Jörg Zink (1922 - )

Deutscher evangelischer Theologe, der in Tübingen u. a. bei Spranger und Guardini Philosophie und Theologie studiert hat. Er machte sich einen Namen als Bibelübersetzer und Autor zahlreicher spiritueller und theologischer Bücher. Jörg Zink ist einer der wichtigsten Sprecher der Friedens- und Ökologiebewegung. 1983 erhält er den »Bundesnaturschutz-Preis« und 1996 den »Wilhelm-Sebastian-Schmerl-Preis« für seine Verdienste um die evangelische Publizistik.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis

Schweigen in Gott
Der Gott der Atheisten
»Gott ist tot«
Der verborgene Gott

Nach Auschwitz Gott loben
Das Letzte über Gott

>>>Christus
Handeln aus dem Geist


Schweigen in Gott
Gott ist ein redender Gott, ein Gott, der sich mitteilt und Erkenntnis seines Willens will. Der Mensch, der Partner dieses Gottes sein will, hört, er nimmt ein Wort auf und spricht es auf seine Weise weiter. Hinter diese Erkenntnis der Propheten Israels kann niemand zurück. Es ist aber ebenso wahr, daß Gott ein schweigender Gott ist und daß der Mensch, wenn er ihn und sich selbst versteht, seinerseits vor Gott schweigt. Ebenso wahr wie dies, daß der Mensch im Gespräch mit Gott seinen ihm zukommenden Ort findet, ist das andere, daß in Gott abgründige Stille ist und der Mensch, wenn es ihm gegeben wird, an dieser Stille beglückenden Anteil hat. Vermutlich ist menschliches Reden von Gott nur so weit glaubwürdig, als es aus dem Schweigen kommt und im Schweigen endet. Denn das Schweigen ist ein Werk des Geistes Gottes wie das Reden.

Das Alte Testament berichtet von Elia, dem großen Propheten des 9. Jahrhunderts vor Christus, er habe einem König, einer Königin, einer versammelten Macht von Baalspriestern und einer widerstrebenden Volksmasse das Wort und den Willen Gottes ins Gesicht geschrien, bis er, von Haß verfolgt, in der Wüste Zuflucht suchte. Der Gott Elias war ein redender. ein eindeutiger Gott, ein Gott des klaren, kämpferischen Worts. Aber dann saß der einsame Elia in einer Höhle des Sinaigebirges und wartete, dort Gott zu begegnen, dem Gott des Gewitters und des Sturms, der ihm vertraut war. Als aber der Sturm vorbeitobte, war Gott nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben, aber Gott war nicht im Erdbeben. Nach dem Erdbeben kam ein Feuer, aber Gott war nicht im Feuer. Danach kam das Flüstern eines leisen Wehens, und als Elia das hörte, verhüllte er sein Antlitz mit seinem Mantel und trat aus der Höhle ins Freie. Da fing ihm Gott, den er für einen Gott von Sturm, Erdbeben und Feuer gehalten hatte, neu und gänzlich anders zu reden an. Das laute Reden in Elia endete, und aus der großen Stille in Gott kam ein ganz anderes Wort, das Elia nicht mit lautem Reden zu beantworten vermochte, sondern nur mit dem Schweigen und dem fügsamen Tun — und damit, daß er sein Amt einem anderen übergab.

Daß ein Mensch von Gott redet, entspricht einem tiefen Bedürfnis, und so mag es sein, dass er von Gott spricht, ohne sich je zu fragen, wie er denn dazu gekommen sei, dies zu tun. Er zieht Gott in die Sphäre seiner menschlichen Bedürfnisse und macht ihn greifbar in heiligen Dingen, Orten, Zeiten oder Autoritäten: in einer Kirche, auf einem Altar, in einem Buch, einem Sakrament. einer priesterlichen Tracht, der besonderen geistlichen Kraft eines Amts, in heiligen Zeichen, Symbolen. Begehungen oder Gebärden. Das »Heilige« tritt als ordnende Macht in das Chaos der Menschenwelt und des Menschenlebens ein, und was der Gott, der in den heiligen Dingen ist, spricht und will, das weiß der Priester zu jeder Zeit zu sagen. Der Gott der Priester eignet sich dazu, daß von ihm, der immer geredet hatte, zu jeder Stunde weiter geredet werden kann.

Was aber tut ein Mensch, der erkannt hat, daß Gott nicht nur schweigt, weil er, der Mensch, nicht hört, sondern weil Gott selbst ein schweigender Gott ist, ebenso wie er ein redender ist? Wenn er nach einem Wort des schweigenden Gottes sucht, wo wird er es finden? Jahrhunderte gingen in Israel hin, in denen jeder wußte, daß »kein Wort von Gott da war«. Priester und Propheten garantieren kein Wort von Gott. Wo aber findet der Mensch dann das Ohr, das ihn hört? Wo die Stimme, die ihm antwortet?

Er wird sich dorthin begeben, wo Gott gesprochen hat: zu Jesus Christus, und dort hören. Er wird in einer Zeit, in der Gott für Millionen ein schweigender Gott geworden ist, immer und immer wieder in seinem Namen reden, und er wird es mit Recht tun, solange er sich des Ungeheuren bewußt ist, daß er den sprechenden Gott verkörpert, während Gott vielleicht auf lange Zeit hinaus schweigt. Er wird sich auf Christus berufen, der gesprochen hat in einer Zeit, in der sein Volk überzeugt war, Gott schweige, der den Geist Gottes für sich beanspruchte in einer Zeit, in der nach allgemeiner Meinung der Geist erloschen war.

»Wie bringen Sie es fertig?« — wird eines Tages Martin Buber gefragt — »so Mal um Mal Gott zu sagen? Was Sie meinen, ist doch über alles menschliche Greifen und Begreifen erhoben. Eben dieses Erhobensein meinen Sie, aber indem Sie es aussprechen, werfen Sie es dem menschlichen Zugriff hin!«

»Ja«, antwortete Buber, »es ist das beladenste aller Men¬schenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. Gerade deshalb darf ich darauf nicht verzichten. Die Geschlechter der Menschen haben die Last ihres geängstigten Lebens auf dieses Wort gewälzt und es zu Boden gedrückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der Menschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen; sie haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur und ihrer aller Blut. Wo fände ich ein Wort, das ihm gliche, um das Höchste zu bezeichnen! Nähme ich den reinsten, funkelnsten Begriff aus der innersten Schatzkammer der Philosophen, ich könnte darin doch nur ein unverbindliches Gedankenbild einfangen, nicht aber die Gegenwart dessen, den ich meine, dessen, den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheuren Leben und Sterben verehrt und erniedrigt haben. Ihn meine ich ja, ihn, den die höllengepeinigten, himmelstürmenden Geschlechter der Menschen meinen. Gewiß, sie zeichnen Fratzen und schreiben >Gott< darunter; sie morden einander und sagen >in Gottes Namen<. Aber wenn aller Wahn und aller Trug zerfällt, wenn sie ihm gegenüberstehen im einsamsten Dunkel und nicht mehr >Er, er< sagen, sondern >Du, du< seufzen, >Du< schreien, und wenn sie dann hinzufügen >Gott<, ist es nicht der wirkliche Gott, den sie alle anrufen, der Eine, Lebendige, der Gott der Menschenkinder? Ist nicht eben dadurch das Wort >Gott< das Wort des Anrufs, das zum Namen gewordene Wort, in allen Menschensprachen geweiht für alle Zeiten? Wir können das Wort >Gott< nicht reinwaschen, und wir können es nicht ganzmachen; aber wir können es, befleckt und zerfetzt wie es ist, vom Boden erheben und aufrichten über einer Stunde großer Sorge.«

Wir können, wir Christen, das Wort >Gott< aufrichten im Namen des Christus, der das Geschick des von Gott gesprochenen Worts unter dem Zugriff der allesredenden Menschen an Leib und Seele erlitten hat. Denn wir glauben, daß er uns im Namen des Kreuzes, an dem er starb, das Recht gibt, Tag um Tag auszusprechen, was Gott zu den Armen dieser Erde durch Jesus von Nazareth gesprochen hat.

Der Gott der Atheisten
Es ist überdeutlich: Die Christen sind heute Teil einer Welt, in der Gott nicht gebraucht, nicht gewünscht und nicht verstanden wird, einer Welt unzähliger theoretischer und praktischer Formen des Atheismus. Atheismus heißt Gottlosigkeit, Gottesfremdheit, Gotteshaß. »Es gibt keinen Gott.« »Wir brauchen keinen Gott.« »Wir wollen keinen Gott.«

Atheismus kann darin bestehen, daß man nicht nachdenkt und die Hilflosigkeit, der man gegen das Ende seines Lebens verfällt, in Kauf nimmt. Atheismus kann darin bestehen, daß ein gebildeter Mensch, der durchaus über dies oder jenes nachdenkt sich um religiöse Dinge einfach nicht kümmert. Sein Atheismus beruht im Grunde auf geistiger Barbarei. Atheismus kann darin bestehen, daß ein Christ durchaus von Gott spricht, wenn er ihn in Notfällen oder zu Familienfesten nötig hat, daß »sein Gott« aber im übrigen schläft oder spazieren geht, jedenfalls auf das Tägliche keinen Einfluß hat.

Dieser platte Atheismus ist nichts Neues. Er war vor zweitausend Jahren nicht weniger verbreitet als heute, und es ist umgekehrt nicht erwiesen, daß ehrliches religiöses Leben heute sel¬tener sei als im frommen Mittelalter. Vermutlich geht nur die Bedeutung der Kirchen zurück und verlassen nur die die Gemeinschaft der Christen, die es vor fünfhundert Jahren für opportun gehalten hätten, mit der Kirche im Frieden zu leben. Vor allem hat sich dies geändert, daß der Bannstrahl eines Papstes vor tausend Jahren eine politische Waffe war und daß er es heute nicht mehr ist. Der Glaube gilt als Privatsache und ist nur so weit noch verbreitet, wie er es früher in Wahrheit auch war: so weit, wie die Bereitschaft der Menschen, zu glauben, tatsächlich reicht.

Aber dreierlei hat sich doch geändert: Wir wissen erstens heute mehr über die Beziehungen zwischen dem religiösen Bereich und der übrigen Gesellschaft als früher. Wir wissen zwei¬tens mehr über die menschliche Seele. Und es gibt drittens ein Leiden unter der Ferne Gottes. das früher in dieser Verbreitung unbekannt war.

Vor hundert Jahren begründete Ludwig Feuerbach durch seine psychologische Herleitung des Glaubens den modernen Atheismus. Der Mensch hält, so lehrte er, die Beschränktheit seiner Möglichkeiten fälschlich für seine Grenzen. Aber die Verstandes- und Willenskräfte des Menschen sind unendlich. So steht der Mensch staunend vor unendlichen Kräften, und da er sie nicht versteht, führt er sie auf ein fremdes Wesen, auf einen Gott, zurück. Er wirft sein Gottesbild, geschaffen aus Wünschen und Sehnsüchten, aus dem Bedürfnis nach Verehrung und aus dem Zweifel an der eigenen Kraft, an den Himmel und fügt sich dem selbstgeschaffenen Gott.

Man wird mit Feuerbach nicht über Gott streiten. Gegen den Verdacht, daß Gott aus menschlichen Wünschen bestehe, gibt es kein Argument. Aber man wird mit ihm über sein Menschenbild reden müssen. Denn Feuerbach konnte Gott deshalb für überflüssig halten, weil er zuvor den Menschen in ein göttliches Wesen verwandelt hatte, in ein Wesen mit unendlichen Kräften und Fähigkeiten. Diesen Optimismus aber haben wir inzwischen abgelegt. Heute ist mit dem unendlichen Gott auch der unendliche Mensch erledigt, und die Kritik an der Religion befreit den Menschen nicht mehr zu seinen eigenen Fähigkeiten, sondern nimmt ihm den Horizont, in dem er leben könnte, und verdunkelt ihm eben damit sein Wesen. Optimismus hatte sich an die Stelle der Religion gesetzt. Beide, die Religion und der Optimismus, sind verloren. Übrig bleibt die Resignation auf das Tunliche und Machbare, und eben damit verliert der Mensch sich selbst.

Härter und treffender empfinden wir heute die Kritik von Karl Marx an der Religion. denn er erklärt Religion nicht nur für illusionär, sondern für sozial schädlich. Religion lenkt den leidenden Menschen von sozialen Mißständen ab und vertröstet ihn auf das bessere Jenseits. Anstelle der sozialen Befreiung durch Revolution bietet die Religion die Scheinbefreiung durch einen Traum und befestigt die bestehenden Verhältnisse. Nur wer von Religion frei ist, kann den Menschen die gesellschaftliche Befreiung bringen.

Der Atheismus von Karl Marx ist ein Atheismus um der Menschen willen, und Marx ist im Recht, wo immer ein bürgerlich eingefügtes, in die Geld- und Warengesellschaft passendes Christentum verbreitet ist. Am Gott saturierter Spießbürger oder heimlicher und öffentlicher Unterdrücker haben wir in der Tat keinen Bedarf. Das gesellschaftspolitische Erwachen der Christenheit in den letzten zwanzig Jahren wäre ohne den Impuls nicht denkbar, den sie von Marx empfing, auch wenn die Christen dabei nur zu dem zurückkehrten, was ihnen seit Jesus eigentlich hätte selbstverständlich sein müssen.

Heute sind einzelne Gruppen von Christen mit an vorderster Stelle, wo immer es um Hilfe für die mißbrauchten Völker der Dritten Welt geht, und die Religion wird wieder mehr und mehr die Kraft, der die Aufgabe zufällt, das Diesseits zu verändern. Noch ist genug selbstgenügsames, obrigkeits- und wirtschaftshöriges Christentum im Stile einer jahrhundertealten bürgerlichen Tradition unter uns, aber die Zeichen sind deutlich.

Vom anderen Ende, nämlich von der getretenen und machthungrigen Seele des Menschen her, kritisierte Sigmund Freud das Gottesbild der Christen. Nach Freud haben der autoritäre und der unterwürfige Charakter ihren Ursprung in derselben Fehlhaltung, nämlich dem Versuch, das eigene Ich auszuweiten und, sei es durch Beherrschung, sei es durch Unterwerfung, andere mit sich zu beschäftigen. Die Sicherheit aber, die beiden fehlt, suchen sie in dem überirdischen Helfer, der sie zur Herrschaft über andere ermächtigt oder in dessen Namen sie sich der Herrschaft anderer Menschen unterwerfen. Sie bedürfen keiner Freiheit mehr und brauchen eigene Entscheidungen nicht mehr zu treffen. Beides nimmt ihnen Gott ab. In der Tat läßt sich die Art, wie sehr viele Christen ihren Gott zu ihrer Verfügung halten, in den Analysen Freuds durchaus unterbringen. Freilich, die Analyse versagt überall, wo ein Mensch aus Glauben und in Freiheit handelt. Nicht jeder ist Sadist oder Masochist, und es gibt durchaus den freien, gelassenen, zur Entscheidung bereiten Menschen.

Am tiefsten trifft uns heute jene Art des Atheismus, die aus dem Leiden am Leben erwächst und ihr Elend darin offenbart, daß das Leben stumm und wehrlos gelitten wird, daß das Leben nichts gibt, daß es nichts ist und an kein Ziel führt, es sei denn ins Nichts. »Nichts« — das heißt spanisch »nada«. Ernest Hemingway erzählt:

»Wovor hatte er Angst? Es war nicht Angst oder Furcht. Es war ein Nichts, das er nur zu gut kannte. Es war alles ein Nichts, und der Mensch war auch ein Nichts.

Es war nur das, und Licht war alles, was man brauchte, und eine gewisse Sauberkeit und Ordnung. Manche lebten darin und fühlten es gar nicht mehr, aber er wußte, es war alles nada y pues nada y pues nada. Nada unser, der du bist im nada, nada sei dein Name. Dein Reich sei nada, Dein Wille nada, wie im nada also auch auf nada. Unser täglich nada gib uns nada, und nada uns unsere nada, wie wir nadan unseren nadan. Nada uns nicht in nada, sondern erlöse uns von dem nada; pues nada, Heil dem Nichts, voll von Nichts. Nichts ist mit dir. Er lächelte und stand vor einer Theke mit einer glänzenden Kaffee-Espressomaschine. Was bekommen Sie? fragte der Mann hinter der Theke. Nada.«

Das Problem »Gott« hat sich in Nichts aufgelöst. Es ist alles nichts. Ein Ziel ist nicht. Ein Sinn ist nicht. Und darin liegt kein Triumph. Ein konturenloses, eingeebnetes Leiden bestimmt jede Hantierung. und im Grunde ist es gleichgültig, ob der Espresso getrunken wird oder stehen bleibt. Er gibt keinen Mut. Er lindert nicht. Alles ist nada. Und noch das Lächeln ist nur Ausdruck der Konturenlosigkeit des Leidens.

Diese Art Atheismus trifft den Christen dort, wo er am intensivsten Christ ist, wo die Gestalt jenes Jesus am deutlichsten vor ihm steht: die Gestalt des Gastgebers an den Tischen der Armen von Galiläa, deren Dasein aus Gewalt, Entwürdigung, Mißachtung und Elend bestand. Der Platz eines Christen wäre in Hemingways »sauberem, gut beleuchtetem Café« am Tisch mit dem Mann, der nicht einmal mehr einer Tasse Kaffee anfühlt, daß sie wirklich sei.

In einer Zeit, in der wir wieder verstehen können, warum Jesus die Elenden, die dem Glauben Entfremdeten, als die Kranken bezeichnet, ist das Gespräch mit den Gottlosen sinnvoller als der Kampf gegen die Gottlosigkeit, das Erzeigen von Güte hilfreicher als das treffende, Irrtümer noch so deutlich enthüllende Argument im Streit der Worte.

»Gott ist tot«
Atheismus ist kein Privileg der Atheisten. An der Oberfläche der innerkirchlichen Diskussion fand bis vor kurzem das Gesellschaftsspiel statt, zu fragen, wie tot Gott sei. Das Erregende bestand darin, daß kaum einer so recht zu sagen wußte, was er sich dabei dachte.

Denn was wollte man sagen? Wer gestorben ist, muß irgendwann gelebt haben. Wer sterben kann, ist auch zu seinen Lebzeiten vermutlich nicht Gott gewesen. Wollte man sagen. früher habe es einen Gott gegeben; der sei nun in den Menschen eingegangen, und der Mensch übernehme Gottes Rolle? Was aber ist von einem Gott zu halten, der durch Menschen abgelöst werden kann? Wollte man sagen: Wir verstehen nicht mehr, wer Gott ist, also ist für uns Gott tot? Dann sagte man aber richtiger:

Der Mensch ist blind und taub geworden.
Wollte man sagen:

Opas Gott ist tot, wie man etwa sagt: Opas Kino ist tot? Dann hieße das, es gehe uns nichts mehr an, was ein Hofprediger von 1910 über den Gott der Preußen gesagt habe. So sei auch Barths Gott tot, der Gott Luthers und Zinzendorfs: die Bilder nämlich, die man sich früher von Gott machte. Das hieße: Gott ist anders, als wir es gelernt haben. Wollte man sagen: Der Gott. der als Begründung dient, ist tot? Wofür hat man Gott nicht schon mißbraucht, als Stütze für den Staat, die Moral oder die Klerisei, als Alibi für gerechte Kriege, Sklavenhandel und Ketzerprozesse! Dann aber wäre nicht Gott tot, sondern sein beschmutztes Bild. Die Diskussion hatte einen Anschein von Aktualität, solange das Geheimnis bestand, was denn dieser oder jener meinte. Wer das Wort vom »toten Gott« heute noch gebraucht, ist zur Klarheit verpflichtet. Es ist kein Zeichen von Torheit oder Intoleranz, wenn man fordert, ein Nilpferd müsse sich von einer Schildkröte unterscheiden lassen oder auch eine geistreiche Phrase von einem ernstgemeinten Wort.

Zweierlei verbirgt sich hinter der Rede vom »Tode Gottes«: Einmal die tödliche Krankheit in der Tiefe der Seele heutiger Menschen, die von Zeit zu Zeit als Verzweiflung an die Oberfläche kommt und uns unfähig macht, das Gegenüber zu erfassen, von dem her wir leben, so daß wir also in den Tod hin¬einstarren, wo eigentlich Gott vor uns steht. Zum anderen etwas Uraltes und keineswegs in unserer Zeit Neuentdecktes, die Tatsache nämlich, daß der Gott, der sich in Christus offenbart, erfahren wird in der Gestalt eines verborgenen Gottes. Gott wird ja auch durch Christus nicht zu einem »verständlichen« Gott, nicht zu einem verwendbaren, nicht zu einem handlichen und vertrauten Gott. Der Gott, der zu verwenden ist und über den man Bescheid weiß, ist in der Tat tot. Er war es von jeher. Umgekehrt sprachen schon vor tausend Jahren die großen Denker der mystischen Tradition von jenem dunklen Abgrund, den der Mensch als Nichts erfährt und der sich als Gott offenbart.

Man hat den Mystikern immer wieder »Atheismus« vorgeworfen. Aber dieser scheinbare Atheismus beschreibt nur, was die Bibel Heiligkeit nennt, die Unzugänglichkeit, Ferne und Erhabenheit Gottes. Wahrscheinlich führt für uns Heutige der Weg zu einem Glauben, der standhält, durch diese Zone der Gottesfinsternis immer wieder hindurch. Denn es ist nicht rätselhaft, sondern naheliegend, daß Gott schweigt. Das Rätselvolle und Wunderbare ist, daß es eine Stelle gibt, an der Gott redet.

Die Gottesfinsternis, von der Martin Buber spricht und die er als Kennzeichen unserer Epoche versteht, ist eine Aufforderung zur Hoffnung. Eine Sonnenfinsternis bedeutet ja nicht: »Die Sonne ist tot. Sie war auch früher schon eine Illusion. Sie war von jeher eine Projektion des frierenden, Licht und Wärme suchenden Menschen an den Himmel.« Eine Sonnenfinsternis zeigt vielmehr genau an, wo die Sonne steht. Sie zeigt, daß etwas ist zwischen der Sonne und uns, das sie verbirgt. Die Sonne scheint nicht. Sie wärmt nicht. Sie gibt der Erde keinen Glanz, keine Farbe, kein Leben. Ob freilich Hoffnung möglich ist auf das Ende einer Gottesfinsternis, muß im Gespräch mit Atheisten offenbleiben. Vielleicht spricht der Atheist, dem Gott nichts ist oder der Gott für tot hält, von Finsternis und meint den verborgenen Gott. Und vom Christen ist nicht verlangt, daß er Beweise beibringt für seinen Glauben, sondern daß er dem, der nicht glaubt, die Hoffnung zeigt, in der er selbst lebt.

»Wer das Wort Gott spricht und wirklich Du im Sinn hat, spricht, in welchem Wahn immer er befangen sei, das wahre Du seines Lebens an, das von keinem anderen eingeschränkt zu werden vermag und zu dem er in einer Beziehung steht, die alle an¬dern einschließt. Aber auch wer den Namen verabscheut und gottlos zu sein wähnt, wenn der mit seinem ganzen hingegebenen Wesen das Du seines Lebens anspricht, als das von keinem an¬dern eingeschränkt zu werden vermag, spricht er Gott an« (Martin Buber).

Der verborgene Gott
Vom verborgenen Gott zu sprechen kann ein Spiel mit Worten sein. So bleibt ein Wort wie das des Thomas von Aquin:
»Im Gipfelpunkt unseres Erkennens erkennen wir, daß Gott der Unbekannte bleibt«, durchaus im Überschneidungsgebiet zwischen Tiefsinn und Banalität. Wer so schreibt, ist durch seine Erkenntnis nicht verwundet. Das gilt auch von Augustin, wenn er schreibt: »Wir finden Gott, indem wir ihn suchen, und wir suchen ihn, während wir ihn schon gefunden haben.«

Gottes Verborgenheit kann aber auch — und erst dann ist von ihr wirklich die Rede — ein Elend bedeuten, an dem ein Mensch zerbricht. Die »Gottesfinsternis«, die »dunkle Nacht der Seele«, die »Anfechtung«, oder wie immer sich die Mystiker des Mittelalters und späterer Zeiten ausgedrückt haben, sind nicht ein akademisches Problem, sondern bedeuten für den, der sie erlebt, Bodenlosigkeit, Lichtlosigkeit, Verworfenheit, Tod. Da tasten sich die großen Glaubenden aus der tiefen Nacht der Gottverlassenheit oder der Gottesangst zurück zur Erfahrung des gütigen Gottes, ohne Hoffnung, ihn zu finden, ohne zu wissen, wo überhaupt er noch zu suchen, ob in seinem Zorn noch Liebe erfahrbar sei, in seiner Finsternis noch Licht, in seiner Abwesenheit noch seine Nähe, in seinem Nichts noch seine Fülle.

Dennoch stand für die Mystiker wie auch für Luther fest, daß Gott Gott bleibe, mitten im Nichts. Daß Gott überhaupt im Abgrund versunken sei, das zu fürchten ist das Schicksal unseres Jahrhunderts. Gottesleugnung ist heute keineswegs mehr eine Sache der Ungläubigen. Könnte Gott nicht tot sein, mitten in der Kirche? Könnte Gott nicht taub sein, mitten in unserem Gebet? Könnte Gott nicht fehlen, mitten im Hymnus?

Die Gottesleugner sitzen nicht mehr unter den frechen, frivolen Spöttern, von denen sich der Fromme des Alten Testaments und noch der Bürger des letzten Jahrhunderts mit Schauder abwandte. Sie sitzen im eigenen Herzen der Christen, und dort wird nicht überlegen diskutiert, sondern gelitten. Denn dort geht es nicht um Nähe oder Ferne Gottes allein, sondern um Heil und Unheil, um Leben und Tod des Menschen. Könnte es denn nicht sein, so frage ich, daß Gott ferne wäre auch in dem Sinn, daß er meine Vernichtung wollte, daß er mir die Hölle zugedacht hätte, die Verzweiflung, die Verstoßung?

Rettung vor dem dunklen Gott liegt nirgends als allein in Christus. Das hat Luther ein für allemal klargestellt. Das ist über alle konfessionellen Streitfragen hinaus seine große Leistung für die Christenheit. Aber was heißt, sich mitten in der Angst auf Christus berufen? Heißt es nicht festhalten, daß Gott das unbedingte und unbegrenzte Ja unseres Herzens zukommt? Könnte die Rettung nicht darin liegen, daß der betroffene Mensch mitten in dem gefährlichen, finsteren, scheinbar tödli¬chen Gotteswillen bliebe und sagte: Dein Wille geschehe? Ich will dich lieben, und sei es in der Hölle? Ich will dich, meinen tödlichen Feind, lieben und mit meiner Liebe zu dir die anderen, tödlich Bedrohten wie mich, mit umfassen? Ich will dich, den toten Gott, lieben, bis du mir lebendig vor der Seele stehst? Und wenn ich wirklich in die Hölle versinken sollte, so wollte ich dich dennoch lieben und durch meine Liebe in deiner Nähe bleiben. Und so, das hoffe ich in meiner Verzweiflung, wird die Hölle ein Ort sein, an dem Du nahe bist. Und hieße das nicht, daß die Hölle sich verwandelt in einen Ort des Trostes, der Seligkeit gar?

Daß dies aber sein könnte, das glaube ich mit meiner ganzen Kraft, mit der Kraft meines Unglaubens, gegen allen Augenschein, gegen alle Erfahrung.
Die so fragen, werden freilich trotz des großen, resignierenden Entschlusses zur Liebe gegenüber dem feindlichen Gott ihre Angst und Verlassenheit nicht los. Tod ist nun einmal Tod.

Wenn Gott tot ist, produziert der Mensch keinen lebendigen Gott, und die Auferstehung ist nicht der zweite Akt nach dem ersten in einem fertig geschriebenen Stück, das nur noch abzulaufen braucht und das an jedem Abend vor einem anderen Zuschauerkreis mit dem gleichen Ende abläuft, sondern die ganz und gar offene Neuschöpfung, die allein von dem wider alle Erfahrung lebendigen Gott ausgeht.

So schreibt Dietrich Bonhoeffer am 16.4.1944: »Wir (die modernen Menschen) müssen in dieser Welt leben, als gäbe es keinen Gott. Und eben dies erkennen wir — vor Gott. Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden, und der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.«

Gewiß, dies sind die Erfahrungen einsam begnadeter Menschen auf dem Weg einer lebenslangen Suche nach Gott. Die Erfahrungen des Durchschnittsmenschen sind banaler. Aber es fragt sich, ob nicht die Resignation in den feindlichen Willen Gottes von unzähligen Menschen in der tiefsten Verzweiflung ohne Hoffnung auf Licht vollzogen wird, nur eben, daß sie die Worte nicht haben, um das Furchtbare ihrer Erfahrung auszusprechen.

Es kann jedenfalls keine Gegnerschaft zwischen einem an Gott glaubenden Christen und einem Gott leugnenden Atheisten mehr geben. Dafür ist die Nacht der Verborgenheit Gottes auch dem Christen zu dicht gegenwärtig. Es geht im Gespräch zwischen Christen und Atheisten wohl darum, daß der Christ seinen Weg durch die Nacht der Gottesfinsternis mit dem Gottesleugner zusammen geht. In der Bibel finden wir eine Geschichte über den Menschen in der Finsternis unter Gott. In der Zeit der Wanderung der Söhne Israels durch die Wüste auf der Suche nach einem Zugang zum Land ihrer Väter wird der Zweifel laut, ob dies eigentlich noch ein Wandern, ein Leben und Kämpfen unter der Führung Gottes sei, oder ob nicht Gott dieses Volk längst verlassen habe. Da steigt Mose ins Gebirge, um sich zu vergewissern, dass der Gott, dem er dient, noch da ist. Er fordert von Gott, ihn seine Herrlichkeit schauen zu lassen, um wieder zu wissen, in wessen Namen er seinem Volk diese Leiden zumutet. Und Gott antwortet ihm:

»Ich will vor deinem Angesicht alle meine Herrlichkeit vorübergehen lassen. Aber mein Angesicht kannst du nicht sehen, denn kein Mensch wird leben, der mich sieht. Es ist ein Ort für dich bei mir, da sollst du auf dem Felsen stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dich decken, bis ich vorüber bin. Und wenn ich meine Hand von dir wegnehme. wirst du mir nachsehen. Aber mein Angesicht kann man nicht schauen« (2. Mose 33).

In eine Kluft will ich dich stellen, sagt Gott, in die kein Licht fällt. Rechts und links, so stellen wir uns die Situation vor, werden die dunklen Steinwände über dich her hängen, als wollten sie dich erdrücken, und zuletzt will ich auch den Spalt noch verdecken, durch den in deine Kluft Licht fällt, so daß du von Finsternis eingeschlossen bist von allen Seiten.

Es sind ja nicht die Steine, die deinem Platz das Licht nehmen, nicht Angst oder Verlassenheit. Was dir das Licht verdeckt, bin ich selbst. Es ist meine Hand, die so dunkel auf dir liegt. Und so, während du wie begraben bist, will ich dir ganz nahe sein. Deine Schwäche — so könnten wir fortfahren, um usere Situation zu treffen — bin ich. Deine Welt, mit der du deinen Glauben nicht vereinen kannst — bin ich. Dein hoffnungsloser Schrei nach Gott — bin ich. Dein Tod — bin ich.

Es ist nicht so willkürlich, wie es manchem scheinen mag, daß wir von jedem Punkt unserer Erfahrung mit Gott aus immer wieder den Blick auf Christus richten. Wer mein Jünger sein will, sagt Christus, der gehe an diesen finsteren Ort unter der Hand Gottes. Der nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Er wird keinen Sonnenstrahl sehen, keinen Himmel und keinen Stern und wird fragen: Warum, mein Gott, hast du mich verlas¬sen? Aber Gott, der ihn in die Felsenkluft stellte, liebt ihn, wie er mich, den Sohn, liebt.

»Wenn Gott seine Hand abzieht«, erkennst du, daß hier Gott war, nicht irgendein dunkles Schicksal, sondern Gott selbst. Und anders als so — »hinterher«! — kann man Gott nicht schauen.

Am Ende, als Gott seine Hand abzog, schreibt der Jünger, der am Karfreitag unter dem Kreuz und vor dem Grab stand:

»Wir sahen seine Herrlichkeit.«
Er sah Gott, als der Lebens- und Todesweg Christi auf dieser Erde an ihm vorübergegangen und Ostern angebrochen war. »Der Vater aber decket mit heiliger Nacht, damit wir bleiben mögen, die Augen zu«, schreibt Hölderlin in deutlicher Anspielung auf die Mosegeschichte. Was ist eine »heilige Nacht«? Was überhaupt ist heilig auf dieser Erde?

Heilig ist nicht die Feier, nicht das Fest, nicht der Lobpreis, sondern das Elend. Heilig ist die Nähe des Gottes, der das Licht ist, in der vollkommenen Finsternis.

Nach Auschwitz Gott loben
»Wie man nach Auschwitz Gott loben soll, der alles so herrlich regieret, das weiß ich nicht«, schreibt Dorothee Sölle. Es ist ihr ernst damit. Man rückt in der Tat Gott nicht dadurch näher, daß man, ohne die Verzweiflung all der Menschen wahr¬zunehmen, die in Jahrtausenden unserer Geschichte unter die Mörder und Henker gefallen sind, vom »lieben Gott« spricht. Man findet den liebenden Gott nicht, indem man die Augen verschließt vor Gaskammern, Buschkriegen und Napalmteppichen. Wer einfachhin, weil er in einer Idylle lebt, das Lied über die Lippen bringt, »der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann«, verhöhnt vielleicht, ohne es zu wollen und zu wissen, alle jene, die keinen Weg finden, auf dem ihr Fuß gehen könnte. Der Dichter dieses Liedes hatte allerdings — immerhin lebte er während des Dreißigjährigen Krieges — durchaus anderes im Auge als eine liebliche Idylle.

Aber — und diese Frage wäre an Dorothee Sölle zu richten — was ist denn nach Auschwitz anders als nach den blutigen Eroberungskriegen der Assyrer vor zweitausendfünfhundert Jahren? Oder nach den Massenkreuzigungen durch die Römer im jüdischen Krieg? Vielleicht nur, daß auch unser Jahrhundert plötzlich vor dem Ernstfall steht, in dem die schönen Phrasen der Neuzeit zu Staub zerfallen? Und was kommt zum Vorschein, wenn es ernst wird? Doch wohl nur das uralte Leiden des Menschen an dem Gott, der verborgen bleibt allem Gerede zum Hohn, und das uralte Leiden des Menschen an seinem eigenen Wesen, das ihn aus dem Grauen seiner eigenen Geschichte so brutal anstarrt? Auschwitz ist keine Neuigkeit. Es liegt uns nur näher. Nach Auschwitz ist Gott nicht anders geworden, wohl aber haben Buchenwald und Treblinka, Dresden und Hiroshima unseren geschwätzigen abendländischen Fortschritts- und Humanitätsoptimismus, jenen einfältigen Glauben an die schönere Zukunft, an die Befreiung des Menschen, an Gleichheit und Brüderlichkeit, an das Gottesreich auf dieser Erde, das die Hand des Menschen schaffen werde, als das enthüllt, was er ist: als Torheit.

Was aber soll nach Auschwitz geschehen? Martin Buber, dessen Volk von Auschwitz am ersten betroffen war, schreibt:
»Wie ist in einer Zeit, in der es Auschwitz gibt, noch ein Leben mit Gott möglich‘? Die Unheimlichkeit ist zu grausam, die Verborgenheit zu tief geworden. >Glauben< kann man an den Gott noch, der zugelassen hat, was geschehen ist, aber kann man noch zu ihm sprechen? Kann man ihn noch anrufen? Wagen wir es, den Überlebenden von Auschwitz. dem Hiob der Gaskammern, zu empfehlen: >Rufet ihn an, denn er ist gütig, denn ewig währet seine Gnade<? Aber wie ist das mit Hiob selber‘? Er klagt nicht nur, er klagt Gott an, daß er ihm >sein Recht beseitigt habe<, daß also der Richter der ganzen Erde wider das Recht handle. Und er empfängt von Gott eine Antwort. Aber was Gott ihm sagt, beantwortet die Anklage gar nicht, es berührt sie gar nicht; die wahre Antwort, die Hiob empfängt, ist die Erscheinung Gottes allein, dies allein, daß die Ferne zur Nähe sich wandelt, daß >sein Auge ihn sieht<, daß er ihn wiedererkennt. Nichts ist geklärt, nichts ist ausgeglichen, das Unrecht ist nicht Recht geworden und die Grausamkeit nicht Milde. Nichts ist geschehen, als daß der Mensch wieder Gottes Anrede vernimmt.«

Das Letzte über Gott
Es liegt keine Willkür darin, daß wir uns immer und im¬mer wieder an Jesus Christus halten. Es ist kein Versuch unter anderen Versuchen, sondern der einzige Weg, aus der Finsternis um Gott zu dem Gott zu gelangen, der das Licht ist. Denn was Jesus am Ende seines Lebens über Gott sagt, ist das Letzte, das angesichts des Rätsels »Gott« überhaupt zu sagen ist. Nur hier gewinnt Gott wirklich ein Gesicht, ein väterliches, nur hier einen Namen, den im Vertrauen anzureden Sinn hat.

Als Jesus Abschied nahm, um in das Dunkel um Gott hineinzugehen, das ihm und seinen Freunden bevorstand, sagte er:
»Euer Herz erschrecke nicht. Glaubet an Gott und glaubet an mich. In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, so wollte ich sagen: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. . . Wo ich hingehe, das wißt ihr, und den Weg wißt ihr auch« (Johannes 14, 1. 4). Als danach Thomas entgegnet:
»Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst! Wie könnten wir den Weg wissen?«, fällt das bekannte Wort: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater denn durch mich.«

Unendlich viele Menschen hörten aus diesem Wort den Anspruch eines Religionsstifters heraus, der alle anderen Wege für Irrwege, alle andere Wahrheit für Irrtum, alles andere Leben für Tod erklärt. Der sogenannte Absolutheitsanspruch des Chri¬stentums hatte seit zweitausend Jahren seinen festen Halt an die¬sem Wort. Aber das Wort redet nicht von anderen Religionen. Es redet zu geschlagenen Menschen angesichts eines dunklen, rätselhaften Gottes und davon, wie sie in dem dunklen Gott das Gesicht des Vaters erkennen.

Thomas meinte, und wir abendländischen Christen meinen es weithin bis heute, es müsse doch einen klaren, logischen Weg zur Wahrheit geben, den wir Menschen suchen und finden können, eine Methode sozusagen, nach der gewiß ist, daß wir am Ende ein sicheres Wissen über Gott besitzen. Wir denken nach. Wir sammeln und vergleichen Erfahrungen. Wir lesen in der Bibel. Wir hören das Wort, das von Jesus überliefert ist. Am Ende muß klar sein, wie die Rätsel des Lebens und das Rätsel um Gott aufzulösen seien. Ein Weg — damit meinen wir: Wir verlassen die Zone der Rätsel und wandern, vielleicht lange, vielleicht bis ans Ende unserer Kraft, doch schließlich in die Zone der Erkenntnis, der Wahrheit hinein.

Und eben dies ist, sagt Jesus, ein Irrtum. So viel leistet die Klugheit, das Nachdenken, so viel leisten Verstand und Vernunft gerade nicht. Nicht der Weg führt euch zur Wahrheit, den ihr aus dem Dickicht eurer Gedanken, Fragen und Erfahrungen heraus sucht, sondern der Weg, den Gott euch führt. Er führt euch über den Weg, den ich ging. Ihr erkennt Gott nicht, indem ihr über ihn nachdenkt, sondern indem ihr meinen Weg geht. Ihr werdet mit mir zusammen und an meinem Weg Gott erfahren und zum Glauben finden. Ich bin der Weg.

Wenn aber das gilt. dann ist Wahrheit nicht die Frucht des Prüfens und Forschens. sondern ein Widerfahrnis. das den Einfältigen, den Nichtwissenden, wie Jesus sagt, leichter zufällt als den Weisen und Klugen. Es gibt keine Wahrheit über Gott, die man in ein Buch schreiben und für alle Zeiten aufbewahren könnte, denn Wahrheit bedeutet nicht, daß wir Gott kennen. sondern daß Gott uns kennt, daß das helle Licht des Wissens Gottes uns begegnet und daß wir uns diesem wissenden Gott anvertrauen. Wahrheit ist die Spiegelung des Lichtes Gottes auf dem Gesicht eines Menschen, der vertrauend in das Dunkel hineingeht. »Ich bin die Wahrheit«, sagt Christus.

Und »Glauben« heißt nicht so sehr die Wahrheit wissen, als vielmehr »aus der Wahrheit sein«. Wahrheit ist dort am Werk. wo es einem Menschen geschenkt wird, sich trotz allem dem Gott, der sich in Jesus Christus spiegelt, anzuvertrauen. Wahrheit erfassen heißt den Glauben Jesu Christi einüben.

Verlassen wir uns auf Jesus Christus, dann umgibt uns die Wahrheit, mit der wir leben und sterben, sterben und leben können. Wir begegnen dem, aus dem wir sind und in den hinein wir leben. Leben ist ja wiederum nicht, was wir uns heute darunter vorstellen, es ist ja nicht die Spanne Zeit, die wir auf dieser Erde zubringen, auch nicht so sehr die Ewigkeit, die folgt. Das Leben ist eines, hier und drüben, jetzt und danach. Es ist Leben, wenn es in Gott ist. Es ist Tod, wenn es außer ihm bleibt. Leben heißt nicht, eine Zeitlang unabhängig von Gott seinen Weg suchen und sein Schicksal erfüllen. Leben heißt vielmehr: in Gott sein, wie Christus in Gott war und ist. »Ich bin das Leben«, sagt er.

Jahrzehnte nach dem Tod des Meisters faßt Johannes zusammen, was Jesus über den Weg, die Wahrheit und das Leben gesagt hatte, indem er schreibt: »Ihr Lieben, wir sind nun Gottes Kinder, und es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist« (1. Johannes 3,2).

Wir werden Gott schauen, und das bedeutet, daß wir ihm gleich sein werden. Das Schauen Gottes bewirkt die Verwandlung des Schauenden. Glaube, das ist die Hoffnung auf die Verwandlung des Menschen in das Gegenüber zum offenbaren Gott. Das ist das Äußerste, das über Gott zu sagen ist.

Wir wissen, daß Glaube nicht machbar ist. Wenn er gelingt, so geschieht es gnadenhaft. Der Weg aber, den der Glaube geführt wird, ist ein Weg der Verwandlung. Und auch Verwandlung geschieht einzig, wo sie gnadenhaft widerfährt. Wir erkennen Gott im Gesicht Jesu. Wir erkennen uns selbst in Christus. In ihm erkennen wir erstmals uns selbst und Gott zugleich. Das Rätsel, das uns Gott ist, und das Rätsel, das wir uns selbst sind, lösen sich miteinander. Erkenntnis Gottes geschieht, wo sich ein Mensch den Weg führen läßt, auf dem Gott ihn verwandeln will.

Das ist die eigentliche Auskunft, die Jesus über Gott gibt, das Äußerste, das uns begreiflich ist, jenseits von Golgatha und jenseits von Auschwitz. Es ist eine Erkenntnis, die uns selbst einbezieht. Was danach über Gott zu sagen ist, das wird ein Reden nicht mehr über ihn sein, sondern ein Reden, das sich an ihn selbst richtet, durch alle Mühen und Dunkelheiten hindurch an den Vater, von dem Jesus spricht. S.146-165
Aus: Jörg Zink, Erfahrung mit Gott. Einübung in den christlichen Glauben.
© Kreuz Verlag, Stuttgart 1974
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung des Kreuz Verlages