Hermann Cohen (1842 – 1918)
Ein Bekenntnis
in der Judenfrage (1880)
Es ist also doch wieder dahin gekommen, daß wir bekennen müssen.
Wir Jüngeren hatten wohl hoffen dürfen, daß es uns allmählich
gelingen würde, in die >Nation Kants< uns einzuleben; daß die
vorhandenen Differenzen unter der grundsätzlichen Hilfe einer sittlichen
Politik und der dem Einzelnen so nahe gelegten historischen Besinnung sich auszugleichen
fortfahren würden; daß es mit der Zeit möglich werden würde,
mit unbefangenem Ausdruck die vaterländische Liebe in uns reden zu lassen,
und das Bewußtsein des Stolzes, an Aufgaben der Nation ebenbürtig
mitwirken zu dürfen. Dieses Vertrauen ist uns gebrochen; die alte Beklommenheit
wird wieder geweckt.
Denn der Angriff ist nicht nur von den kulturfeindlichen Mächten ausgegangen,
sondern von einem Manne, der bisher als ein Führer der nationalen Partei
galt, dem wir Jüngeren alle an Verständnis und Impulsen manches verdanken
[Heinrich v. Treitschke. D. H.]. Der Herausgeber der preußischen Jahrbücher
hat es für angezeigt gehalten, die Rassenfrage
gegen uns zu erheben und zur Genugtuung und Schützung des
germanischen Instinktes in Tagen der Aufregung, der Aufstachelung
von Volksleidenschaften seine israelitischen Mitbürger tatsächlicher
Kränkung, verschwörerischem Argwohn auszusetzen.
Solange jedoch der Stammesunterschied vornehmlich betont wurde, konnte es den
Anschein haben, als gerate diese Sache allgemach ins Indiskutable. Denn Rasseninstinkte
dürften sich allerdings durch keinen Federkrieg beschwichtigen lassen.
Physiognomische Probleme, als Fragen unter Bürgern desselben Staates erhoben,
sind Ehrenfragen.
In den letzten Tagen hat nun aber Treitschke seine Judenfrage weiter dahin formuliert,
daß er uns auf den Unterschied von Religion und Konfession hinweist, die
weltgeschichtlichen Kämpfe der Konfessionen als >häuslichen Streit<
schildert, das Judentum als >die Nationalreligion eines uns ursprünglich
fremden Stammes< bezeichnet, und somit den messianisch-humanistischen Gedanken
einer >reineren Form des Christentums< mit bestimmtester Ausdrücklichkeit
gegen den israelitischen Monotheismus und seine Verschmelzbarkeit in jene >reinere
Form< geltend macht.
Dem hartnäckigsten, zudringlichsten Verlangen nach Verständigung ist
nunmehr der Boden entzogen. Das Bekennen wird auch im nationalen Sinne zu einer
religiösen Pflicht ...
Der israelitische Monotheismus charakterisiert sich durch die beiden Ideen der
Geistigkeit Gottes und der messianischen
Verheißung. Die eine betrifft
das Wesen der Gottheit, die andere die geschichtliche
Aufgabe, das sittliche Ideal des Menschengeschlechts. Beide erwachsen
aus einander...
Ein Punkt nur ist in dieser Vertiefung der Gottesidee
nicht zum vollen Ausdruck gekommen, dessen dogmatische Ausgestaltung den christlichen
Monotheismus von dem israelitischen unterscheidet.
Es ist dies der fundamentale Gedanke, welcher die Verbindung der modernen Völker
mit dem griechischen Geiste zur Erzeugung einer neuen Kultur ermöglicht
hat: die Idee des Verhältnisses von Mensch und Gott
wird in der Menschwerdung Gottes verinnerlicht, und vollzieht in der
dogmatischen Form der Humanisierung Gottes die
kulturgeschichtliche Mission der Humanisierung der Religion...
Aber wir erkennen wegen dieser kulturgeschichtlichen Würdigung des Christentums
keine Nötigung, das >Evangelium des Gottmenschen<
zu bekennen. Denn wir wissen, daß bei aller notwendigen Humanisierung
des Sittlichen doch ein der Vermenschlichung unzugänglicher Kern des alten
Prophetengottes gewahrt bleiben muß:
>Wem wollt ihr mich vergleichen, daß ich gliche?< In diesem ewigen
und keineswegs lediglich kosmologischen Kern des Gottesglaubens sind alle Christen
Israeliten. Und die, welche, die einen in sittlicher Begeisterung, die andern
in naturalistischem Unglauben oder metaphysischer Phantasie, die Idee des Einen
Gottes bekämpfen, sind zugleich Feinde des Christentums
und Gegner des Judentums...
[Aus: Ein Bekenntnis in der Judenfrage. Berlin 1880;
wiederabgedruckt in: Jüdische Schriften. Berlin 1924. Band S. 73 ff.]
Enthalten in: Selbstzeugnisse des deutschen Judentums 1870-1945 (S.21-22)
Mit einem Geleitwort von Helmut Gollwitzer, herausgegeben von Achim von Borries
Fischerbücherei Band 439