Friedrich Naumann (1860 - 1919)

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Jesus, der Sozialist

Es gehört zum Geheimnis der ewigen Jugend Jesu, daß er für alle Zeiten eine frische Entdeckung ist. Er erscheint vor dem geistigen Auge in einer Art, daß man meint, ihn vorher noch nicht recht gekannt zu haben. So war Jesus neu, als ihn Luther verkündigte, so wird er neu sein, wenn unser Volk sich wieder zu ihm wendet. Wir werden in die Sprüche der Evangelien mit glücklichen Händen hineingreifen, wie man in neugefundene Kleinodien sich vertieft. Worte, welche bis jetzt von den Theologen für nebensächlich angesehen werden, werden in den Mittelpunkt des Glaubenslebens treten.

Wie war wohl die Denkweise eines Mannes, der das Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus schaffen konnte? Wer erfand für uns das Wort ,,Mammon“? Man weiß, wie Jesus über Reiche und Reichtum dachte. Man erinnert sich, wie er ihnen zuruft: „Wehe Euch Reichen, denn Ihr habt Euren Trost dahin! Wehe Euch, die Ihr jetzt voll seid, denn Euch wird hungern! Wehe Euch, die Ihr hier lacht, denn Ihr werdet weinen und heulen!“ Wie hat Jesus mit den Pharisäern und Schriftgelehrten abgerechnet! Ihr Heuchler, die Ihr der Witwen Häuser fresset und wendet lange Gebete vor!“ Ist es nicht, als sei unsere Zeit reif, diesen wirklichen Jesus wieder zu verstehen, nachdem ihn lange Zeiten gar nicht verstehen konnten? Und sind wir nicht imstande, uns gerade als heutige Menschen von einem Leben ergreifen zu lassen, das sich im Dienste der Blinden, Mondsüchtigen, Aussätzigen, der Mühseligen, Beladenen und Bettler verzehrte? Jesus ist die leibhaftige Hilfe. Sein Geist ist ein Strom hilfreichen Wollens. Er erscheint als Licht für das arme Volk, das im Dunkeln sitzt. Wo er seine Hand hinstreckt, da gesundet das Menschenleben. Seelen und Leiber finden zugleich Heil an der göttlichen Quelle.

Jesus Christus ist kein Philosoph und kein Staatsmann, kein Physiker und kein Nationalökonom, und weil er weder das eine noch das andere ist, erwarten wir von ihm auch nicht, daß er ein System oder eine Art Politik oder eine Erkenntnistheorie oder ein volks-wirtschaftliches Lehrbuch in der Hand habe. Jesus bringt nicht Resultate oder Methoden, sondern er lebt, und eben sein Leben ist die Offenbarung Gottes. Er sagt nicht: ich bringe Vorschläge oder Methoden, sondern: ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.

Jesus stellt sich seinen ärmsten Brüdern gleich. Er kennt beim Gericht über die Völker der Welt nur die eine Frage: Habt ihr die Hungrigen gespeist, die Durstigen getränkt, die Nackenden gekleidet, die Heimatlosen beherbergt, die Kranken gepflegt, die Gefangenen besucht? Wer das nicht getan hat, der hat ihm nicht gedient und gehört in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Damit ist der Standpunkt christlicher Volksarbeit gegeben. Wir müssen alles unter dem Gesichtswinkel der Hungrigen betrachten lernen. Von da aus haben wir unser eigenes Leben zu kritisieren und das Gewohnheitsleben unserer Schicht und die Justiz und die Verwaltung und das Geistesleben des Volkes. Gegen alles, was nicht schließlich auch den Ärmsten dient und nützt, müssen wir mißtrauisch werden. So finden wir die Abgrenzung vom Versinken in Ästhetik und Kontemplation, die Überwindung von Formalismus und Schlendrian. Von diesem Punkt aus erhebt sich für uns der Reformationsruf: Tut Buße!
Vom Standpunkt Jesu aus wollen wir das Eigentum betrachten. Jesus ist aus ethischen Gründen radikaler Gegner der Kapitalansammlung: ,,Ihr sollt Euch nicht Schätze sammeln auf Erden!“ Der antimammonistische Zug ist charakteristisch für das ganze Denken Jesu: ,,Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ Hier muß man hassen oder lieben. Das wird für unsere obere Schicht die Probe sein, ob sie Jesus noch kennen will. Am Eigentum darf kein Herz hängen, das selig werden will. Das Geld soll nicht der Wertmesser der Menschen sein.

Jesus will Not, Leid, Sünde vermindern. Dazu braucht er Wunder und Almosen. Unsere Mittel werden andere sein müssen als diese, das Ziel aber muß dasselbe bleiben. Das ist das unaufhörliche Erdenziel des Christentums. Die Erde soll durchwärmt werden mit Himmelswärme, ein Elend soll nach dem anderen überwunden werden. Die Sklaverei ist gefallen, das Los der Blinden und Aussätzigen ist ein besseres geworden, aber die Aufgaben sind noch bergehoch: die hilflose Armut, die Arbeitslosigkeit muß fallen. Ich bin überzeugt, daß Jesus heute weniger mit Blinden als mit Arbeitslosen zu tun haben würde. Daß das Problem der Arbeitslosigkeit kaum geringer ist als das der Blindheit, kann sein, aber es ist uns gestellt. Hier beginnt die Weiterarbeit im Reich Gottes, soweit es sich um Volksarbeit handelt.

Jesus war voll Gottvertrauen bis zum Kreuz. Er ist durch finstere Stunden gegangen, aber er behielt den getrosten Sinn, der aus der Gemeinschaft mit seinem himmlischen Vater stammte. Darum kann er auch in einzigartiger Weise Vertrauen mitteilen, wie wir es inmitten von Pessimismus und Oberflächlichkeit brauchen. Was kann heute den Mut geben, auf eine Erneuerung des Christentums und der Gesellschaft zu warten, wenn nicht das Gefühl unlöslicher Verbundenheit mit Gott?!

Wer übrigens einen biblischen Beweis dafür haben will, daß Jesus von seinen ersten Anhängern wirklich so und nicht anders verstanden worden ist, den bitten wir, den Bericht über die ersten Christen in Jerusalem nachzulesen.

An allem aber, was wir in diesem Abschnitt gesagt haben, ändert die größere oder geringere Neigung zu historischer Kritik der Evangelien sehr wenig. Auch der kritische Historiker muß zugeben, daß es eine Zeit gegeben hat, wo Christus im Sinne der Evangelien geglaubt wurde. Auf diesen Glauben wollen wir zurückgehen, so gut wie Luther auf Paulus zurückgriff. Fortentwicklungen im Bereich der Religion können nur auf dem Wege der Renaissance des Urchristentums entstehen, denn Religion ohne Offenbarung ist ein leerer Wind.

Die Maschine ist nichts Unchristliches, denn Gott will sie. Gott redet zu uns durch die Tatsachen der Geschichte. In Tatsachen hat er seit Jahrzehnten lauter und lauter zum Christenvolk gesprochen: Ich will die Maschine. Wer konnte sie aufhalten, da Gott sie wollte? Alle Seufzer der Christen haben den Fortschritt nicht hemmen können. Sie kommt, sie kommt die neue Zeit, sie kommt von Gott. Das ist die Hauptwahrheit, die wir uns heute einprägen wollen: Gott will den technischen Fortschritt, er will die Maschine.

Jesus Christus!
O Herr Jesus, wie wenig kennen dich die Leute! Sie denken, du wärest so etwas gewesen wie ein Prediger, der den Menschen sagt: stille, stille, haltet den Mund und laßt der Welt ihren Lauf! O wenn doch die Leute das Evangelium lesen wollten, da würden sie vieles finden, was sie wundern muß. Da finden sie, daß du auch eine Geißel in der Hand hattest und Wehe rufen konntest: Wehe, wehe! siebenmal! Das haben wir vergessen. Wir haben deine Worte, aber nicht deinen Geist, deinen gewaltigen Mut, deine rückhaltlose Offenheit, deine göttliche Selbstlosigkeit. Was hast du denen gesagt, die der Witwen Häuser fressen? Wie redest du vom reichen Kornbauern? Wie maltest du den Pharisäer an die Wand! O Herr, wenn ich denke, wie du mit den reichen Leuten geredet hast, wie du vor dem Hohenpriester standest, wie sie dir nachsagten, du regtest das Volk auf, wenn ich in stillen Stunden das Evangelium von dir in der Hand habe, dann weiß ich nicht, ob wir schlaffen, matten, furchtsamen Menschen von heute ein Recht haben, uns nach dir zu nennen. Es kommt mir vor, als müßten wir alle erst noch einmal in die Schule gehen und lernen, wie Jesus eigentlich war. Bei dir ist Glut, bei dir ist Wucht, bei uns ist Mattigkeit. Erbarm‘ dich unser, o Jesu!

O Herr Jesu, der du gesessen hast bei den Zöllnern und Sündern, der du Zeit hattest und Herz hattest für die armen Leute, der du mit Fischern und Landleuten wandertest und dein reiches Leben in ihre arme Brust hineinschüttetest, der du den Blinden halfest und den Lahmen die Hand reichtest, der du die Mühseligen riefest, der du auch für Kinder und Witwen nicht zu hoch warest, ach laß uns immer wieder von dir lernen. Wir wollen uns zu deinen Füßen setzen und da fühlen, was wahres Christentum ist. Dann wird es uns so wunderlich vorkommen, wie die Christen sich streiten, sich verdrängen, sich hassen. Es will alles, was wir sehen, nicht zu dem passen, was wir von dir erfahren. O Herr, wenn du wiederkommen könntest, mit Fleisch und Blut, mit Mund und Hand wie wir, was würdest du wohl tun? Du würdest lieben, helfen der Armut deine Hand reichen. Es könnte sein, daß die Menschen dich wieder kreuzigten. Du würdest dich für sie wieder kreuzigen lassen. Ach zeige uns allen deine Liebe, damit unser Christentum ehrlich und kräftig werde! O komm, Herr Jesu!

Aus: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Herausgegeben von Wolfgang Philipp (S.220-225)
In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VIII, Sammlung Dieterich
Carl Schünemann Verlag Bremen