Der
Unmensch
Mit dürren Worten zu sagen, was ein Unmensch sei, hält nicht eben
schwer: es ist ein Mensch, welcher dem Begriffe
Mensch nicht entspricht, wie das Unmenschliche ein Menschliches ist, welches
dem Begriffe des Menschlichen nicht angemessen
ist. Die Logik nennt dies ein »widersinniges Urteil«.
Dürfte man wohl dies Urteil, daß einer Mensch sein könne, ohne
Mensch zu sein, aussprechen, wenn man nicht die Hypothese gelten ließe,
daß der Begriff des Menschen von der Existenz, das Wesen von der Erscheinung
getrennt sein könne? Man sagt: der erscheint
zwar als Mensch, ist aber kein Mensch.
Dies «widersinnige Urteil« haben die Menschen eine lange Reihe von
Jahrhunderten hindurch gefällt! Ja, was noch mehr ist, in dieser langen
Zeit gab es nur — Unmenschen. Welcher
Einzelne hätte seinem Begriffe entsprochen? Das Christentum kennt nur einen
Menschen, und dieser eine - Christus - ist sogleich wieder im umgekehrten Sinne
ein Unmensch, nämlich ein übermenschlicher Mensch, ein »Gott«.
Wirklicher Mensch ist nur der - Unmensch.
Menschen, die keine Menschen sind, was wären sie anders als Gespenster?
Jeder wirkliche Mensch ist, weil er dem Begriffe »Mensch« nicht
entspricht, oder weil er nicht »Gattungsmensch« ist, ein Spuk. Aber
bleibe Ich auch dann noch ein Unmensch, wenn Ich den Menschen, der nur als mein
Ideal, meine Aufgabe, mein Wesen oder Begriff über Mich hinausragte und
Mir jenseitig blieb, zu meiner Mir eigenen und inhärenten Eigenschaft
herabsetze, so daß der Mensch nichts anderes ist, als meine Menschlichkeit,
mein Menschsein, und alles, was Ich tue, gerade darum menschlich ist, weil
Ich‘s tue, nicht aber darum, weil es
dem Begriffe «Mensch« entspricht?
ich bin wirklich der Mensch und Unmensch in Einem; denn Ich bin Mensch und bin
zugleich mehr als Mensch, d. h. Ich bin das Ich dieser meiner bloßen Eigenschaft.
Es mußte endlich dahin kommen, daß man Uns nicht mehr bloß
zumutete, Christen zu sein, sondern Menschen zu werden; denn obwohl Wir auch
Christen niemals wirklich werden konnten, sondern immer «arme Sünder«
blieben (der Christ war ja eben auch ein unerreichbares Ideal), so kam dabei
doch die Widersinnigkeit nicht so zum Bewußtsein und die Täuschung
war leichter, als jetzt, wo an Uns, die Wir Menschen sind und menschlich handeln,
ja gar nicht anders können, als dies zu sein und so zu handeln, die Forderung
gestellt wird: Wir sollen Menschen sein, «wirkliche Menschen«. S.194-195
[...]
Mein
Selbstgenuss
Wir stehen an der Grenzscheide einer Periode. Die bisherige Welt sann auf nichts
als auf Gewinn des Lebens, sorgte fürs — Leben.
Denn ob alle Tätigkeit für das diesseitige oder für das
jenseitige, für das zeitliche oder für das ewige Leben in Spannung
gesetzt wird, ob man nach dem »täglichen Brote« lechzt («Gib
Uns unser täglich Brot«) oder nach dem »heiligen Brote«
(»das rechte Brot vom Himmel»; «das Brot Gottes, das vom Himmel
kommt und der Welt das Leben gibt;« »das Brot des Lebens.«
Joh. 6.), ob man ums »liebe Leben« sorgt oder um das
»Leben in Ewigkeit«: das ändert den Zweck der Spannung
und Sorge nicht, der im einen wie im andern Falle sich als das
Leben ausweist. Kündigen sich die modernen Tendenzen anders
an? Man will, daß Niemand mehr um die nötigsten Lebensbedürfnisse
in Verlegenheit komme, sondern sich darin gesichert finde, und anderseits lehrt
man, daß der Mensch sich ums Diesseits zu bekümmern und in die wirkliche
Welt einzuleben habe, ohne eitle Sorge um ein Jenseits.
Fassen Wir dieselbe Sache von einer andern Seite auf. Wer nur besorgt ist, daß
er lebe, vergißt über diese Ängstlichkeit leicht den Genuß
des Lebens. Ist‘s ihm nur ums Leben zu tun und denkt er, wenn Ich nur
das liebe Leben habe, so verwendet er nicht seine volle Kraft darauf, das Leben
zu nutzen, d. h. zu genießen. Wie aber nutzt man das Leben? Indem man‘s
verbraucht, gleich dem Lichte, das man nutzt, indem man’s verbrennt. Man
nutzt das Leben und mithin den Lebendigen, indem man es und sich
verzehre. Lebensgenuß ist Verbrauch des Lebens.
Nun — den Genuß des Lebens
suchen Wir auf! Und was tat religiöse Welt? Sie suchte das
Leben auf. »Worin besteht das wahre
Leben, das selige Leben usw.? Wie ist es zu erreichen? Was muß der Mensch
tun und werden, um ein wahrhaft Lebendiger zu sein? Wie erfüllt er diesen
Beruf?« Diese und ähnliche Fragen deuten darauf hin, daß
die Fragenden erst sich suchten, sich nämlich im wahren Sinne,
im Sinne der wahrhaftigen Lebendigkeit. »Was Ich
bin, ist Schaum und Schatten; was Ich sein werde, ist mein wahres Ich.«
Diesem Ich nachzujagen, es herzustellen, es zu realisieren, macht die schwere
Aufgabe der Sterblichen aus, die nur sterben, um aufzuerstehen,
nur leben, um zu sterben, nur leben, um das wahre Leben zu finden.
Erst dann, wenn ich meiner gewiß bin und mich nicht mehr
suche, bin ich wahrhaft mein Eigentum: Ich habe mich, darum brauche und genieße
ich mich. Dagegen kann ich meiner nimmermehr froh werden, solange ich denke,
mein wahres Ich hätte ich erst noch zu finden, und es müsse dahin
kommen, daß nicht ich, sondern Christus in mir lebe oder irgend ein anderes
geistiges, d.h. gespenstisches Ich, z.B. der wahre Mensch, das Wesen des Menschen
u. dergl. S.358-359 [...]
Die konservative Tendenz des Christentums erlaubt nicht anders an den
Tod zu denken, als mit der Absicht, ihm seinen Stachel zu nehmen
und - hübsch fortzuleben und sich zu erhalten. Alles läßt der
Christ geschehen und über sich ergehen, wenn er - der Erzjude - sich nur
in den Himmel hineinschachern und schmuggeln kann; sich selbst töten darf
er nicht, er darf sich nur - erhalten, und an der »Bereitung einer zukünftigen
Stätte« arbeiten. Konservatismus oder »Überwindung
des Todes« liegt ihm am Herzen: »Der letzte Feind, der aufgehoben
wird, ist der Tod« (1. Kor. 15, 26.) »Christus hat dem Tode die
Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches
Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium« (2. Tim. 1, 10.).
»Unvergänglichkeit«, Stabilität.
S.361
Aus: Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum
Mit einem Nachwort herausgegeben von Ahlrich Meyer
Reclams Universalbibliothek Nr. 3057 (S. 44, 194-195, 358-359, 361)
© 1972 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam
Verlags