Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768)

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Die Lehre Jesu

Wie nun Jesus anfing zu lehren, so nahm er sich zwar hauptsächlich vor, den Tand und Missbrauch der Pharisäer zu bestrafen und zu reformieren, und eine bessere Gerechtigkeit, als jener ihre war, zu predigen; wie denn einem jeden aus der Lesung des Neuen Testaments bekannt sein kann, daß ein großer Teil der Reden Jesu wider die verkehrte Scheinheiligkeit der Pharisäer und Schriftgelehrten in äußerlichen Zeremonien gerichtet ist; nichtsdestoweniger gab er ihnen in dem andern Punkte von der Unsterblichkeit und Seligkeit recht, und verteidigte die Meinung nicht allein wider die Sadduzäer, sondern schärfte sie auch dem Volke fleißig ein; er führet Abraham und Lazarum in seinen Gleichnissen ein als in dem Reiche der Herrlichkeit in vieler Freude lebend; er heißet die Leute sich nicht fürchten für die, so den Leib töten, die Seele aber nicht zu töten vermögend sind, sondern für Gott, der Leib und Seele in die Hölle stürzen kann ...

Gleichwie demnach kein Zweifel sein kann, daß Jesus in seiner Lehre die Menschen auf den rechten großen Zweck einer Religion, nämlich eine ewige Seligkeit, verwiesen: so bleibt uns nur die Frage übrig, was Jesus selbst für sich in seiner Lehre und Handlungen für einen Zweck gehabt habe? Jesus hat selbst nichts schriftlich hinterlassen, sondern alles, was wir von seiner Lehre und Handlungen wissen, ist in den Schriften seiner Jünger enthalten. Was nun seine Lehre besonders betrifft, so haben zwar unter seinen Jüngern nicht allein die Evangelisten, sondern auch die Apostel ihres Meisters Lehre vorzutragen unternommen: allein ich finde große Ursache, dasjenige, was die Apostel in ihren eignen Schriften vorbringen, von dem, was Jesus in seinem Leben würklich selbst ausgesprochen und gelehret hat, gänzlich abzusondern. ...

So ist denn die Absicht der Predigten und Lehren Jesu auf ein rechtschaffenes tätiges Wesen, auf eine Änderung des Sinnes, auf ungeheuchelte Liebe Gottes und des Nächsten, auf Demut, Sanftmut, Verleugnung sein selbst und Unterdrückung aller bösen Lust gerichtet. Es sind keine hohe Geheimnisse oder Glaubenspunkte, die er erkläret, beweiset, und prediget: es sind lauter moralische Lehren und Lebenspflichten, die den Menschen innerlich und von ganzem Herzen bessern sollen, wobei er das gemeine Erkenntnis von der Seele des Menschen, von Gott und seinen Vollkommenheiten, von der Seligkeit nach diesem Leben u.s.w. schlechterdings als bekannt voraussetzet; nicht aber aufs neue erklärt, viel weniger auf eine gelehrte und weitläufige Art vorträgt. Wie er nun für seine Person das Gesetz nicht aufheben, sondern erfüllen wollte: so zeigt er auch andern, daß das ganze Gesetz und die Propheten an diesen zweien Geboten hangen: Gott von ganzem Herzen, und seinen Nächsten als sich selbst zu lieben ...

Ich kann nicht umhin, einen gemeinen Irrtum der Christen zu entdecken, welche aus der Vermischung der Lehre der Apostel mit der Lehre Jesu, sich einbilden, daß Jesu Absicht in seinem Lehramte gewesen, gewisse zum Teil neue und unbekannte Glaubensarticul und Geheimnisse zu offenbaren, und also ein neues Lehrgebäude der Religion aufzurichten, dagegen aber die jüdische Religion nach ihren besonderen Gebräuchen, als Opfern, Beschneidung, Reinigung, Sabbaten und andern levitischen Zeremonien, abzuschaffen....

Er trieb nichts als lauter sittliche Pflichten, wahre Liebe Gottes und des Nächsten: darin setzet er den ganzen Inhalt des Gesetzes und der Propheten: und darauf heißet er die Hoffnung zu seinem Himmelreich und zur Seligkeit bauen. ... Was er sonst von der Seelen Unsterblichkeit und Seligkeit, von der Auferstehung des Leibes zum Gerichte, von dem Himmelreich und von dem Christ oder Messias, der in Mose und den Propheten verheißen wäre, vorbringet, das war alles sowohl den Juden bekannt, und der damaligen jüdischen Religion gemäß, als es insonderheit dahin zielte, daß er als der Messias ein solches Himmelreich unter den Juden aufrichten, und also den glückseligen Zustand in der Religion sowohl als im äußerlichen, wozu ihnen vorlängst Hoffnung gemacht wäre, unter ihnen einführen wollte. ...

Und doch finden wir in den Reden Jesu nicht einmal, daß er diesen einen Hauptarticul von dem verheißenen Messia und dessen Reiche erkläret, oder beweiset, sondern er setzet bloß das gemeine Erkenntnis der Juden aus den Verheißungen der Propheten nach damaliger Auslegung voraus. Daher sagt Jesus so wenig als Johannes, wer oder was Christus, d. i. der Messias, oder das Reich Gottes, und das Himmelreich, oder das Evangelium sei ... Jesus sendet seine Jünger eben das Evangelium zu predigen, sagt aber nichts dabei, worin das Himmelreich bestehen sollte, worin die Verheißung ihren Grund hätte, worauf das Reich abzielte: er beziehet sich also bloß auf die gemeine Meinung und Hoffnung davon.


Erstlich nennet sich Jesus den Sohn Gottes, und lässet sich von andern, insbesondere von seinen Jüngern, so nennen. Was das bedeute, müssen wir nicht aus unserer angenommenen Katechismus-Meinung, sondern aus den Stellen des Alten Testaments und der Evangelisten ausmachen..., damit man erkenne, daß die Hebräer einen ganz andern Begriff mit diesem Worte verknüpft haben, und dass es nichts weiter heiße als der Geliebte Gottes (Jedidjah). Gott erkläret nach der Sprache der Schrift diejenigen für seine Söhne, die er liebt: so wie wir auch heutiges Tages noch aus Liebe zu einem jüngern und geringem sagen, mein Sohn....

Wir haben gleich anfangs im Neuen Testamente einen Engel, der der Maria verkündiget, dass der Heilige, so von ihr geboren würde, Gottes Sohn genennet werden sollte: und hernach bei der Taufe Jesu und bei seiner Verklärung auf dem Berge eine Stimme vom Himmel, die da sagt:
Dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Es wird also nach der göttlichen Stimme Jesus ein Sohn Gottes genannt, weil er ihn liebte und Wohlgefallen an ihm hatte ...

... ich habe daraus erkannt, daß, wenn Jesus sich Gottes Sohn nennet, er nichts anders damit andeuten wolle, als daß er der ausnehmend von Gott geliebte Christ oder Messias sei: folglich auch hierdurch keine bei den Juden neue Lehre oder neues Geheimnis aufgebracht habe.

Eben die angeführten Regeln werden uns nötig sein zu verstehen, was die Hebräer für einen Begriff gehabt, wenn sie von dem heiligen Geiste reden. Denn die Hebräer spielen überhaupt mit dem Worte Geist. Es bedeutet bei ihnen

1) die Seele selbst,
2) die Gaben und Geschicklichkeit des Gemüts, und
3) den Zustand und die Bewegungen desselben....


Denn aller Zustand und alle Leidenschaft des Gemüts ist Geist bei den Hebräern, ein Geist des Zorns, ein freudiger Geist, ein geängsteter Geist, ein geduldiger Geist ... sind lauter verschiedene Gemüts-Beschaffenheiten, Bewegungen, Tugenden und Laster, die ein jeder durch diesen Schlüssel leicht selbst erklären kann.

Ebenso ist es mit der Bedeutung des
heiligen Geistes beschaffen. Es bedeutet

1) Gott selbst. Denn wie sonst der Name Gottes, das Angesicht Gottes, die Seele Gottes Gott selbst bedeutet, so ist auch Gottes Geist und Gott einerlei. ...
2) Werden durch dies Wort angezeigt die heiligen Gaben des Gemüts bei den Menschen, sofern sie von Gott kommen ...
3) Soll es die gute Beschaffenheit des Gemüts und heiligen Regungen desselben vorstellen; als in dem bekannten Buß-Psalm, da David nach Bereuung seiner Sünde bittet, um Erneuerung eines festen Geistes ...


Im Neuen Testamente ist die Erwähnung des heiligen Geistes häufig, jedoch in eben dem dreifachen Verstand.

1. bedeutet es Gott selbst, als wenn es vom Ananias heißet, er habe dem heiligen Geist gelogen, welches hernach erkläret wird, er habe Gott gelogen.
2. Am öftersten sind darunter die ordentlichen sowohl als außerordentlichen Gaben zu verstehen. So sollte Johannes noch im Mutterleibe erfüllet werden mit dem heiligen Geist, das ist, mit besondern Gaben. ...
3. sind durch den heiligen Geist die heiligen Regungen und Triebe zu verstehen.


So ward Elisabeth und Zacharias des heiligen Geistes voll, das ist, sie empfunden einen heiligen Trieb, Gott zu loben. So ist die Lästerung wider den heiligen Geist vermutlich zu verstehen als eine Lästerung wider den innern Trieb des Gewissens.

Aus: [Hermann Samuel Reimarus:] [Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger.] In: Ebd. Bd. 13. Leipzig: Göschen, 1897. S.221—223, 226 f., 229—232, 238—240 (1, §§2f., 6f., 9—11, 13—15).
Text auch enthalten in: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von Raffaele Ciafardone
Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667 (S.250-254)
© 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages