Hermann Cohen (1842 – 1918)

  Deutsch-jüdischer Philosoph und jüdischer Religionsphilosoph. Nach philosophischen Studien in Breslau und Berlin promovierte Cohen 1865 in Halle. 1871 veröffentlichte er sein für die Entstehung des Marburger Neukantianismus maßgebende Untersuchung über »Kants Theorie der Erfahrung«. Von 1876 bis 1912 war er Professor in Marburg und hat mit Paul Natorp die Marburger Schule des Neukantinianismus gegründet. In seinem Ethikentwurf versucht Cohen das Konzept eines ethischen Sozialismus zu entwickeln, in dem er den bestehenden »Staat der Stände und herrschenden Klassen« ersetzen will - ohne dabei in eine ökonomische Abhängigkeit geraten zu wollen. Sein bedeutendes religionsphilosophisches Spätwerk »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums« erschien erst nach seinem Tode.

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Inhaltsverzeichnis
Die Offenbarung
Korrelation
Prophetismus und Politik
Die Ausnahmestellung Israels
Die Gottesliebe
Die Lehre

Ein Bekenntnis in der Judenfrage (1880)


Die Offenbarung:

Dies ist der allgemeinste Sinn der Offenbarung: daß Gott in Verhältnis tritt zum Menschen. Und dieser allgemeinste Sinn ist zugleich der eigentliche. Denn die Meinung, daß Gott sich auch in der Welt offenbare, ist ein ungenauer Gedanke, der schon durch unsere Schöpfungslehre berichtigt ist, der in den Pantheismus hinüberschwankt: Gott offenbart sich überhaupt nicht in Etwas, sondern nur an Etwas, in dem Verhältnis zu Etwas. Und das entsprechende Glied dieses Verhältnisses kann nur der Mensch sein.

Die Offenbarung unterscheidet sich demnach nur dadurch von der Schöpfung, daß diese das allgemeine metaphysische Problem von Sein und Werden betrifft, welches aber an das besondere Problem der Sittlichkeit angrenzt. Dieses wird nun von der Offenbarung aufgenommen. Man könnte daher sogar auch sagen, die Offenbarung sei die Fortsetzung der Schöpfung, insofern sie die Schöpfung des Menschen, als des Vernunftwesens, zum Problem macht... Die Offenbarung ist die Schöpfung der Vernunft. [Aus: Religion der Vernunft. . ., S.82ff.]

Korrelation:
Die Korrespondenz zwischen Gott und Mensch erweist sich hier schon als eine Korrelation. Die Einzigkeit Gottes bedingt sein Verhältnis zur Vernunft des Menschen. Und die Vernunft des Menschen, als Schöpfung Gottes, bedingt sein Vernunftverhältnis zu Gott, daher aber auch den Vollzug dieses Vernunftverhältnisses in der Offenbarung, welche mitsamt der Schöpfung die Korrelation von Mensch und Gott begründet.
[Aus: Religion der Vernunft.. ., S. 95.]

Prophetismus und Politik:

Der Monotheismus vollzieht seine Entwicklung im Prophetismus; man kann aus dem sozial-ethischen Gesichtspunkte vielleicht sogar sagen: zum Prophetismus. Denn das Eigentümliche des Prophetismus besteht in der Verbindung der vermeintlichen Selbständigkeit des Bösen mit der vermeintlichen Selbständigkeit des Sittlichen. Der Prophet kennt diese Isolierung nicht. Er kennt nur die Korrelation von Gott und Mensch, von Mensch und Gott. Ihn interessiert daher ebenso sehr die Politik, wie das göttliche Weltregiment. Und die Politik ist für ihn wahrlich auch die auswärtige, internationale, in erster Linie aber Sozialpolitik.

Die Verhältnisse zwischen Mensch und Mensch bilden die untere oder richtiger die innere Korrelation innerhalb der von Gott und Mensch. Daher kann die Frage des Propheten nicht isoliert gehen auf den Unterschied von gut und schlecht, geschweige isoliert auf die Bedeutung von gut und schlecht im absoluten Verhältnis des Menschen zu Gott, sondern seine Frage nach der Differenz von gut und schlecht muß sich objektivieren an den sozialen Unterschieden von arm und reich. Darin besteht der sittliche Vorzug des Prophetismus, daß er den Unterschied von Wohl und Übel nicht an den subjektiven Differenzen, zu denen sogar auch die Krankheit und der Tod selbst gehören, mißt und erwägt, sondern durchaus nur an den sozialen, an den die Gesellschaft aus ihrem Gleichgewicht reißenden Gegensätzen...

Und das ist die große Tat des Prophetismus und darin zeigt sich sein innerlicher Zusammenhang mit wahrhafter Moral: daß er nicht Spekulationen nachhängt über den Sinn des Lebens vor dem Rätsel des Todes, sondern daß er die ganze Frage des Todes und daher auch des Nachlebens selbst, deren sittliche Bedeutung ihm wahrlich nicht verborgen bleibt, dennoch zurückstellt gegen denjenigen Sinn des Lebens, der in Frage gestellt wird durch denjenigen Sinn des Übels, welches die Armut darstellt. Die Armut wird der hauptsächliche Vertreter des menschlichen Unglücks. [Aus: Religion der Vernunft .. ., S. 153 ff.]Die Ausnahmestellung Israels:
Gott liebt nicht Israel mehr und anders als die Menschen überhaupt, geschweige daß die Liebe zu Israel die zu dem Menschengeschlechte einschränken und beeinträchtigen könnte. Gott liebt in Israel nichts anderes als das Menschengeschlecht. Israel ist sein Eigentum, oder wie man das hebräische Wort sonst übersetzen mag, nur als Vorbild, als Symbol der Menschheit, eine Auszeichnung innerhalb ihrer, denn nur der Monotheismus vermag die Menschheit zu konstituieren. Das ist die Grundlehre. Israel ist das heilige Priestervolk des Monotheismus. Israel ist nicht ein Volk, wie die andern Völker.

In der Rede Bileams steckt viel Charakteristik für Israel, so auch in dem Satze: >ein Volk, das einsam lagert<. Die Isolierung ist unumgänglich; denn alle Völker beten Götter an. So haben alle Völker auch ihre eigenen Staaten. Die Vereinsamung Israels muß konsequenterweise auch zur Staatenlosigkeit führen. Damit aber beginnt ihr soziales Elend, ihre soziale Analogie zur Armut. Jetzt kommt der Gedanke erst zu seinem klaren Rechte, daß Gott Israel, als ein isoliertes Volk, in seinem Elend lieben muß. Denn dieses geschichtliche Elend eines Volkes ohne Staat kann wahrlich wetteifern mit der sozialen Armut. Daher ist Israel in seiner Geschichte ein Prototyp des Leidens, ein Symbol des Menschenleids, des Menschenwesens. In der Liebe Gottes zu Israel prägt sich, nicht minder als in der zum Armen, die Liebe Gottes zu dem Menschengeschlechte aus.

Der Fehler in der Beurteilung der Erwählung Israels ist ja schon dadurch ein ganz grober, daß diese nicht in Verbindung gedacht wird mit der messianischen Erwählung der Menschheit. Und dieser Fehler zieht den anderen nach sich, daß die letztere auch nur als ein Mittel zur Verherrlichung Israels mißverstanden wird.
[Aus: Religion der Vernunft..., S. 173]Die Gottesliebe:
Man kann den einzigen Gott nicht lieben wie einen Mann oder ein Weib. Und doch liebt man ihn und sucht ihn, und bekennt dieses Verlangen, weil es ein wahrhaftes Erlebnis der Seele ist. Das freilich ein Wunder in der Geschichte der Seele, aber dieses Wunder ist eben der Monotheismus selbst. Und der literarische Ausdruck dieses Wunders ist der Psalm, die höchste Schöpfung Monotheismus. Denn der Prophet ermahnt nur zur Liebe Gottes. Der Psalm aber bekennt diese Liebe als das wirkliche Erlebnis der Seele. Und dieses Bekenntnis des seelischen Erlebnisses ist der Psalm, als Gebet. [Aus: Religion der Vernunft . . ., S. 433f.]Die Lehre:
Nicht der Glaube schlechthin darf den Menschen befriedigen. Gottesverehrung ist Gotteserkenntnis. Der Gottesdienst wurzelt im Studium der Lehre ... So beruht der Seelenfriede auf einem Frieden der Vernunft. Nicht der unselbständige Glaube, für es keine Widersprüche in der religiösen Tradition gibt, der die Zufriedenheit mißbraucht, indem er ihr die Vernunft unterordnet, nicht der Glaube ohne Erkenntnis begründet den wahren Seelenfrieden, die wahrhafte religiöse Zufriedenheit mit dem Geschicke, sondern die Vernunft, die Erkenntnis ist der Wurzelboden, der Äste und Zweige der Zufriedenheit nährt und kräftigt. Diese Verbindung schlichter Lebensführung mit emsigem Studium, mit einem Studium, dessen Energie nicht übertrieben gepriesen wird, wenn es ein titanisches genannt wird, hat dem jüdischen Leben in den Jahrtausenden des Elends jene Ruhe, Festigkeit, Überlegenheit und Hoheit gegeben und erhalten, ohne die es den Verfolgungen nicht hätte Stand halten können. Die Frömmigkeit allein, die Gottergebenheit allein, geschweige allein die strenge Pflege des Gesetzes hätte den Enthusiasmus nicht erwecken und lebendig erhalten können, dessen Ertrag jene weltüberlegene Zufriedenheit ist. Weisheit beruht auf Gelehrsamkeit. Der Jude war neben allen seinen niedrigsten Tagesgeschäften der Regel nach zugleich ein Gelehrter. Als Gelehrter konnte er ein Weiser werden. Und als Weiser konnte die Grundstimmung des Juden Zufriedenheit mit seinem Erdenlose werden. Denn in seinen Erdentagen erfüllt sich für den wahrhaften Juden nicht sein geschichtlicher Weltberuf. Seine Zufriedenheit wurzelt in seinem messianischen Berufe, der die Erkenntnis der Thora und die Pflicht ihrer Verbreitung in der geschichtlichen Welt zur Voraussetzung hat. Was sind alle Martyrien gegen diese geschichtliche Mission, was sind alle materiellen und alle Seelenleiden selbst gegen die eine Freude der Erkenntnis und der Forschung! Diese Freude der Thora ist der Frieden der Seele, die Feste der Zufriedenheit. [Aus: Religion der Vernunft . . ., S. 519f.]
Enthalten in: Selbstzeugnisse des deutschen Judentums 1870-1945 (S.96-98, 102-103)
Mit einem Geleitwort von Helmut Gollwitzer, herausgegeben von Achim von Borries
Fischerbücherei Band 439