Poimandres
(?)
Ägyptisches Mythen-Wesen.
Poimandres
heißt der »Hirte«.
Und als solcher hat er eine Herde, eine Gemeinde, deren Heilsbote er war. Der
nachfolgende Text ist eine der Schriften dieser Gemeinde, die nach dem Urteil
R. Reitzensteins nicht vor dem zweiten Jahrhundert
v. Chr., aber auch nicht nach dem zweiten Jahrhundert n. Chr., am wahrscheinlichsten
aber etwa zur Zeit Christi, auf ägyptischem Boden entstanden ist. Ihr Gedankengang
ist älter, aber nahe verwandt mit dem anderer Gemeinden, die statt des
Hirten Poimandres den Hirtengott
Hermes zum Mittler und Logos der obersten Gottheit machten, und von denen
uns umfangreiche, aber weit jüngere Schriften in demselben, dem dreimal
größten Hermes als Verfasser zugeschriebenen Korpus erhalten
sind.
Die Offenbarungen
des Poimandres
Als ich einst über das Wesen der Dinge nachdachte und meine Vorstellungskraft
mächtig in die Höhe gehoben wurde, da meine körperlichen
Wahrnehmungen ähnlich wie bei denen, die in Folge der Sättigung mit
Nahrung oder der Ermüdung des Körpers in Schlaf befangen sind, in
Banden lagen, schien es mir, als ob ein Riese,
der ein unüberblickbares Körpermaß besäße,
meinen Namen riefe und zu mir spräche:
Was willst du hören und schauen und denkend lernen
und erkennen?
Und ich: Wer bist du denn?
Ich, sprach er, bin Poimandres,
der Geist der Herrschermacht; ich weiß, was du willst, und bin bei dir
allüberall.
Und ich: Lernen will ich das Seiende, erdenken seine Beschaffenheit
und erkennen Gott. Das, sprach ich, will ich hören.
Er sprach hinwieder zu mir: Halt fest in deinem Geiste,
was du lernen willst, und ich werde es dich lehren.
Bei diesen Worten veränderte er die Gestalt, und sogleich tat sich mir
alles auf im Fluge, und siehe:
ein unbegrenztes Gesicht, da Alles zu fröhlichem, freudigem Lichte ward.
Und ich war entzückt von dem Anblicke. Doch alsbald fiel ein schreckliches,
trauriges Dunkel, das an einer Stelle entstanden war, herab, gesäet in
schiefem Wurfe, dergestalt, daß ich es einer Schlange verglich. Alsdann
schlug das Dunkel in feuchte Beschaffenheit um, die unsäglich verwirrt
war und einen Qualm emporsandte, gleichwie Feuer, und einen Schall hervorbrachte,
einen unfaßbaren, zauberhaften. Alsdann ward aus ihr ein ungegliederter
Schrei entsandt, der Stimme des Feuers vergleichbar. Doch aus dem Feuer
trat das seiner Beschaffenheit nach heilige Wort hervor,
und reines Feuer sprang aus der feuchten Beschaffenheit
zur Höhe empor. Leicht war es und scharf, zugleich auch wirksam. Und gar
behende folgte die Luft dem Feuer und schritt bis zum Feuer empor von der Erde
und dem Wasser, so daß sie an ihm zu hängen schien. Doch Erde und
Wasser blieben mit sich gemischt, derart, daß man die Erde nicht ohne
das Wasser sehen kann. Bewegt aber wird dies alles durch den
Geisteshauch des Wortes.
Und Poimandres sprach zu mir: Hast
du erfaßt, was dies Gesicht will?
Und ich sagte: Ich werde es erkennen.
Das Licht, sprach er, bin
ich, der Geist, dein Gott, der vor jener aus dem Dunkel stammenden feuchten
Beschaffenheit erschien. Aber der strahlende Logos, der aus dem Geiste stammt,
ist der Sohn Gottes.
Wieso? frug ich.
Folgendermaßen: Was in dir sieht und hört,
ist der Logos des Herrn, der Geist in dir aber ist Gott, der Vater. Denn sie
sind nicht von einander ver¬schieden; denn ihre Einheit ist das Leben.
Ich danke dir, sprach ich.
Und Poimandres sagte: Doch
nunmehr erdenke das Licht und erkenne es!
Nach diesen Worten starrte er mich längere Zeit hindurch an, dergestalt,
daß ich vor dem Anblicke erzitterte. Doch gewährte er mir, daß
ich in meinem Geiste schaute das Licht, das in unzähligen Kräften
war, und die Welt, die unbegrenzbar entstand, und wie das Feuer mit höchster
Gewalt sie umschloß und wie sie, von ihm bewältigt, ihre Verfassung
erhielt. Dies durchdachte ich, schauend, vermittelst des
Logos des Poimandres.
Da ich jedoch von Staunen hingerissen war, sprach er hinwieder zu mir: Du
sahest in dem Geiste die ursprüngliche Gestalt, den Uranfang des unbegrenzten
Anfanges.
So sprach Poimandres zu mir. Aber, sagte ich, woher
entstanden die Grundstoffe der Natur?
Und er erwiderte darauf: Aus dem Ratschlusse Gottes, der
das Wort (den Logos) mit dem Auge erfaßte
und in der schönen Weltordnung nachbildete. Doch der Geist, der Gott, war
mannweiblich, bestand aus Leben und Licht, und gebar einen anderen, weltbildenden
Geist, der als Gott des Feuers und des Geisteshauches sieben Begründer
schuf, die in Kreisen das wahrnehmbare Weltall umschließen. Und ihre Gründung
heißt Verhängnis.
Alsbald sprang aus den niedersinkenden Grundstoffen der
Logos Gottes zur reinen Schöpfung der Natur empor und vereinte sich mit
dem weltschöpferischen Geiste; denn er war ihm gleich. Und unvernünftig
(ohne Logos) blieben die niedersinkenden Grundstoffe
zurück, so daß sie nur Stoff waren. Doch der
weltschöpferische Geist zusamt dem Logos, der die Kreise umfaßt und
sausend umschwingt, drehte seine Schöpfungen und ließ sie sich drehen
von einem unbestimmten Anfang bis an ein unbegrenztes Ende. Denn dort, wo er
aufhört, beginnt der Umschwung nach dem Willen des Geistes. Doch
die unvernünftige Natur brachte aus den niedersinkenden Elementen unvernünftige
Wesen hervor. Aber den Logos hatte sie nicht. Die
Luft trug Geflügel, das Wasser Schwimmer. Auch sind Erde und Wasser von
einander getrennt nach dem Willen des Geistes. Und die Erde brachte aus sich
Vierfüßler und Gekreuch hervor, wilde Tiere und zahme.
Doch der Vater aller, der Geist, der Leben und Licht ist,
gebar den MENSCHEN, sich selbst gleich, den er liebte als sein eigen Kind. Denn
er war überaus schön, da er des Vaters Form hatte. Denn in Wahrheit
liebte Gott seine eigene Gestalt. Ihm übergab er all seine Schöpfungen.
Und der MENSCH wieder wollte, als er die Gründung des Weltbildners gewahr
wurde, auch selber in seinem Vater schöpfen, nämlich im Geiste, und
dies wurde ihm auch von dem Vater gestattet. Und als er, da er alle Macht besaß,
sich in der Kugel der Weltschöpfung befand, wurde er der Schöpfungen
des Bruders, nämlich der von dem zweiten Geiste geschaffenen
sieben Begründer, gewahr, die von Liebe zu ihm ergriffen wurden,
so daß jeder ihm seine Stelle einräumte. Und als er ihr Wesen erfaßt
und an ihrer Beschaffenheit teilgenommen hatte, da wollte er den
Umkreis der Kreise zerreißen und die Macht des auf der Erde lastenden
Feuers überwinden.
Und er, der die Gewalt der ganzen Welt in sich vereinte, sprang durch die Harmonie
der sieben Kreise hindurch, so daß sie zerriß. Und er zeigte
der niedersinkenden Natur die schöne Gestalt Gottes. Sie jedoch lächelte,
als sie ihn in unsäglicher Schönheit, im Besitze aller Wirksamkeit
der Begründer und in der Gestalt Gottes erblickte, in Liebe ihm zu, da
sie ja gleichsam das Spiegelbild der allerschönsten Gestalt des MENSCHEN
im Wasser erblickte und seinen Schatten auf der Erde. Aber auch er begann, als
er die ihm gleiche Gestalt auf ihr entworfen und emportauchen sah in dem Wasser,
sie zu lieben: Und er wollte dort wohnen. Doch zugleich mit dem Wollen wurde
auch die Wirklichkeit, und er nahm Wohnung in der unvernünftigen Gestalt.
Doch die Natur umstrickte den Geliebten vollends, und sie begatteten sich; denn
sie waren verliebt.
Und das ist der Grund, weshalb im Gegensatze zu allen anderen Wesen auf der
Erde der Mensch doppelt ist, sterblich
dem Körper nach, unsterblich jedoch wegen des wesenhaften MENSCHEN; denn
obgleich er unsterblich ist und die Gewalt hat über alles, erleidet er
die Schicksale der Sterblichen, dem Verhängnisse unterlegen.
Und darauf sprach ich: Lehre mich alles, o du mein Geist;
denn auch ich liebe den Logos.
Poimandres jedoch sprach: Das
ist das Geheimnis, das bis auf diesen Tag verborgen ist, daß nämlich
die Natur, als sie sich mit dem MENSCHEN begattet hatte, hervorbrachte das Wunder
der Wunder. Denn da er den Einklang der sieben Begründer in sich umfaßte,
hielt ihn die Natur nicht aus, sondern gebar alsbald sieben Menschen, den Beschaffenheiten
der sieben Begründer entsprechend,
alle mannweiblich und
in die Luft ragend.
Und darauf ich: O Poimandres, eine
große Begierde ist in mich verlangt es, zu hören. Weiche mir nicht
aus!
Und Poimandres sprach: Darum
schweige; denn noch habe ich meine frühere Lehre nicht völlig dargelegt.
Siehe, ich schweige, sagte ich.
Und er fuhr fort: Das also war der Ursprung dieser sieben
Menschen: Das Weibliche war die Erde, und das Wasser das Brünstige; die
Reife stammte aus dem Feuer, aus dem Äther empfing er den Geisteshauch.
Aber nach der Gestalt des MENSCHEN brachte die Natur ihre Körper hervor.
Entsprechend dem Leben und dem Lichte aber wurde der Mensch zu Seele und Geist;
denn aus dem Leben wurde ihm die Seele, aus dem Lichte der Geist. Und so verblieben
alle Teile der wahrnehmbaren Welt bis zum Ende des Umlaufes und zur Entstehung
neuer Anfänge.
Nun höre ferner das Wort, das du zu hören wünschest!
Als der Umlauf erfüllt war, wurde die Fessel, welche alles umschlang, nach
Gottes Ratschluß gelöst. Denn alle Wesen, die mannweiblich waren,
wurden zugleich mit dem Menschen entzwei geteilt, und der eine Teil wurde männlich,
der andere weiblich. Gott aber sprach sogleich
mit heiligem Worte:
»Mehret euch in Menge, und füllet in Fülle
alle Gründungen und Schöpfungen. Und wieder erkennen möge der
geistbegabte Mensch seine unsterbliche Beschaffenheit und die Liebe, die Ursache
des Todes, und alle Dinge.«
Als er dies gesagt hatte, vollzog die Vorsehung auf Grund
des Verhängnisses und des Einklanges die Begattung und schuf die Geschlechter.
Und alle Wesen wurden zu Arten vermehrt. Und er, der sich selber wieder erkannte,
nämlich der Mensch, wandte sich dem umfassenden Guten zu. Doch
wer von der Liebe zum Irrtum verleitet dem Körper anhängt, der bleibt
irr und in dem Dunkel und erleidet mit seinen Sinnen den Tod.
Worin, frug ich da, fehlen
denn diese Menschen so sehr, daß sie der Unsterblichkeit
entäußert wurden?
Du scheinst nicht zu erwägen, was du vernahmst. Sagte
ich dir denn nicht, du solltest es denken?
Ich denke es, und rufe es mir in Erinnerung, und zugleich danke ich dir. Wenn
du es bedacht hast, dann sage mir, weshalb jene
des Todes würdig sind, die im Tode verharren.
Weil im stofflichen Körper das verhaßte Dunkel
vorherrscht, aus dem die feuchte Beschaffenheit stammt, aus der wieder der in
dieser Sinnenwelt befindliche Körper besteht, aus dem der Tod geschöpft
wird.
Du hast es recht gedacht; doch weshalb kehrt, wer sich selbst gedacht hat, zu
ihm zurück?
Und ich antwortete: Weil der Vater
des Alls aus Leben und Licht besteht, woraus der Mensch geworden ist.
Du hast gut geantwortet. Licht und Leben ist der Gott
und Vater, von dem der Mensch stammt, so daß
also, wenn du erkennst, daß du aus Leben
und Licht bestehst, und auch treulich glaubst,
daß du aus ihnen zusammengesetzt bist, du wieder zum Leben zurückkehren
wirst.
Dies sagte Poimandres, und ich sprach: O
du mein Geist, sage mir aber auch wie ich zu dem Leben zurückkehren werde.
Und er erwiderte: So, wie Gott es sagte: Der geistbegabte
Mensch möge wieder erkennen, daß er unsterblich ist.
Haben denn nicht alle Menschen Geist?
Lästere nicht mit deiner Rede! Denn ich selbst, der Geist, komme nur zu
den Frommen, Guten, Reinen, Mitleidigen und Ehrfürchtigen, und meine Anwesenheit
bringt Hilfe, und alsbald erkennen sie alles und versöhnen den Vater durch
Liebesgaben und sagen ihm Dank durch Lobpreisungen und Gesänge, von Liebe
zu ihm hingezogen. Und bevor sie den Körper seinem Todesschicksale überlassen,
ertöten sie die Sinne, da sie deren Macht genau kennen. Vielmehr will ich,
der Geist, nicht zulassen, daß die auf den Körper treffenden Einwirkungen
zur Reife kommen, sondern als Türhüter will ich die Pforten schließen
und ausrotten die Begierden nachschlimmen und schändlichen Handlungen.
Aber den Gedankenlosen und Schlechten, Verruchten und Gehässigen, den Habsüchtigen,
Mördern und Gottlosen bin ich fern, da ich sie dem rächenden Dämon
ausliefere, der die Schärfe des Feuers in diese Welt werfen wird, um sie
zu quälen, und der das Feuer wider sie noch vermehren wird, der sie verletzen
wird in allen ihren Sinnen und der sie noch zu ihren Widersetzlichkeiten wappnen
wird, auf daß sie (die Welt) noch größerer Strafe verfalle.
Und er wird nicht ablassen, seine Begierde an unerfüllbares Trachten zu
heften, unersättlich im Kampfe für die Finsternis.
Trefflich hast du mich, wie ich es wünschte, alles gelehrt, o du mein Geist.
Unterrichte mich aber jetzt auch, wie der Aufstieg von
statten geht. Darauf entgegnete Poimandres:
Bei der Auflösung des stofflichen Körpers überläßt
der Mensch ihn selbst der Umwandlung, die
Gestalt, die er besaß, verschwindet, und
seine kraftlose Gesinnung liefert er dem Dämon aus. Auch die Sinne des
Körpers kehren als Teile zu ihren Quellen zurück und treten wieder
an anderer Stelle in Wirksamkeit. Und auch das Streben und das Begehren kehren
zu der vernunftlosen Natur zurück. Und derart dringt schließlich
der Mensch zur Höhe durch den Einklang hindurch und übergibt
dem ersten Gürtel seine Zunahme und Abnahme bewirkende
Kraft,
dem zweiten Gürtel seine Anlage zur kraftlosen Schlechtigkeit,
dem dritten Gürtel die kraftlose, begehrliche Verblendung,
dem vierten Gürtel die kraftlose, herrschsüchtige Eitelkeit,
dem fünften Gürtel die kraftlose Zudringlichkeit der Frechheit,
dem sechsten Gürtel die durchaus nicht bereichernden, schlimmen Antriebe
zur Habgier,
dem siebenten Gürtel die kraftlose Lüge, die auf der Lauer liegt.
Dann aber gelangt sie, befreit von den Einflüssen des Einklanges zur
Beschaffenheit der Acht, im Besitze ihrer ureigenen
Macht; und sie lobpreist zugleich mit den wahrhaft Vorhandenen den Vater. Und
diese Anwesenden wieder freuen sich ihrer Anwesenheit. Und angeglichen den Anwesenden
hört sie auch den Sang jener Kräfte, die oberhalb
der Beschaffenheit der Acht mit eigener Stimme den Gott lobpreisen. Und dann
steigen sie ihrem Range nach zu dem Vater empor, und die Kräfte selbst
liefern sich dem Vater aus und werden zu Kräften in Gott. Das ist das gute
Ende derer, so die Erkenntnis haben, nämlich daß sie zu Gott werden.
Was willst du noch mehr? Willst du denn nicht all dies in dich aufnehmen und
ein Wegweiser sein für die Würdigen, auf daß der Menschheit
Geschlecht durch dich von Gott gerettet werde?
Bei diesen Worten vereinte sich Poimandres mit mir durch
die Kräfte. Aber ich, ich sagte Dank dem Vater
des Alls und pries ihn und wurde von ihm entsandt, bekleidet mit den Kräften,
unterrichtet über die Beschaffenheit des Alls,
sowie über das gewaltige Gesicht, das mir geworden war. Und ich
begann, den Menschen die Lehre der Frömmigkeit und der Erkenntnis zu künden:
Ihr Völker, ihr Erdentstandenen, die ihr euch der Trunkenheit und dem Schlafe
ausgeliefert habt und der Unkenntnis Gottes! Werdet
nüchtern tut Einhalt und besinnet euch, die ihr von unvernünftigem
Schlafe berückt seid.
Und sie vernahmen mich und kamen zu Hauf. Und ich sprach:
Ihr Erdentstandenen, was liefert ihr euch dem Tode aus, da ihr doch die Macht
habt, an der Unsterblichkeit teil zu nehmen? Ändert euren Sinn;
denn ihr, schreitet alle zusamt einen Irrpfad dahin
und pflegt Gemeinschaft mit der Unwissenheit. Trennet
euch von eurem finstern Lichte und lasset das Ver¬derben fahren und nehmt
statt dessen die Unsterblichkeit in Empfang!
Und einige unter ihnen wandten meine Worte zu törichtem Geschwätz
und, fielen ab, sich dem Pfade des Todes ausliefernd.
Die anderen hingegen riefen mir, ich möge sie belehren, und warfen sich
nieder zu meinen Füßen. Doch ich hieß sie aufstehen und wurde
der Wegweiser meines Geschlechtes , und lehrte sie die Lehren davon, wie sie
würden gerettet werden. Und ich säete unter sie die Worte
der Weisheit, und sie nährten sich von dem Wasser
der Unsterblichkeit.
Als aber der Abend anbrach und das Licht der Sonne sich anschickte, gänzlich
unterzugehen, empfahl ich ihnen, Gott zu danken. Und nachdem ihrer ein jeglicher
seine Dankespflicht erfüllt hatte, wandten sie sich zu ihrer Lagerstatt.
Aber dem Schlafe des Körpers entsprang die Ernüchterung der Seele,
dem Schließen der Augen das wahre Schauen.
Dises geschah, da ich von meinem Geiste, von Poimandres,
das Wort der Herrschermacht empfing. Denn
gottbegeistert drang ich bis zu dem Kreise der Wahrheit, und deshalb preise
ich Gott den Vater aus der ganzen Kraft meiner Seele:
Heiliger Gott, Vater des Alls;
heiliger Gott, dessen Ratschluß von
geeigneten Kräften vollführt wird;
heiliger Gott, der erkannt sein will und von den Seinen erkannt wird-,
heilig bist du, der durch den Logos das Vorhandene schuf;
heilig bist du, dessen Abbild die ganze Natur ist;
heilig, bist du, den die Natur nicht gestaltete;
heilig bist du, der über alle Kraft erhaben ist;
heilig bist du, der jede Größe überragt;
heilig, bist du, der jedes Lob übertrifft!*
Nimm heilige Opfer des Gebetes entgegen.
die aus der Seele und dem Herzen zu dir empor steigen,
du Unaussprechlicher, Geheimer, durch Schweigen Tönender, -
von mir, der dich bittet, die meinem Wesen mögliche Erkenntnis nicht irre
zu leiten,
sondern mir sie zu gewähren und mich mit der Macht zu bekleiden,
und mich mit dieser deiner Gnade zu erfüllen,
daß ich erleuchte die Unwissenheit dieses Geschlechtes,
das da besteht aus meinen Brüdern und deinen Söhnen,
da ich glaube und Zeugnis gebe:
daß ich zum Leben und Lichte zurückkehre,
dieweil in Heiligkeit dein Mensch mit dir vereint sein will,
da du mir alle Macht übergeben hast.
*Die Neunzahl der Heiligpreisung dürfte
einen geheimen Hinweis auf die Bedeutung der Neun im Vereine der Urgottheiten
enthalten. Der Hymnus ist »strophisch"«gegliedert. Doch hat
man hierbei nicht an Strophen im Sinne unserer Metrik zu denken, wo dieselben
in rythmische Zeilen zerfallen. Vielmehr ist in diesen »Strophen«
keine Spur von Versmaßen, wohl aber ein streng architektonisch geregelter
Bau der Strophenglieder zu finden. Es ist D. H. Müllers Verdienst, diese
Art Strophen in ihrer weiten Vor¬bereitung durch das gesamte Gebiet orientalischer
und orientalisch beeinflußter Literatur erkannt und nachgewiesen zu haben.
In unserem Hymnus besteht das Prinzip des Strophenbaues darin, daß gleichlautende
Versanfänge, die ich durch Kursivdruck hervorhob, die Strophengliederung
anzeigen. S.62ff.
Aus: Wolfgang Schultz. Dokumente der Gnosis. Verlegt bei Eugen Diederichs Jena
1910