Rudolf Steiner (1861 – 1925)

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Die Christus-Interpretation in der anthroposophischen »Geheimwissenschaft«
Die drei Wege zum Christus

Die Christus-Interpretation in der anthroposophischen »Geheimwissenschaft«

Zur Erkenntnis dessen, was früher durch «Christus» sich offenbarte, konnten nur solche Menschen gelangen, die in angedeutetem Sinne zu den Sonnenmenschen gehörten. Sie pflegten ihr geheimnisvolles Wissen und die Verrichtungen, welche dazu führten, an einer besonderen Stätte, welche hier das Christus- oder Sonnenorakel genannt werden soll. (Oraculum im Sinne eines Ortes, wo die Absichten geistiger Wesen vernommen werden.) Das hier in bezug auf den Christus Gesagte wird nur dann nicht mißverstanden werden, wenn man bedenkt, daß die übersinnliche Erkenntnis in dem Erscheinen des Christus auf der Erde ein Ereignis sehen muß, auf das als ein in der Zukunft Bevorstehendes diejenigen hingewiesen haben, welche vor diesem Ereignis mit dem Sinn der Erdenentwickelung bekannt waren. Man ginge fehl, wenn man bei diesen «Eingeweihten» ein Verhältnis zu dem Christus voraussetzen würde, das erst durch dieses Ereignis möglich geworden ist. Aber das konnten sie prophetisch begreifen und ihren Schülern begreiflich machen: «Wer von der Macht des Sonnenwesens berührt ist, der sieht den Christus an die Erde herankommen.»

Andere Orakel wurden ins Leben gerufen von den Angehörigen der Saturn-, Mars- und Jupitermenschheit. Deren Eingeweihte führten ihr Anschauen nur bis zu den Wesenheiten, welche als entsprechende «höhere Iche» in ihren Lebensleibern enthüllt werden konnten. So entstanden Bekenner der Saturn, der Jupiter-, der Marsweisheit. Außer diesen Einweihungsmethoden gab es solche für Menschen, welche vom luziferischen Wesen zu viel in sich aufgenommen hatten, um einen so großen Teil des Lebensleibes vom physischen Leibe getrennt sein zu lassen wie die Sonnenmenschen. Bei diesen hielt der astralische Leib eben mehr vom Lebensleib im physischen Leibe zurück als bei den Sonnenmenschen. Sie konnten auch nicht durch die genannten Zustände bis zur prophetischen Christus-Offenbarung gebracht werden. Sie mußten wegen ihres mehr vom luziferischen Prinzip beeinflußten Astralleibes schwierigere Vorbereitungen durchmachen, und dann konnten sie in einem weniger leibfreien Zustand als die andern zwar nicht die Offenbarung des Christus selbst enthüllt erhalten, aber die anderer hoher Wesen. S.195 [...]

Was aber von den Mysterien nur prophezeit werden konnte, das war, daß in der Zeiten Lauf ein Mensch erscheinen werde mit einem solchen Astralleib, daß in diesem trotz Luzifer die Lichtwelt des Sonnengeistes durch den Lebensleib ohne besondere Seelenzustände werde bewußt werden können. Und der physische Leib dieses Menschenwesens mußte so sein, daß für dasselbe offenbar würde alles dasjenige aus der geistigen Welt, was bis zum physischen Tode hin von Ahriman verhüllt werden kann. Der physische Tod kann für dieses Menschenwesen nichts innerhalb des Lebens ändern, das heißt keine Gewalt über dasselbe haben. In einem solchen Menschenwesen kommt das «Ich» so zur Erscheinung, daß im physischen Leben zugleich das volle geistige enthalten ist. Ein solches Wesen ist Träger des Lichtgeistes, zu dem sich der Eingeweihte von zwei Seiten aus erhebt, indem er entweder zu dem Geist des Übermenschlichen oder zu dem Wesen der Naturmächte in besonderen Seelenzuständen geführt wird. Indem die Eingeweihten der Mysterien voraussagten, daß ein solches Menschenwesen im Laufe der Zeit erscheinen werde, waren sie die Propheten des Christus.

Als der besondere Prophet in diesem Sinne erstand eine Persönlichkeit inmitten eines Volkes, welches durch natürliche Vererbung die Eigenschaften der vorderasiatischen Völker und durch Erziehung die Lehren der Ägypter in sich hatte, des israelitischen Volkes. Es war Moses. In seine Seele war so viel von den Einflüssen der Einweihung gekommen, daß dieser Seele in besonderen Zuständen das Wesen sich offenbarte, das einstmals in der regelmäßigen Erdenentwickelung die Rolle übernommen hatte, vom Monde aus das menschliche Bewußtsein zu gestalten. In Blitz und Donner erkannte Moses nicht bloß die physischen Erscheinungen, sondern die Offenbarungen des gekennzeichneten Geistes. Aber zugleich habe auf seine Seele gewirkt die andere Art von Mysterien-Geheimnissen, und so vernahm er in den astralischen Schauungen das Übermenschliche, wie es zum Menschlichen durch das «Ich» wird. So enthüllte sich Moses derjenige, welcher kommen mußte, von zwei Seiten her als die höchste Form des «Ich».

Und mit «Christus» erschien in menschlicher Gestalt, was das hohe Sonnenwesen als das große menschliche Erdenvorbild vorbereitet hatte. Mit dieser Erscheinung mußte alle Mysterien-Weisheit in gewisser Beziehung eine neue Form annehmen. Vorher war diese ausschließlich dazu da, den Menschen dazu zu bringen, sich in einen solchen Seelenzustand zu versetzen, daß er das Reich des Sonnengeistes außer der irdischen Entwickelung schauen konnte. Nunmehr bekamen die Mysterien-Weistümer die Aufgabe, den Menschen fähig zu machen, den menschgewordenen Christus zu erkennen und von diesem Mittelpunkte aller Weisheit aus die natürliche und die geistige Welt zu verstehen.

In jenem Augenblicke seines Lebens, in welchem der Astralleib des Christus Jesus alles das in sich hatte, was durch den luziferischen Einschlag verhüllt werden kann, begann sein Auftreten als Lehrer der Menschheit. Von diesem Augenblicke an war in die menschliche Erdenentwickelung die Anlage eingepflanzt, die Weisheit aufzunehmen, durch welche nach und nach das physische Erdenziel erreicht werden kann. In jenem Augenblicke, da sich das Ereignis von Golgatha vollzog, war die andere Anlage in die Menschheit eingeimpft, wodurch der Einfluß Ahrimans zum Guten gewendet werden kann. Aus dem Leben heraus kann nunmehr der Mensch durch das Tor des Todes hindurch das mitnehmen, was ihn befreit von der Vereinsamung in der geistigen Welt. Nicht nur für die physische Menschheitsentwickelung steht das Ereignis von Palästina im Mittelpunkte, sondern auch für die übrigen Welten, denen der Mensch angehört. Und als sich das «Mysterium von Golgatha» vollzogen hatte, als der «Tod des Kreuzes» erlitten war, da erschien der Christus in jener Welt, in welcher die Seelen nach dem Tode weilen, und wies die Macht Ahrimans in ihre Schranken. Von diesem Augenblicke an war das Gebiet, das von den Griechen ein «Schattenreich» genannt worden war, von jenem Geistesblitz durchzuckt, der seinen Wesen zeigte, daß wieder Licht in dasselbe kommen sollte. Was durch das «Mysterium von Golgatha» für die physische Welt erlangt war, das warf sein Licht hinein in die geistige Welt. — So war die nachatlantische Menschheitsentwickelung bis zu diesem Ereignis hin ein Aufstieg für die physisch-sinnliche Welt. Aber sie war auch ein Niedergang für die geistige. Alles, was in die sinnliche Welt floß, das entströmte dem, was in der geistigen seit uralten Zeiten schon war. Seit dem Christusereignis können die Menschen, welche sich zu dem Christus-Geheimnis erheben, aus der sinnlichen Welt in die geistige das Errungene hinübernehmen. Und aus dieser fließt es dann wieder in die irdisch-sinnliche zurück, indem die Menschen bei ihrer Wiederverkörperung dasjenige mitbringen, was ihnen der Christus-Impuls in der geistigen Welt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt geworden ist.

Was durch die Christus-Erscheinung der Menschheitsentwickelung zugeflossen ist, wirkte wie ein Same in derselben. Der Same kann nur allmählich reifen. Nur der allergeringste Teil der Tiefen der neuen Weistümer ist bis auf die Gegenwart herein in das physische Dasein eingeflossen. Dieses steht erst im Anfange der christlichen Entwickelung. Diese konnte in den aufeinanderfolgenden Zeiträumen, die seit jener Erscheinung verflossen sind, nur immer so viel von ihrem inneren Wesen enthüllen, als die Menschen, die Völker fähig waren, zu empfangen, als diese in ihr Vorstellungsvermögen aufnehmen konnten. Die erste Form, in welche sich dieses Erkennen gießen konnte, läßt sich als ein umfassendes Lebensideal aussprechen. Als solches stellte es sich entgegen dem, was in der nachatlantischen Menschheit sich als Lebensformen herausgebildet hatte. Es sind oben die Verhältnisse geschildert worden, welche in der Entwickelung der Menschheit seit der Wiederbevölkerung der Erde in der lemurischen Zeit gewirkt haben. Die Menschen sind demgemäß seelisch auf verschiedene Wesenheiten zurückzuführen, welche aus anderen Welten kommend in den Leibesnachkommen der alten Lemurier sich verkörperten. Die verschiedenen Menschenrassen sind eine Folge dieser Tatsache. Und in den wiederverkörperten Seelen traten, infolge ihres Karmas, die verschiedensten Lebensinteressen auf. Solange alles das nachwirkte, konnte es nicht das Ideal der «allgemeinen Menschlichkeit» geben. Die Menschheit ist von einer Einheit ausgegangen; aber die bisherige Erdenentwickelung hat zur Sonderung geführt. In der Christus-Vorstellung ist zunächst ein Ideal gegeben, das aller Sonderung entgegenwirkt, denn in dem Menschen, der den Christus-Namen trägt, leben auch die Kräfte des hohen Sonnenwesens, in denen jedes menschliche Ich seinen Urgrund findet. Noch das israelitische Volk fühlte sich als Volk, der Mensch als Glied dieses Volkes. Indem zunächst in dem bloßen Gedanken erfaßt wurde, daß in Christus Jesus der Idealmensch lebt, zu dem die Bedingungen der Sonderung nicht dringen, wurde das Christentum das Ideal der umfassenden Brüderlichkeit. Über alle Sonderinteressen und Sonderverwandtschaften hinweg trat das Gefühl auf, daß des Menschen innerstes Ich bei jedem den gleichen Ursprung hat. (Neben allen Erdenvorfahren tritt der gemeinsame Vater aller Menschen auf. «Ich und der Vater sind Eins.»)
S.216-219
Aus: Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriß
Rudolf Steiner Verlag Dornach / Schweiz

Die drei Wege zum Christus
Mein Ausgangspunkt soll sein, hinzuweisen auf die drei Wege, auf denen nach dem Gange der Menschheitsentwicklung die Seele zum Christus gelangen kann. Wenn man von den drei Wegen spricht, muss man auch kurz hinweisen auf den ersten Weg, der heute kein Weg mehr ist, es aber war; der heute kein exoterischer Weg sein muss, so wie gerade in unserer Zeit der anthroposophische Weg es ist, der aber ein Weg war für Millionen von Seelen durch die Jahrhunderte hindurch.

Dieser erste Weg ist der durch die sogenannten christlichen Urkunden, durch die Evangelien. Dieser Weg war für Millionen und aber Millionen von Menschen und ist noch heute für unzählige Menschen der einzig mögliche.

Der zweite Weg, auf dem die Menschenseele den Christus suchen kann, ist der, den man den Weg durch innere Erfahrung nennen kann, den vorzugsweise zahlreiche Seelen in der Gegenwart und in der nächsten Zukunft aus ihrer besonderen Beschaffenheit und ihren besonderen Eigenschaften heraus gehen müssen.

Der dritte Weg ist der, welcher wenigstens begonnen werden kann verstanden zu werden in unserer Zeit von der anthroposophischen Bewegung aus, der Weg durch die Initiation. —

So gibt es also drei Wege zum Christus: erstens den Weg durch die Evangelien, zweitens den Weg durch die innere Erfahrung und drittens den Weg durch die Initiation.

Aus: Rudolf Steiner, Christologie, Anthroposophie ein Weg zum Christusverständnis (S.52-54)
Vorträge, ausgewählt und herausgegeben von Heten Wilkens
Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart