Jules Henri Poincaré (1854 - 1912)

 

Französischer Mathematiker und Physiker, der die Theorie der automorphen Funktionen und die Homologietheorie begründete und das Dreikörperproblem untersuchte. Besonders nachgewirkt haben seine Bücher über die Grundlagen der Wissenschaft.

Siehe auch Wikipedia

Moral und Wissenschaft
Ist nun die auf der Religion gegründete Sittlichkeit glücklicher als die auf der Wissenschaft und Metaphysik beruhende? Gehorche, weil Gott es befiehlt und weil es der Herr ist, der jeden Widerstand hinwegzufegen vermag! Ist das nun ein Beweis? Wird man dem nicht entgegenhalten können, dass es erhaben ist, gegen die Allmacht anzukämpfen, und dass im Kampf zwischen Jupiter und Prometheus der gepeinigte Prometheus der wahre Sieger ist? Und so handelt es sich eigentlich nicht um ein Gehorchen, sondern um ein Zurückweichen vor der Gewalt; den Gehorsam der Herzen aber kann man nicht erzwingen. S.253 [...]

Man kann nicht beweisen, dass man verpflichtet ist, der Gottheit zu gehorchen, selbst wenn es gelänge, den Beweis zu erbringen, dass diese Gottheit allmächtig ist und uns vernichten kann. Selbst dann könnte man es nicht, wenn man uns nachgewiesen hätte, dass diese Gottheit gütig ist und dass wir ihr zu Dankbarkeit verpflichtet sind. Es gibt ja Leute, welche das Recht auf Undankbarkeit für das wertvollste der Menschenrechte halten. Wenn wir aber diese Gottheit lieben, dann ist jeder Beweis überflüssig, dann erscheint uns der Gehorsam vollkommen natürlich, und das ist der Grund, weshalb die Religionen Macht über die Geister besitzen, während dies bei der Metaphysik nicht der Fall ist. S.254 [...]

Aber ist denn die Gottheit des Forschers weniger groß, weil sie sich weiter und weiter von uns entfernt? Es ist richtig, diese Gottheit ist unbeweglich, und viele Gemüter wird dies schmerzlich berühren. Aber wenigstens nimmt unsere Gottheit nicht Partei in unseren Kleinigkeiten und unseren armseligen Gehässigkeiten, wie es so häufig der Gott der Theologen tut. Die Vorstellung eines Gesetzes, das stärker ist als wir, dem man sich nicht entgegensetzen kann, sondern dem man sich fügen muss um jeden Preis, kann ebenfalls etwas Heilsames in sich schließen, man kann es wenigstens ertragen.
Aus: Französische Geisteswelt (S.253, 254, 256-257)
Herausgegeben von Joachim Schondorff mit einem Geleitwort von Hermann Noack
Verlag Werner Dausien