Friedrich Naumann (1860- 1919)
Deutscher Politiker und evangelischer Theologe, der sich nach einer Missionspfarrertätigkeit der christlich-sozialen Bewegung anschloss und im »Evangelisch-sozialen Kongress« tätig war, wo er als Führer der »Jungen« in Gegensatz zu den Konservativen um Adolf Stoecker geriet. 1896 regte er die Gründung des Nationalsozialen Vereins an. Während er die parlamentarische Demokratie als Voraussetzung für die Lösung der sozialen Frage forderte, unterstützte er außenpolitisch eine imperialistische Politik, damit Deutschland sich auf dem Weltmarkt behaupten könne (»Demokratie und Kaisertum«). Nach dem Scheitern des Vereins trat er 1903 der »Freisinnigen Vereinigung« bei und förderte den Zusammenschluss linksliberaler Gruppen zur Fortschrittlichen Volkspartei (1910). 1907—18 war er – mit einer kurzen Unterbrechung in den Jahren 1912/13 - Mitglied des Deutschen Reichtags. Während des 1. Weltkriegs stellte er ein Programm für eine mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft auf (»Mitteleuropa«, 1915). 1918 war er einer der Mitgründer der Deutschen Demokratischen Partei und seit Juli 1919 deren Vorsitzender. Naumanns Wirken hatte beträchtlichen Einfluss auf die junge Generation der Jahrhundertwende, insbesondere auf deren soziale Vorstellungen. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Im Eisenwerk
Prophetischer Sozialismus
>>>Christus
Jesus, der Sozialist
Im
Eisenwerk
Einige Männer in schweißgebleichten blauen Kutten arbeiten unten
am Hochofen und entfesseln das fließende Eisen. Fließendes Eisen
ist an sich etwas Eigenes und überrascht, sooft man es sieht, hier aber
kommt es als langer, doppelter Bach mit einer Art natürlicher Unerschöpflichkeit
herausgeronnen, ein Bach wie aus einem geträumten Jenseits voll unsagbar
glänzender Glut. Man weiß, dass jeder Schritt in diesen Bach
den Tod bedeutet, und fühlt die beständige Lebensgefahr der Blaugekleideten,
bei denen jede kleine Unvorsichtigkeit sich so unvergleichbar härter rächt
als bei den Menschen harmloserer Berufe. Für uns alle stehen diese Blaugekleideten
am Fuße des feurigen Ofens, denn unsere Kultur quillt aus dem Loch, das
sie mit ihren Stangen öffnen und schließen. Sie sind die Türhüter
der Maschinenzeit, und doch sind sie selbst nur Knechte dieser Zeit, deren Glanz
an ihnen vorübergleitet wie der brennende Bach. Wieviel solcher und ähnlicher
Leute umstehen das Eisen, bis es zur Stahlfeder wird, mit der ich schreibe!
Diesen Leuten sagt der Prediger am Sonntag in der Kirche: alle Berufsarbeit
ist Gottesdienst! Sie glauben ihrerseits, dass alle Berufsarbeit Herrendienst
sei, denn nur als Herrendienst und nie als freies, selbst-gesuchtes Schaffen
kennen sie die Arbeit. Immer waren und blieben sie ersetzbare, wechselnde Einzelkräfte,
die man wegschickt oder heranholt, wie es gerade sich findet. Das Dauernde,
Bleibende sind die Hochöfen in ihrer glühenden Majestät, das
Kommende und Gehende sind die Menschen, die ihnen dienen. Was den einzelnen
mit dem Hochofen verbindet, ist der Lohn, nur der Lohn. Diesen Leuten also sagt
der Geistliche: Euer Beruf ist Gottesdienst! Hat er recht, so zu ihnen zu sprechen?
Der Gott, dem der Mann am Hochofen dient, sieht etwas anders aus als der Gott
Abrahams, Isaaks und Jakobs. Jener Gott der Hirten war ein friedevoller Vater:
Er weidet mich auf grüner Aue und führet mich zum frischen Wasser,
er erquicket meine Seele! Auch der Gott im feurigen Busch, den Moses sah, war
anders. Was hat die wildlodernde Flamme in der Wüste mit diesen organisierten
Gluten zu tun?
Wie aber ist es möglich, dass der Blaugekleidete gelegentlich in seiner
Arbeit die Empfindung hat, die der Hirte auf sonniger Halde so leicht bekommt:
Gott ist gegenwärtig?
Ein altes merkwürdiges Wort sagt, dass Gott seine Engel zu Winden
macht und seine Diener zu Feuerflammen. Das heißt für uns: Dort wo
die Hirten Engel sahen, sehen wir gewaltige Naturkräfte. Diese Naturkräfte
werden dem Reiche Gottes unter den Menschen dienstbar, wenn sie in feste Bahnen
gezwungen werden. Die Gluten und Gebläse müssen mithelfen, dass
es besser wird unter den Menschen, sie sind Urkräfte einer neuen Zeit.
Als solche müssen sie geglaubt werden, denn noch liegt die neue Zeit, die
aus der Technik geboren wird, im Schoße der Zukunft. Noch hat sie ihren
Segen nicht enthüllt. Aber nur in diesem Glauben kann überhaupt die
Arbeit in der Technik einen religiösen Wert bekommen. Wir müssen glauben,
dass Gott nicht nur in den Wolken des Sinai vor Zeiten gewohnt hat, sondern
dass er in dem Hochofen nicht weniger allgegenwärtig ist als im Hain
Mamre. Gott ist im modernen Getriebe. Wenn er es nicht ist, dann hat es keinen
Zweck, ihn vor Menschen zu verkündigen, deren ganzes Leben an Bäche
fließenden Eisens gepflanzt ist.
Prophetischer
Sozialismus
Die Frage »Was heißt Christlich-Sozial?« ist von weittragender
Bedeutung, denn in ihr liegt ein großer Teil der Hoffnungen und Aufgaben,
die unser Volk hat. Sie ist recht eigentlich die Frage der Zukunft. Ich rede
von ihr als ein einzelner, der ein rein persönliches Bekenntnis aussprechen
will, denn die christlich-soziale Strömung im evangelischen Deutschland
ist jetzt erst in dem Stadium, in dem die Sozialdemokratie in den sechziger
Jahren war, d. h. sie birgt noch eine Vielheit unausgeglichener Meinungen in
sich, die sich erst aneinander reiben müssen, damit klare, einheitliche
Formen entstehen. Wir sind in dem glücklichen und gefährlichen Stadium
der ersten Werdelust. Überall erwacht, besonders in den Pfarrhäusern,
evangelisch-soziale Neigung. Während Hofprediger Stoecker mit seiner Form
des Christlich-Sozialen lange Zeit hindurch wenig Mitarbeiter fand, füllen
sich jetzt die Veranstaltungen des evangelischsozialen Kongresses mit Hunderten
von Köpfen, die gern den Punkt wissen möchten, wo etwas getan, organisiert
werden kann. Die evangelischen Arbeitervereine fassen bereits 75000 Menschen
in sich und sind in gutem Wachstum begriffen. Aber freilich, was alle diese
Leute als eine einzige Gruppe erscheinen läßt, ist nur die allgemeine
Idee, daß das Christentum im sozialen Leben eine hilfreiche Macht sein
könne und müsse. Über das ,,Wie“ gehen die Gedanken und
Stimmungen noch auseinander.
Uns ist das Christlich-Soziale nichts Fertiges, sondern etwas Werdendes. Die
neue Gedankenmacht schwebt über uns und wir ringen mit ihr. Wir haben kein
fertiges Handbüchlein oder etliche wenige Hauptsätze, die unseren
Kasten füllen, sondern die Zukunft umgibt uns wie ein Nebel, voll von geistiger
Zeugungskraft. Wir fühlen, daß nicht wir das Christlich-Soziale besitzen,
sondern das Christlich-Soziale hat uns, es schiebt uns, hebt uns, trägt
uns, läßt uns rudern und ringen, läßt uns jauchzen und
seufzen, es kommt über uns als Kraft und Gnade, als Zwang und Druck. Wir
wählen nicht einen Weg, weil er uns klug scheint, sondern eine neue Welle
des Volkslebens rauscht heran, und wir liegen zufällig gerade da im Wasser,
wo sie sich beängstigend emporhebt. Das mag meinen Lesern wie Mystik klingen,
aber ich kann daran nichts ändern, daß eine religiös-soziale
Strömung, wenn sie ernst sein soll, etwas Mystisches in sich tragen muß.
Wir müssen fühlen, daß Gott in uns arbeitet, wie er in den Propheten
des Alten Testaments gearbeitet hat. Es muß der innere, in sich selbst
gewisse Drang vorhanden sein, wenn etwas werden soll. Gerade, wo wir jetzt so
viele Parteien haben, die nur noch durch Sätze, aber nicht mehr durch innere
Gewalt zusammengehalten werden, ist es eine Grundfrage, ob eine neue Bewegung
einen eingeborenen Schöpfungstrieb hat oder ob sie entsteht wie ein Rezept,
in welchem etwas Sozialismus und etwas Monarchismus mit etlichen Gramm Kirchlichkeit
mit einem kleinen Zusatz Aufklärung nach bestem Willen sorgfältig
gemischt werden. Aber gerade, weil wir das Christlich-Soziale als eine Wucht
und Kraft empfinden, gerade darum ist es nötig, das Empfundene, soviel
wie möglich, in feste, einfache Worte zu fassen. Wir müssen die Noten
finden zu dem stürmischen Frühlingsgesang, der unsere Seele füllt.
Ohne diesen Prozeß der Umsetzung des Gefühls in Worte nützt
die Begeisterung gar nichts; — dieser Prozeß aber ist erst im Beginnen.
Die christlich-soziale Zeit kommt erst nach der sozialdemokratischen Zeit. Wir
halten es für vergeblich, wenn man das christlich-soziale Pferd vor den
Wagen der alten Ordnung spannen will. Wie die Sozialdemokratie den Liberalismus
beerbte, so wird das Christlich-Soziale die Sozialdemokratie beerben. Darm unterscheiden
sich für uns die Gestaltungen des öffentlichen Lebens, ob sie vor
oder hinter der Sozialdemokratie stehen. Was vor der Sozialdemokratie steht,
die bürgerliche Weltanschauung, das heutige Gesellschaftsgefüge, das
ist nicht das Ziel unseres Denkens. Wir haben nicht vor, Schutzwächter
einer zerbröckelnden Vergangenheit zu sein. Wie das Christentum in seinen
ersten Jahrhunderten eine Kraft der Erneuerung war, so allein können wir
uns heute lebendiges Christentum vorstellen. Wir kennen in der ganzen Welt nichts
Fortschrittlicheres, Zukunftvolleres, Umgestaltenderes und Hinreißenderes
als wirkliches Christentum. Ein Glaube, der nur Efeu für alte Mauern und
Türme ist, ist uns innerlich ganz unverständlich. Das Evangelium ist
uns wie schmelzende Glut, Kraft einer neuen Epoche. Wie die Sozialdemokratie
an den bürgerlichen Liberalismus anknüpfte und doch im Kern ihn negierte,
so wird das Verhältnis von christlich-sozial und sozialdemokratisch sein
müssen. Die Sozialdemokratie wird noch eine ganze Zeit weiter wachsen.
Daran hindert es sie auch nicht, wenn in den großen Städten die intelligenteren
oder radikaleren Genossen mit der Partei nicht immer ganz zufrieden sind. Was
die Sozialdemokratie etwa da oder dort einbüßt, gewinnt sie in den
Provinzen reichlich wieder. Der Fortschritt der Sozialdemokratie bis zur Höhe
einer Partei, die im Staatsleben etwas Bedeutendes zu sagen hat, kann unseres
Erachtens, bei Fortdauer friedlicher Gesamtverhältnisse, nicht gehindert
werden. Die Stoßkraft aber, mit der die neue Maschine in den alten Apparat
eingreifen wird, hängt sehr von dessen Elastizität ab. Jedenfalls
aber steht für uns fest: die Sozialdemokratie kann die Welt nicht aus den
Angeln heben, denn wenn sie die Majorität der Wähler annähernd
vielleicht erreicht, wird ihre revolutionäre Kraft zum guten Teil verdampft
sein. Wir werden, so denken wir, erleben, daß die sozialdemokratischen
Einflüsse auf die Weltgeschichte ebenso stark werden, wie die Einflüsse
des bürgerlichen Liberalismus waren. Es wird vieles von den Einzelforderungen
der Sozialdemokratie durchgesetzt werden, aber Volk und Monarchie, Glaube und
Kirche haben ein längeres Leben, als es Parteien haben können. Auch
dann noch wird die Sonne über Deutschland scheinen, wenn Bebel da ist,
wo jetzt Lasker ist, und wie die Sozialdemokraten ihre Waffen schmiedeten, als
die Bennigsen, Lasker, Bamberger in die Höhe stiegen, so sitzen wir Christlich-Sozialen
jetzt in der Schmiede, während die Bebel, Auer, Liebknecht das Gefilde
durchdröhnen.
Natürlich kann eine Bewegung, die nach der Sozialdemokratie kommen will,
in wirtschaftlichen Dingen nicht tun, als hätte es niemals einen Marx oder
eine große deutsche Arbeiterpartei gegeben. Wir
müssen die wirtschaftlichen Gedanken genau an dem Punkte weiterdenken,
wo der Sozialdemokrat aufhört. Er theoretisiert, wir müssen Detailarbeit
treiben; er denkt immer an die Gesamtgesellschaft, wir müssen an die Teile
dieser Gesellschaft, an Arbeitslose, Tagearbeiter, Industriearbeiter, Tagelöhner,
Bauern, Handwerker, Kaufleute, Beamte in ihrer Besonderheit denken. Was wir
aber dabei von der Sozialdemokratie übernehmen müssen, ist der Gesichtspunkt
,,von unten her“. Wir bearbeiten die soziale Frage vom Standpunkte der
Bedrängten, für die Bedrängten und mit den Bedrängten. Nur
so sind wir ehrlich ,,Christlich-Sozial“.
Aus: Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert.
Herausgegeben von Wolfgang Philipp (S.215-220)
In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias
Schröder Band VIII, Sammlung Dieterich
Carl Schünemann Verlag Bremen
Fortsetzung