Ovid, lat. Publius Ovidius Naso (43 v.Chr. – etwa 17 n.Chr.)

Römischer Dichter, der aus einem wohlhabenden Adelsgeschlecht stammte und nach dem Tode von Horaz zum gefeiertsten Dichter Roms wurde. Im Jahre 8 n. Chr. wurde er nach Tomi (in der Nähe des heutigen Constanta) verbannt. Der Grund für die Verbannung war vermutlich, dass er von den Ausschweifungen Julias, der Enkelin des Kaisers Augustus wusste. Ovid begann sein Werk mit erotischen Liebeselegien. Die bekannteste Dichtung in dieser Sparte ist die »Ars amandi« (Liebeskunst), ein graziös-leichtfertiges erotisches Lehrgedicht. Danach verfasste Ovid zwei große erzählende Dichtungen: die »Metamorphosen« (Verwandlungen) im epischen und die »Fasti« (Festkalender) im elegischen Maß. Die »Metamorphosen« beinhalten einen Kreis von Sagenerzählungen, in denen die Verwandlungen von Menschen in Tiere, Pflanzen u. a. geschildert werden. In den »Fasti«, werden die mit den einzelnen Festen des römischen Kalenders verknüpften Sagen erzählt und Namen und Kultbräuche erklärt. Nachstehende Texte stammen aus den »Metamorphosen«.

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Inhaltsverzeichnis
Die Schöpfung, Die vier Weltalter, Philemon und Baucis

Die Schöpfung
Ehe die Erde entstand und das Meer, der umhüllende Himmel,
Trug der unendliche Raum dieser Welt ein gestaltloses Antlitz,
Chaos genannt: ohne Form ein Klumpen, noch bar jeder Ordnung,
Durchwegs träge Masse, an einer Stelle gehäufter,
Ungleichartiger Urstoff von lose verbundenen Körpern.
Strahlen spendete damals der Welt noch nicht ein Titane,
Noch erneute Phöbe im Wachsen die Sichel des Mondes.
Schwebend hing nicht die Erde in rings umfließenden Lüften,
Ausgewogen im eignen Gewicht, es hatte die Arme
Nicht noch geschlungen weit um den Rand des Alls Amphitrite;
Wie zwar die Erde sich dort schon befand und die Luft und das Wasser,
War doch das Land nicht betretbar, nicht schwimmbar die Fluten -
Lichtlos war noch die Luft: nichts hatte schon eigne Gestalten
Eins mit dem anderen stritt, denn im gleichen Körper noch kämpften
Kaltes mit Warmem, Feuchtes mit Trocknem und Weiches mir Hartem —
Das, was keine Schwere besitzt, mit dem, was Gewicht hat.

Diesen Streit hat ein Gott und die beßre Naturkraft geschlichtet.
Denn er trennte vom Himmel die Erde, vom Lande die Meere,
Schied vom Dunstkreis der Luft den reinen himmlischen Äther,
Als er diese entwirrt, aus dem wüsten Haufen entbunden,
Da verband in friedlicher Ruh‘ er die räumlich geschiedenen:
Rasch erhob sich die leuchtende Kraft des sich wölbenden Himmels
Ohn‘ alle Wucht, und schuf sich Raum auf den höchsten der Höhen;
Jenem zunächst an Lage und leichtem Gewicht sind die Lüfte;
Dichter als sie ist die Erd‘, in die Tiefe gedrückt durch die Schwere
Ward sie und grobem Stoff nur verbunden; aber zuunterst
Wählte den Platz das Meer, den Erdball gänzlich umflutend.

Wer von den Göttern es war, nachdem er das Chaos getrennt, und
Also getrennt und geordnet, in Schichten es hatte gegliedert,
Der hat zunächst die Erde, damit sie nach sämtlichen Seiten
Gleich und gemäß sei, zusammengeballt zu gewaltiger Kugel,
Ließ dann das Meer sich ergießen, von wilden Stürmen es mächtig
Schwellen, die Küsten umspülen der rings umbrandeten Erde;
Dann aber rief er die Quellen hervor und die riesigen Teiche,
Seen dazu, umschloß mit schlängelnden Ufern die Flüsse,
Talwärts strömend, je nach dem Laufe, zum Teile versickernd,
Manche gelangen ins Meer, geborgen in grenzlosen Fluten,
Peitschen nun statt der eigenen Ufer des Meeres Gestade.
Felder auch ließ er weithin sich breiten und Täler sich senken,
Wälder mit Laub sich bedecken und steinige Berge entstehen,
So wie den Himmel rechts zwei Zonen und auch zur Linken
Ebenso viele durchziehen — die fünfte dazwischen ist heißer —
Ebenso teilte sorglich der Gott in ähnliche Striche
Unsre umschlossene Erde, sie gürten nicht weniger Zonen.
Die in der Mitte sich dehnt, ist unbewohnbar vor Hitze;
Zwei deckt tiefer Schnee; zwischen beide legt‘ er zwei Gürtel,
Schenkt‘ ihnen, Kälte mit Wärme vermischend, gemäßigtes Klima.
Drüber schweben die Lüfte, um so viel schwerer als Feuer,
Als des Wassers Gewicht ist leichter als wuchtige Erde.

Dort nun ließ er die Nebel wie auch die Wolken sich lagern,
Ferner den Donner, um einst der Menschen Herz zu erschüttern,
Schließlich die Winde, die mit den Blitzen die Kälte uns bringen.
Ihnen jedoch überließ nicht der Schöpfer der Welt allerorten
Herrschaft über die Lüfte; doch werden sie kaum mehr behindert,
Da ein jeder sein Werk in verschiedener Richtung betreibt und
So die Welt nicht vernichtet: so groß ist die Zwietracht der Brüder.
Eurus wich zu Aurora, zum nabatäischen Reiche
Und nach Persien hin zu den Höhen im Lichte des Morgens.
Aber der West und die Küsten, gewärmt von der sinkenden Sonne,
Sind dem Zephyrus am nächsten; es nahm sich der kalte Boreas
Skythien samt dem eisigen Norden; die andere Seite
Trieft beständig aus Wolken vom Regen, den Auster ihr sendet.

Über dies setzt‘ er den flüssigen Äther, der ohne Gewicht ist,
Ihn, der keinerlei Spur mehr an sich hat von irdischem Schmutze.
Kaum hatt‘ der Gott so alles umzäunt mit sicheren Grenzen,
Als die Sterne, die lange verdeckt von düsterem Nebel,
Nunmehr am ganzen Himmel in Strahlen zu leuchten begannen;
Daß aber nirgends ein Raum lebendiger Wesen entbehre,
Setzten am Himmelsgewölbe sich fest die Gestirne und Götter,
Glänzende Fische erhielten die Flut zur Behausung, die Erde
Nahm nun die wilden Tiere, beschwingte Vögel die Luft auf.
Bisher fehlte jedoch ein Geschöpf noch, das edler als diese,
Fähiger hoher Vernunft, das die andern zu lenken verstünde.
So ward geschaffen der Mensch, es schuf ihn entweder der Welten
Schöpfer, der Zeuger des besseren Alls, aus göttlichem Samen,
Oder die neue, vom hohen Äther erst kürzlich getrennte
Erde enthielt noch Keime in sich vom verschwisterten Himmel.
Diesen mischte des Japetus Sohn mit dem Wasser und schuf sie
Nach den Ebenbildern der Götter, die alles regieren;
¬Während die andern Geschöpfe gebeugt die Erde betrachten
Gab er den Menschen erhobenen Blick, um den Himmel zu schauen
Und emporgerichtet das Aug‘ zu den Sternen zu heben:
Eben noch ohne Form und Gestalt, ward also die Erde
Völlig verwandelt und trug die Wunderbilder der Menschen.
S.4ff.

Die vier Weltalter
Erst entstand die goldene Zeit, die ohne Behörde,
Frei und ohne Gesetz, das Recht und die Treue bewahrte.
Furcht und Strafe kannte man nicht, noch wurden gelesen
Drohende Worte auf ehernen Tafeln, nicht bangten die Menschen
Scheu vor dem Blick ihres Richters, sie waren ja ohne ihn sicher.
Nicht war die Fichte, gefällt von den heimischen Bergen, gesunken
Tief in die klare Flut, um fremde Reiche zu schauen;
Außer dem eigenen kannten die Menschen noch keine Gestade;
Nicht umschlossen damals schon jähe Gräben die Städte;
Weder die grade Trompete aus Erz noch gebogene Hörner
Waren bekannt, nicht Schwerter noch Helme; und ohne Soldaten
Lebten die Völker sorglos dahin in behaglicher Ruhe.
Frei von jeglichem Dienst, von dem Karst nicht berührt, von der Pflugschar
Nirgend verwundet, so schenkte von selber alles die Erde.
Was ohne Anbau gediehen, genoß man zufrieden als Speise,
Sammelt‘ des Erdbeerbaumes Ertrag und Beeren vom Berghang,
Kornelkirschen und rötliche Früchte von stachligen Stauden,
Eicheln, von Jupiters Baum, der breiten Krone gefallen.
Ewig herrschte der Frühling, mit linden Lüften umkosten
Milde Winde die Blumen, aus keinerlei Samen entsprossen
Früchte des Felds trug bald der unbeackerte Boden,
Weiß erglänzten von vollen Ähren die Fluren, obwohl sie
Niemals gepflügt; bald flossen von Milch oder Nektar die Ströme,
Goldgelb träufelte rings von grünender Eiche der Honig.

Seit Saturn aber tief in des Tartarus Dunkel gestürzt und
Jupiter Herr dieser Welt war, folgten die silbernen Zeiten,
Weniger wert als das Gold, doch besser als rotgelbes Erz noch.
Jupiter kürzte die frühere Dauer des ewigen Lenzes,
Führte durch Winter und Sommer, durch unbeständige Herbste,
Durch einen kühleren Lenz in Vierteln die Jahre zu Ende.
Erstmals glühte die Luft, versengt durch trockene Hitze;
Unter dem Winde erstarrt, hing klirrend der Zapfen des Eises;
Nun erst suchte man Häuser zum Schutz; das Heim war die Höhle
Oder das dichte Gestrüpp oder Zweige mit Rinde verbunden.
Weit in die lange Furche versenkt‘ man die Samen der Feldfrucht
Nunmehr zuerst, und gespannt in das Joch seufzt stöhnend das Jungvieh.

Diesem folgte hierauf — als drittes — das eherne Alter,
Wilder an Art und schon eher geneigt zu grimmigen Kämpfen,
Nicht doch vom Frevel befleckt; hart war wie das Eisen das letzte.

Alsbald brach in die Zeit der schlechteren Ader der Frevel
Jählings herein, und es flohen die Scham, die Wahrheit und Treue;
Doch ihren Platz übernahmen sofort der Betrug und die Tücke,
Hinterlist und die Gewalt und frevelhafte Gewinnsucht.
Segel setzte man jetzt in den Wind, den der Schiffer nicht kannte,
Und die auf hohen Bergen noch eben gestanden, die Fichten,
Tanzten als Schiffe sich schaukelnd auf unbekannten Gewässern.
Einst war das Land wie die Luft und die Sonne Gemeingut gewesen,
Nunmehr zog mit Bedacht den genauen Rain der Vermesser.
Nicht nur verlangte man jetzt die Nahrung vom reichen Gefilde —
Wie eine Schuld —, man drang auch hinein in die Tiefen der Erde,
Schätze, die jene versteckt, entrückt in die Reiche der Schatten,
Holte man nunmehr hervor als Anreiz zu allen Verbrechen.
Schon lag schädlichem Eisen und Gold, noch schlechter als dieses,
Offen zu Tag, und zu Tag auch der Krieg, der sich beider bediente
Und mit blutiger Hand die Waffen, die klirrenden, schüttelt.
Nun lebt alles vom Raub: weder Gastfreund schützt mehr den Gastfreund,
Noch auch den Schwager der Eidam, selbst Brüder lieben sich selten;
Tod und Verderb droht der Gatte der Frau und die Frau dem Gemahle,
Mütter brauen den giftigen Trank voll Tücke dem Stiefkind.
Früh schon forscht in den Sternen der Sohn nach den Jahren des Vaters:
Ehrfurcht liegt getroffen darnieder, Asträa, die Jungfrau,
Floh als letzte der Götter die blutigtriefende Erde.
Doch daß des Äthers Höh‘ nicht sichrer sei als die Erde,
Rang das Gigantengeschlecht nach der Herrschaft — so heißt es — im Himmel,
Schleppte Gebirge zusammen und türmte sie hoch zu den Sternen.
Aber der mächtige Vater zerschmetterte nun mit dem Blitzstrahl
Erst den Olymp und warf den Pelion nieder vom Ossa.
Unter den Bergen begraben, so lagen die gräßlichen Leiber;
Über und über besudelt von Strömen des Bluts ihrer Söhne
Troff da die Erde, so sagt man, und habe dem dampfenden Blute —
Daß von ihrem Geschlecht nicht jede Erinnerung schwinde —
Menschengestalten verliehen; doch waren Verächter der Götter
Diese Geschöpfe wie jene, begierig nach grausigem Mord und
Voller Gewalt; man merkte es wohl: sie stammten vom Blute.
S.7ff.

Philemon und Baucis
Endlos ist der Unsterblichen Macht, ohne Grenze und ewig
Dauert sie fort; was die Götter je wollten, ist schon vollendet.
Um nun dem Zweifel zu wehren; nah steht einer Linde die Eiche
Dort auf Phrygiens Höhn, von mäßiger Mauer umgeben.
Selber erblickt‘ ich den Ort: dorthin entsandte mich Pittheus,
Wo einst Pelops beherrscht, sein Vater, als König die Lande.
Dort liegt nahe ein See, bewohnte Erde vorzeiten,
Nunmehr ein sumpfiges Moor, belebt von Tauchern und Hühnern.
Jupiter kam in Menschengestalt, und es folgte dem Vater
Dort mit dem Stab der Enkel des Atlas, doch ohne die Flügel.
Tausend Gehöfte besuchten sie da und erbaten sich Obdach,
Tausend verschlossen ihr Tor, ein einziges Häuschen empfing sie,
Klein ist‘s gewesen, mit Stroh nur gedeckt und mit Halmen vom Schilfrohr,
Aber darin schloß Baucis und, gleich ihr an Jahren, Philemon
Einst in der Jugend den frommen Bund, in eben der Hütte
Wurden sie Greise zugleich, weil die Armut sie offen bekannten,
Machten sie diese sich leicht und ertrugen sie ruhigen Herzens.
Ob du nach Dienern, nach Herren dort suchtest, das machte nichts aus: denn
Zwei nur sind da das Haus: sie befehlen zugleich und gehorchen.
Als nun die Himmelsbewohner die kleine Hütte erreichten
Und mit dem Haupte gebeugt durch die niedere Türe getreten,
Heißt sie der Greis auf der Bank, die er hinschob, der Ruhe zu pflegen.
Rasch noch warf eine Decke darüber die emsige Baucis,
Stößt auf dem Herd auseinander die warme Asche, entblößt dann
Gluten von gestern und nährt sie mit Blättern und trockener Rinde;
Drauf mit dem keuchenden Atem entfacht sie diese zur Flamme,
Holt nun vom Boden gespaltenen Kien und trockenes Astwerk,
Bricht es entzwei und schiebt es unter den winzigen Kessel.
Kohl, den der Gatte geholt aus sorgsam bewässertem Garten,
Putzt sie fein ab; er hebt mit der doppelzinkigen Gabel
Hoch vom schwarzen Gebälk des Schweines geräucherten Rücken.
Lange verschonte er ihn: nun schneidet ein Stück er vom Fleische,
Freilich ein kleines, und kocht es recht weich im siedenden Wasser.
Aber die Stunden verkürzen sie nun mit heitren Gesprächen,
Schütteln das Polster jetzt auf — es füllt nur Schilfrohr vom Flusse —,
Das auf dem Bette gelegen aus weidenem Rahmen und Füßen.
Teppiche legten sie über die Bank, die an festlichen Tagen
Selten nur wurden gebreitet, auch sie aus billigem Tuch und
Alt schon: sie paßten durchaus in der Art zur weidenen Bettbank.
Hier nun ruhten die Götter. Geschürzt und mit zitternden Händen
Setzte die Alte den Tisch: ein Fuß von dreien war kürzer.
Doch man gleicht mit dem Steine das aus: man schiebt ihn darunter,
Eben schon ist der Tisch. Sie reiben die Platte mit Minzen,
Legen darauf zweifärbige Früchte der Jungfrau Athene,
Herbstliche Kirschen dazu, die in klarem Safte bewahrt sind,
Rettich, Endivien auch und Stücke geronnener Kuhmilch,
Eier, nur leichthin gewälzt in der milden, nicht glühenden Asche,
Alles auf irdnem Geschirr. Sie stellen daneben den Mischkrug,
Der aus dem nämlichen »Silber« geformt, und Becher, gemacht aus
Buche und innen im Bauch verklebt mit gelblichem Wachse.
Wenig später, da sendet die warmen Speisen der Herd schon.
Wieder kredenzt man denselben Wein von neuester Lese.
Schob ihn ein wenig zur Seite, um Platz für den Nachtisch zu haben.
Nüsse und karische Feigen, gemischt mit der runzligen Dattel,
Pflaumen und duftende Apfel, in offenen Körben geboten,
Saftige Trauben dazu, von purpurner Rebe gesammelt,
Ringsum Waben mit glänzendem Honig. Aber als bestes
Freundliche Mienen der Wirte und gerne gebender Wille.
Doch sie bemerkten indes, wie der Krug, sooft man ihn leerte,
Immer von neuem sich füllt und von sich aus das Glas wieder voll war.
Über das Wunder erstaunt, voll Angst, mit erhobenen Händen
Stammelt Gebete die Alte, Gebete noch zitternd Philemon,
Bitten um Gnade dafür, daß das Mahl nur in Eile bereitet.
Jetzt — da gab es im Haus eine Gans, zur Wache der Hütte,
Diese wollten die Hausherrn den himmlischen Gästen nun schlachten.
Schnell mit den Flügeln, ermüdet das Tier die erlahmenden Alten,
Spottet ihrer im Spiel und schien sieh zuletzt zu den Göttern
Selber zu flüchten. Da wehrten die Himmlischen, diese zu töten
.
»Götter sind wir!« so sprachen sie jetzt, »doch die ruchlosen Nachbarn
Werden es büßen, wie‘s ihnen gebührt; ihr sollt von dem Unglück
Aber bewahrt sein. Auf, verlaßt sogleich nun die Hütte,
Folgt nur unserem Schritt und hinauf zur Höhe des Berges
Wandert mit uns!«
Die beiden gehorchen; gestützt auf die Stöcke
Streben sie sich, den lang ansteigenden Berg zu erklimmen.
Nur mehr so weit, als ein Pfeilschuß reicht, sind entfernt sie vom höchsten
Gipfel: da blicken sie um — und alles im Sumpfe versunken
Sehen sie da ringsum. Ihre Hütte allein war noch übrig.
Während sie staunen darob und das Schicksal der Ihren beweinen,
Wandelt die alte Hütte, die kaum zwei Leuten genügt hat,
Plötzlich zum Tempel sich um: die Stützen werden zu Säulen.
Goldgelb erglänzt das Stroh, und das Dach erstrahlt schon im Golde,
Kunstvoll mit Bildern geschmückt sind die Tore, von Marmor der Boden.
Jupiter also begann und sprach mit gnädiger Stimme:

»Sagt mir nun, redlicher Greis und eines redlichen Gatten
Werte Gemahlin, was wünscht Ihr?«
Mit Baucis sprach nun Philemon
Weniges nur und eröffnet dem Gott die gemeinsame Bitte:

»Eure Priester zu sein und eure Tempel zu hüten,
Bitten wir euch, und da wir in Eintracht die Jahre verbrachten,
Nehme dieselbe Stunde uns fort: ich möge der Gattin
Grab nie schauen, noch möge im Grab sie je mich bestatten.«

Was sie erbaten, es wurde erfüllt. Sie wurden des Tempels
Hüter, solange sie lebten; erschöpft von den Jahren des Alters,
Hatten sie einst das Schicksal des Orts vor den heiligen Stufen
Wieder besprochen; da sahen zugleich Philemon und Baucis,
Wie sich des anderen Leib mit grünenden Blättern umkleidet.
Als über beider Gesicht schon wuchsen die Wipfel der Bäume,
Sprachen sie noch, solang es vergönnt, zueinander die Worte:

»Gatte, leb wohl!« Zugleich mit dem Ruf verhüllten ihr Antlitz
Zweige und Laub. Dort zeigt der heimische Bauer noch heute
Stamm neben Stamme sich nah, aus den beiden Körpern gewachsen
. S.54ff.
Aus: P. Ovidius Naso, Verwandlungen. Auswahl . Bearbeitung und Nachwort von Wilhelm Plankl unter Mitwirkung von Karl Vretska
Reclams Universalbibliothek Nr. 7711 . Philipp Reclam jun., Stuttgart 1969 Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages