen; es sollte
eben die Nichtigkeit des Heidentums für die Wahrheit und seine Schädlichkeit
für die ethischen Verhältnisse der Gesellschaft im geschlossenen Kreise
nicht in theoretischer Manier der Schule, sondern auf tatsächliche, eklatantere
Weise des Lebens negieren.
Die Grundidee des Judentums kann solchergestalt schon vorweg gefunden werden,
wenn der Differenzpunkt zwischen Heidentum und Judentum unverrückbar fixiert
werden kann. Nun ist nichts leichter, als die Grenzscheide anzugeben, welche
diese beiden Religionsformen trennt, und man bedarf hierzu nicht einmal einer
weitläufigen komparativen Gegenüberstellung der beiderseitigen Dogmen,
etwa das jüdische »Sein aus dem Nichts«
dem heidnisch-metaphysischen »ex nihilo nihil«
(aus Nichts wird nichts), und die anderen dogmatischen Differenzen, die
Steinheim in seinem trefflichen Buche »Die
Offenbarung«, das einen schönen Beitrag zur philosophischen
Erfassung des Judentums liefert, mit schlagender Schärfe hat konfrontieren
lassen. Schon der erste Blick verrät den himmelweiten
Kontrast: Heidentum und Judentum bilden denselben Gegensatz wie Natur und Geist.
Das Heidentum hat die Natur in ihrem weitesten Begriffe als immanent wirkende
Allkraft zu seiner Voraussetzung und Bedingung, das heidnische Gottesbewusstsein
fällt mit der Natur zusammen. Der heidnische Gott, selbst in der ausgebildetesten
Dignität, auf der Stufe, wo er die Tier- und Pflanzenform abstreift und
sich humanisiert, selbst in der hellenischen Anschauung, wo der Kunstsinn die
Religion unterstützte und die olympischen Bewohner zur Idealität verklärte
— der heidnische Gott blieb zu allen Zeiten die idealisierte Natur. Die
heidnischen Unsterblichen fallen der Notwendigkeit so gut anheim wie die sterblichen
Menschen, das allgewaltige Naturgesetz ist auch für die Götter eine
zwingende Macht, und Tyche — die blind waltende Göttin — ist
der Götter und Menschen Beherrscherin.
Ohne mich hier bei dem Punkte lange aufzuhalten, dass die notwendige Konsequenz
dieses heidnischen Gottesbegriffes die sittliche Unfreiheit war und die menschliche
Tat, gut oder böse, wohltätig oder verderblich wirkend, als eine Notwendigkeit
wie das Naturgesetz betrachtet wurde, durch das Fatum unabänderlich prädestiniert:
so wollen wir sofort die Kehrseite des Heidentums, das Judentum, ins Auge fassen.
Hier ist Gott das allein Berechtigte, das allein
Bestimmende, die Selbstbestimmung. Das Natürliche und Göttliche
fallen auseinander, ja, die Natur ist Gott gegenüber
Nichts, die erst durch die göttliche Willensbestimmung, durch den freien
Akt der Schöpfung zur Existenz gebracht wird, aber für alle Zeiten
von dem Hauche Gottes Leben und Dauer empfängt und von ihm wieder in Nichts
aufgehoben werden kann. Die Gottesidee bildet daher die Spitze des judentümlichen
Lebens, alle Tätigkeit, alle Interessen müssen gleichsam in den Rahmen
des Göttlichen geschlossen werden, die erst durch diese Prägung ihre
Wertschätzung erhalten.
Das jüdische Leben in seinem ganzen Umfange wird von der göttlichen
Glorie umstrahlt, empfängt erst Reiz, wenn der Gottesgeist darüber
ausgegossen wird.
Sittliche Freiheit, freigeistige Selbstbestimmung ist daher die nächste
Konsequenz des jüdischen Prinzips. Nichts erscheint in der jüdischen
Anschauungsweise so sehr als ein Greuel, als eben die göttliche Verehrung,
gezollt den Manifestationen des Naturlebens, ja, wo dieses in augenfälliger
Erscheinung sich als wirksame Potenz erwies, mußte es geradezu als unberechtigt,
als unheilig, als nichtig zurückgedrängt werden. Eine bedeutende Anzahl
der gesetzlichen Bestimmungen des Judentums tragen diesen negierenden Charakter
an sich und sollen die Untergeordnetheit des natürlichen Seins verlebendigen.
Das natürliche Leben, vorzüglich dasjenige, was in den menschlichen
Kreis gezogen, was gar, von dem menschlichen Organismus aufgenommen und assimiliert
werden soll, muß daher gleichsam vor¬her einem Weihprozeß unterworfen
werden.
Diese Grunddifferenz in der Auffassung des Göttlichen läßt sich
noch weiter fortsetzen. Dem Heiden erscheint das Göttliche innerhalb der
Natur in der Form der Anschauung durch das Medium des Auges, es kommt ihm als
ein Angeschautes zum Bewußtsein. Dem Juden hingegen, der das Göttliche
jenseits der Natur außerhalb und vor derselben weiß, offenbart es
sich durch Kundgebung seines Willens, durch das Medium des Ohres, und das menschliche
Subjekt bringt sich das Göttliche horchend und gehorchend zum Bewußtsein.
Das Heidentum schaut seinen Gott, das Judentum
hört ihn, d. h. vernimmt seine Willensbestimmung. Von der Anschauung
bis zur nachahmenden Darstellung ist nur ein Schritt; und der heidnische Idolkultus
ist eine ebenso natürliche Konsequenz des heidentümlichen Gottesbegriffes,
als es dem Judentum fremd sein mußte, das Göttliche, »das
keine Gestalt hat«, in ein Bild zu fassen.
Aber auch die Kunstgattung gestaltete sich nach dem verschiedenen
Gottesbewußtsein verschieden. Die künstlerische Begattung erzeugte
in dem griechischen Heidentum, der sinnlichen Gottesanschauung gemäß,
die Plastik, die reizende, duftende Blüte der heidnischen Anschauungsweise.
Im Judentum hingegen, das seinen Gott in den Wellenbewegungen der sich wechselweise
hebenden und senkenden Töne, in dem Rhythmus des Wortklanges vernimmt,
erzeugte der Kunstdrang die dem Gottesbewußtsein entsprechende Tonkunst,
verbunden mit der religiösen Poesie. Aber selbst in der speziellen Gestaltung
der Dichtungsgattungen manifestiert sich die tiefe Differenz des heidnischen
und jüdischen Geistes, was aber erst später entwickelt werden kann.
Es wäre überflüssig, diesen Gesichtspunkt noch mehr zu beleuchten,
die ganze Anlage des Judentums spricht zu sehr dafür; die scharfe Opposition
des Judentums gegen das in Götzenanbetung und in Unzucht versunkene Heidentum,
wodurch es sich auf den ersten Blick charakterisiert, ist eben weiter nichts
anderes als der breite Gegensatz der Geistesreligion gegen die Naturreligion,
der göttlichen Transzendenz gegen die Immanenz.
Aus dieser vorläufigen Beleuchtung ergibt sich schon vorweg, daß
nicht einmal die monotheistische Idee das primäre Prinzip des Judentums
ist, wie man bisher irrtümlich fast allgemein angenommen hat, sondern es
ist die sekundäre Konsequenz aus der überweltlichen Gottesidee, wie
der Polytheismus und der Götzenkultus nicht das Primäre des Heidentums
sind. Darum erschöpft auch die Idee des Monotheismus keineswegs den ganzen
Inhalt des Judentums, er ist unendlich reicher, unendlich tiefer; auch nicht
einmal in der Negation der Naturvergötterung ruht das Judentum aus, es
ist erst der Anfang seiner Bewegung, was sich in dem ganzen Verlauf der Geschichte
erschöpfend erfaßt.
Das Judentum bleibt nämlich keineswegs bei dieser negativen Seite, bei
dem oppositionellen Charakter stehen, es ist vielmehr seine Aufgabe, den ihm
eigentümlichen Gottesgedanken auch positiv zu betätigen. Dieser Stempel
ist eben allen Bestimmungen des Judentums aufgedrückt, daß sie immer
diese Doppelseite zum Bewußtsein bringen, einmal in negativer und das
andere Mal in positiver Form; auch eine andere Eigentümlichkeit des Judentums
ist deutlich genug ausgeprägt, daß auch die abstrakteste, idealistische
Lehre sofort in konkrete Anwendung gebracht wird. So schwebt die transmundane (überweltliche) Gottesidee nicht in der ätherischen Region
des Gedankens, sondern schuf sich eine konkrete Volkssubstanz: eine adäquate
Staatsverfassung sollte der lebendige Träger dieser Idee sein, die sich
als Volkssitte, als individuelle Gesinnung in immer weiteren Schwingungen realisieren
soll. Die geoffenbarte Gottesidee ist nicht um ihrer selbst
willen da, um bloß theoretisch gewußt zu werden, sondern will zugleich
eine Heilanstalt sein, die zeitliche Glückseligkeit zu fördern; die
Gottesidee soll zugleich Staatsidee sein.
Man ist gewöhnt, die jüdische Staatsverfassung
eine theokratische zu nennen, in der mißliebigen Nebenbedeutung;
man hat aber in diesem Punkte, wie in vielen andern, das Judentum verkannt.
Wohl steht das Göttliche an der Spitze des jüdischen Staatssystems,
alle Bewegungen des staatlichen Lebens nehmen von ihm ihren Anfang und kehren
peripherisch wieder zu demselben Ausgang zurück. Allein
ist auch Gott Anfang und Ende dieser Civitas
Dei, so ist er doch nicht ihr Zweck, der Zweck ist vielmehr, wie
ihn Mieses [Isaak Mieses (1802 – 1883), philosophischer Schriftsteller] in seiner originellen
Broschüre »Ein Beitrag zu den gegenwärtigen
Wirren im Judentum« etwas kraß, aber wahr genannt hat, ein
eudämonistischer: »damit es dir wohlergehe
auf dem Boden, den der Herr dir geschenkt«, ist der stete Refrain
bei den heterogensten Bestimmungen; er beschließt das zeremoniale Gesetz
vom »Vogelnest«(Dt
22, 6f.) wie das ethische von der »Liebe
gegen Eltern«.
Wenn aber Acher
[Apostatenname
für Mischna-Lehrer Elisa ben Abuja im ersten und zweiten Jahrhundert n.
Chr.] dieses verheißene Wohlergehen zugunsten des einzelnen
für die Erfüllung dieser Bestimmung erwartete oder wenn
Rabbi Jakob, sein Enkel, diese Belohnung von einer zukünftigen,
jenseitigen Welt abhängig machte (Chullin, Ende),
so beruhen diese beiden Ansichten offenbar auf einer irrtümlichen
Exegese. Denn das Judentum ist keine Religion für
das Individuum, sondern für die Gesamtheit, und die Verheißungen
und Belohnungen auf die Gesetzeserfüllung gelten nicht dem einzelnen —
sonst würde allerdings das Unterbleiben der Verheißung das Judentum
in jedem Moment dementieren —, sondern sie sind augenscheinlich dem Volksindividuum
zugesagt. Von der Erfüllung oder Nichterfüllung der Gesetze ist die
Integrität und das Wohl des jüdischen Staatsverbandes bedingt. Und
ebensowenig verheißt das Judentum für die Treue eine jenseitige Seligkeit. Die Unsterblichkeit
ist nicht seine Sache, die Fortdauer der
Seele hat so wenig im Judentum Raum als etwa das Dogma von der Transsubstantiation,
und wer weiß, ob nicht diese schwache Seite eben seine Stärke
ist. Wir wiederholen:
Das Judentum ist keine Religion
des Individuums, sondern der Gesamtheit, was eigentlich soviel sagen
will: Das Judentum ist im strengen Sinne gar nicht
Religion — wenn man darunter das Verhältnis des Erdensohnes
zu seinem Schöpfer und seine Hoffnungen für seine hieniedige Lebensrichtung
versteht —, sondern es ist in diesem Sinne ein Staatsgesetz.
Allein diese materiellen, sozialen Zwecke werden wiederum von metaphysischen
Gedanken durchweht, von dogmatischen Ideen eingerahmt und durchflochten —
das Dogma fehlt dem Judentum keineswegs, wenn es auch nicht mit knöcherner
Trockenheit und mit wütigem Glaubenstrotz auftritt. Von diesem Gesichtspunkte
aus ist man zu der Annahme genötigt, daß das Judentum einen religiösen
Charakter hat. Aber eben diese Doppelseite macht das Wesen des Judentums aus.
Gotteserkenntnis und soziale Glückseligkeit, Religionswahrheit und Staatsinteresse
bilden eben die beiden Faktoren des Judentums, die sich in inniger Durchdringung
durchströmen sollen. Das Dogmatische und Soziale oder, was dasselbe ist,
das Religiöse und Politische bilden die beiden Achsen, um welche das judentümliche
Leben seine Rotation macht.
Der konkrete Ausdruck für diese Abstraktionen ist das geoffenbarte Gesetz
— Tora — und der heilige Boden. Das Interesse des Volkes ist diesen
beiden Gütern zu¬gewendet. Das Gesetz ist die Seele, das Heilige Land
der Leib dieses eigentümlichen Staatsorganismus. Der scharf abgegrenzte
Boden ist da als weiter Spielraum zur ungehemmten Entfaltung der die Gottesidee
in ihrer Fülle ausprägenden Gesetze, und das Gesetz wiederum ist da
zur Beförderung des sozialen Wohles Israels. Die Tora, die israelitische
Nation und das Heilige Land stehen in einem, ich möchte sagen, magischen
Rapport, sie sind durch ein unsichtbares Band unzertrennlich verknüpft. Das Judentum ohne den festen Boden des Staatslebens gleicht einem innerlich
ausgehöhlten, halbentwurzelten Baume, der nur noch in seiner Krone Laub
treibt, aber nicht mehr imstande ist, Äste und Zweige schießen zu
lassen.
Ihr könnt das Judentum einem Sublimierungsprozeß unterwerfen, aus
der Fülle seines Inhalts moderne Gedanken extrahieren und diesen Extrakt
mit betäubendem Wortgeklingel, mit brillanten Stichwörtern als den
eigentlichen Kern des Judentums ausposaunen, ihr mögt für dieses sublimierte,
idealisierte Judentum in nuce eine Kirche erbauen und ein Glaubensbekenntnis
votieren, so habt ihr doch nur einen Schatten umarmt und die trockene Hülse
für die saftige Frucht genommen. Ihr besitzt weder das Judentum, wie es
die Schrift in unzweideutigen Buchstaben lehrt, noch das Judentum, wie es die
dreitausendjährige Geschichte ausprägt, noch endlich das Judentum,
wie es noch in der Überzeugung der Majorität seiner Bekenner unerschütterlich
lebt.
Das Judentum ist keine Religion der Gegenwart, sondern eine der Zukunft. Wie
seine Patriarchen nur in Verheißungen gelebt haben und in ihrer Gegenwart
nur eine Vorbereitung für die Zukunft ihres Geschlechtes erblickten, so
ringt das Judentum nach einer Gegenwart, die ihm fehlt, und im Bewußtsein
dieser Mangelhaftigkeit, dieser wenig entsprechenden Wirksamkeit schaut es rückwärts
nach Sinais Flammenbusch und vorwärts auf das Zeitenideal der Propheten,
wo Gotteserkenntnis, Gerechtigkeit und Glückseligkeit alle Menschen zu
einem Bruderbunde vereinigt haben werden. Erinnerung und Hoffnung bilden die
Wolken-und Feuersäule, welche Israel seiner Zukunft entgegenführen.
In der Hoffnung auf den Erwerb des verheißenen Landes als eines Schauplatzes
für den allmählichen Zuwachs der Gotteserkenntnis durchwanderten die
Patriarchen auf hohen Kamelen das fremde, ihnen oft feindliche Land, in dieser
Hoffnung trösteten sich ihre Kinder, die geknechteten Stämme in der
Leidensschule Ägyptens, und in dieser Hoffnung wuchs das junge Volk gegen
alle Erfahrung narurgemäßer Volksorganisation heran, ohne Heimat,
ohne Ruhm, in dem nomadischen Zeltenleben der arabischen Wüste. Das Hordenleben
der Stämme in der Wüste bildet eigentlich den embryonischen Zustand
des künftigen Volkes. Die Geschichte des jüdischen Volkes beginnt
erst auf der letzten Wüstenstation, der Jordan bildet den Übergang
aus der Stammesverfassung in die Volksverfassung. Die Geschichte dieses Volkes
durchzieht ein logischer Faden, und sie versichtbart, wenn man sie in größeren
Gruppen überschaut, die abwechselnde Tätigkeit der beiden Faktoren,
die eben das Judentum konstituieren. S.360ff.
Aus: Jüdischer Glaube, Eine Auswahl aus zwei Jahrtausenden. Herausgegeben
von Wilhelm Jerusalem, Verlag Schibli-Doppler, Birsfelden-Basel