Jörg Zink (1922 - )

>>>Gott

Handeln aus dem Geist

Wer der Mensch sei, das haben wir vom Geist Gottes aus, der ihm verliehen ist, beschrieben. Was dieser Mensch nun tun wird, das werden wir darum sachgemäß von dem aus beschreiben, was der Geist Gottes tut. Nicht das ist also die Frage, ob die Liebe eine christliche Tugend sei und ob es Liebe nicht vielleicht auch unter anderen Menschen gebe, sondern in welchem Sinn und auf welche Weise der Geist Gottes ein Geist des Liebens sei und also der vom Geist Gottes ergriffene Mensch ein liebender sein werde. Sinn und Weise des Liebens aber wird offenbar in Jesus Christus. Nicht das beschäftigt uns, ob Hoffnung eine christliche Tugend sei, sondern was es bedeutet, daß Christus vom Ziel der Geschichte her auf uns zukommt und uns in der Praxis des Tages für die Zukunft in Anspruch nimmt.

Christus ist »zum Himmel aufgefahren«. Das bedeutet: Es kann für uns nicht ausreichen, das Zweckmäßige, das Machbare zu tun, das im Augenblick Notwendige. Es gibt für uns einige Gesichtspunkte, die nicht an den Erfordernissen des Tages abzulesen sind, sondern weiter her, aus der Zukunft abzuleiten.

Christus
»sitzt zur Rechten Gottes«. Das bedeutet: Es kann für uns nicht ausreichen, einen Katalog richtiger und guter christlicher Taten aufzustellen, dem wir dann mehr oder minder genau und überzeugend nachleben. Wenn ein Christ handelt, ist er nicht durch ein moralisches Gesetz bestimmt, sondern von den Aufträgen, die die Zukunft stellt und die heute und hier auf dieser Erde handfest erfüllt werden müssen.

Christus »sandte den Geist«
. Er wirkt also gleichsam von oben herein in unser Gewissen, und das Gewissen wird nie endgültig von sich aus wissen, was der Wille Christi ist. Er wirkt gleichsam von vorn, von der Zukunft her in unsere Pläne hinein, und niemals wird der planende Mensch wissen, ob nicht die nächste Stunde von ihm ein Handeln gegen alle seine Pläne fordern wird. Denn das »Obere« soll ins »Untere« gelangen, das Künftige ins Gegenwärtige, und christliches Handeln beruht nicht auf dem Wissen um ein sittliches Gesetz, sondern auf dem Glauben an den Geist, den schöpferischen, den hereinbrechenden, an den Geist, der, dem Menschen gleich, der von ihm erfüllt ist, als Taube beschrieben wird, als Feuer oder Wind. Ein Mensch aber, der sich vom Geist Gottes bestimmen lässt, ist fremd in der Welt, in der so andere Maßstäbe gelten, und er ist zugleich wie kein anderer in der Welt, die eine Welt Gottes ist, zu Hause.


Christus ist »empfangen vom heiligen Geist«. »Er legte sein Vorrecht, Gott gleich zu sein, ab und nahm die Gestalt eines Knechts an«, schreibt Paulus. »Er wurde ein Mensch unter Menschen.« Nimmt ein Christ also das Maß seines Handelns an Christus ab und verläßt er sich darauf, daß der Geist Gottes ihm die Gabe verliehen habe oder verleihen könne, Konkretes überzeugend zu tun, dann wird er in der Gestalt eines normalen Menschen Normales tun. Er wird weder heilig erscheinen wollen noch heroisch. Er wird für sich keine besonderen Bedingungen fordern, unter denen er seines Glaubens leben könnte, sondern wird sich den Bedingungen, die in dieser Welt gegeben sind, einfügen, inkarniert sozusagen, eingeleibt, wie Christus in die Gestalt eines Menschen eingeleibt war. Denn der schöpferische Geist, von dem er sich bestimmen läßt, ist der Geist Christi, des unauffälligen, leibhaften Menschen. Er wird nicht eine Stufe höher stehen wollen als andere Menschen, sondern unten, dort, wo die Menschen tatsächlich leben, der Liebe Christi und seiner Hoffnung Ausdruck geben.

Wenn ein normaler Mensch unter normalen Bedingungen praktisch handelt, dann wird seine Tat immer in irgendeinem Sinne die Gestalt eines Kompromisses an sich tragen. Er wird die Menschen nehmen, wie sie sind. Er muß mit ihnen leben.

Eine Gesellschaft kann nicht von heute auf morgen auf den Kopf gestellt werden. Sie hat ihre Geschichte und ihr Stehvermögen. Der Ideologe mag von einem Handeln nach der Veränderung aller Dinge träumen; da er aber mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Veränderung der Dinge erreichen wird, wird er zu dem Handeln, von dem er träumt, mit ebenso hoher Wahrscheinlichkeit nie gelangen. Der Christ wird nicht versuchen, die Interessen dieser und jener Menschen oder dieser und jener Gruppe beiseite zu schieben: sie gehören nun einmal zu dem Koordinatensystem, in das er sein Handeln einzeichnen wird.


Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte, Gewalttätige und Gleichgültige sind in sein Tun mit verflochten, und seine Tat wird sich selten so vom Tun anderer abheben, daß der Zusehende überwältigt ausrufen müßte: Seht! Das ist ein Christ! Kaum jemand, der Jesus in Galiläa umherwandern sah, war gezwungen, auszurufen: Seht! Das ist Gott selbst! Die Knechtsgestalt. in der der Glaube sich verwirklicht, wird sich von außen wie die eines komplizierten Kompromisses ausnehmen. Als der unscheinbare Lehrer der Armen in Galiläa war Jesus das Licht der Welt. Als die zum unscheinbaren Leben in der Hingabe Bereiten werden seine Jünger Lichter der Welt, in der Armut ihrer von tausend Kompromissen gezeichneten Knechtsgestalt wird die Kirche »Stadt auf dem Berge« sein. Denn die Liebe Christi zeigte sich paradoxerweise darin, daß er die Menschen änderte, indem er sie bejahte.

Wenn Christus seinen Weg nach Jerusalem ging, bereit, zu erleiden, was nach seinem Tun und Reden in Gestalt von Haß, Verachtung, Angst und Gewalt auf ihn zurückschlug, dann ist hier das Muster vorgezeichnet, nach dem ein Christ die Konsequenzen aus der Knechtsgestalt seines Glaubens annehmen wird, nachdem er in notwendigen, von Liebe bestimmten oder Hoffnung ausdrückenden Kompromissen gehandelt hat. Inkarnation, Leibwerdung, ist das Gesetz der Liebe. Unansehnlichkeit ist das Gesetz der Inkarnation. Leiden unter den Menschen und unter dem eigenen Gewissen ist das Gesetz der Unansehnlichkeit. Es gibt aber ein Leiden unter dem eigenen Gewissen, das ein Leiden mit Christus ist. Und eben dies ist der Trost, an den der Glaubende angesichts seines eigenen Handelns sich hält.


Wenn aber Christus, der Leidende, lebt und zur »Rechten Gottes« ist, dann wird der Glaubende den Sinn seiner Hingabe weit vor sich, in der Zukunft suchen und finden. Er wird wissen, daß er am Ende als ein Niedergeschlagener, als ein Gescheiterter vielleicht, sicher aber als ein sehr normaler Mensch vor Christus stehen wird: Aufgerichtet. Angenommen. Bejaht.

Der Sinn einer Berufung in die Nachfolge Christi ist die Befähigung zu praktischem Handeln in den Bedingungen nicht des Reiches Gottes, sondern dieser Welt. Jesus wollte nicht die hilflosen Träumer, und er wollte nicht die anpassungsfähigen Schwätzer, er wollte Menschen, die ein Ziel wissen. Er wollte Menschen, die auf ihn zu durch ihr Leben gehen und dabei die Welt ändern einfach durch das Wort vom Gottesreich und durch das Zeichen ihrer Hingabe, die ein Hinweis auf Christus ist.

Er wollte, wie Paulus es ausdrückt, Menschen, die »im Geist wandeln«. Ein wenig altväterisch klingt das Wort »wandeln« in der Übersetzung Luthers. Ich wüsste aber nicht, wie man es genauer sagen sollte. Sie tun, was Gott tut, aus dem Geist Gottes. Gott hat Bilder von Dingen — und die Dinge entstehen. Gott spricht ein Wort — und das Ausgesprochene geschieht. Der Glaubende sieht das Bild einer Welt, die Gott gemeint hat, und handelt so, daß die Wirklichkeit etwas von Gottes Absicht an¬nimmt. Er hört ein Wort und spricht es nach, und das Heilvolle geschieht.

Was aber ist das Heilvolle? Dasselbe, das durch Jesus geschah, als er in Galiläa wirkte: Es entstanden Tischgemeinschaften. Wer ihm nach handelt, wird also alle, die in irgend¬einem Sinn ausgesperrt sind, einbeziehen. Jesus wollte die Versöhnung der Zerstrittenen und Getrennten. Der Christ wird also versöhnend wirken, wo immer Streit und Haß Menschen trennen. Jesus zielte mit allem, was er tat, auf das Reich ab. Ein Christ wird also auf ein Ziel zu handeln: die Gemeinschaft der Gerechten und der Ungerechten, der Reichen und der Armen, der Frommen und der Gottlosen. Einbeziehend, versöhnend, zielgerichtet — das werden Merkmale christlichen Tuns sein. Das alles hat freilich nicht den Sinn, Gegensätze aufzuheben, Konturen zu verwischen und eine Nacht herzustellen, in der alle Katzen grau sind. Es soll vielmehr eine Gemeinschaft entstehen, die verwandelt. Ihre verwandelnde Kraft empfängt sie aber von dem Christus, der wollte, daß sie alle an seinem Tisch sind. Eine Gemeinschaft, die sich aussondert und unter sich bleibt, verwandelt nicht.

Ein Christ wird tun, was Jesu Absicht war, und er wird es in voller Freiheit tun. Ein Christ ist ein freier Mensch und ein gebundener zugleich, und er ist ein freier Mensch mitten in aller Gebundenheit. Er ist ein freier Mensch und kann tun und lassen, was er will, und selbst dazu ist er nicht verpflichtet. Er kann auch in aller Freiheit nach dem Willen eines anderen leben. Er braucht seine Freiheit nicht zu beweisen oder zu demonstrieren. Er hat sie.

Er wird sich auf den Geist Gottes verlassen, der ein Geist der Freiheit und der Inkarnation zugleich ist. Er wird glauben — denn alles christliche Handeln ist ein Glauben —, daß, wer sich auf den Geist verläßt, mehr kann als er allein und aus sich selbst könnte. Vielleicht ist dies überhaupt »christliche Ethik«: dass einer sich auf den Geist der Freiheit und der Leibwerdung verlässt und dann mehr tut als er von sich aus könnte, ohne dass es mehr zu scheinen braucht.
S.391-395
Aus: Jörg Zink, Erfahrung mit Gott. Einübung in den christlichen Glauben. © Kreuz Verlag, Stuttgart 1974
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung des Kreuz Verlages