Christian Morgenstern (1871 – 1914)
>>>Gott
Was
ich an Christus verstehe
Wenn ich etwas an Christus verstehe, so ist es das: »Und entwich vor ihnen
in die Wüste.« S.160
Es gibt wenig gewaltigere Dinge als den Schluss des Johannes-Evangeliums. Zuerst die dreimalige Frage an Simon Johanna: »Hast du mich lieb?« Es ist, als ahnte und fürchtete Christus das ganze Papsttum voraus, die
ganze offizielle Kirche, die ihn unzählige Male vergessen und verraten
sollte. »Weide meine Schafe!« Eine welthistorische Szene. Und Christus verkündet ihm seinen Tod. »Und da er das gesagt, spricht er zu ihm:
Folge mir nach!« »Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger
folgen, welchen Jesus lieb hatte...« »Da Petrus diesen sah, spricht
er zu Jesu: Herr, was soll aber dieser?« »Jesus
spricht zu ihm: So ich will, dass er bleibe, bis ich komme, was geht es
dich an? Folge du mir nach!« »Da ging ein Reden aus unter
den Brüdern: Dieser Jünger stirbt nicht. Und Jesus sprach nicht zu
ihm: Er stirbt nicht, sondern: So ich will, dass er bleibe, bis ich komme,
was geht es dich an?« — Keine Szene mehr, ein Mysterium: Dieses
Vorbei Christi an dem andern, dieses allerletzte Wort — nach dem letzten
— an den Vertrauten seiner Seele. — »Was
geht es dich an?!« — »Bis ich komme. —«
S.247f.
Frage dich nur bei allem: »Hätte Christus das getan ?« Das
ist genug. S.291
Jeder kann von Christus etwas fortnehmen. Verstehen aber wird ihn alle fünfzig
Jahre — vielleicht — Einer. S.291
A. Was, was ist‘s, was den Menschen von Christus trennt: sagen Sie mir
das, können Sie mir das sagen?
B. Ja, das kann ich. Der Philister in ihm. S.305
Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang des Christentums. S.305
Die Gotteskindschaft
und Gottheit Christi
Der beste Beweis für die Gotteskindschaft Christi ist der, daß es
Zeiten gab, wo jeder Teufel vor einem Kreuz die Flucht ergriff. S.244
In Christus ist zum erstenmal auf der Erde Gott selbst sich zum Bewußtsein
gekommen. In Christus erkannte Gott als Mensch zum erstenmal sich selbst. Seitdem
sind fast zweitausend Jahre vergangen. Aber freilich: »Tausend
Jahre sind vor Ihm wie ein Tag.« S.282
Man empört sich gegen die Gottheit Christi — als liege man selbst
in Hose und Rock nicht als ein Stück — Gottheit herum. S.282
Die Hochzeit zu Kana. Christus verwandelt Wasser in Wein: Was bisher als Wasser
(Mensch) gegolten, wird durch sein Offenbarungswort Wein (Gott). S.305
So wie der winzige Same in die Erde fällt, um die Urpflanze zu wiederholen
und nicht nur zu wieder holen, so ist der Mensch ein. Samenkorn Gottes. Die
Sonne aber, die ihn reift, ist Christus. S.317f.
Das
Mysterium von Golgatha
Immer wieder kommt mir die Szene auf Golgatha ins Gedächtnis, immer wieder
komme ich zu mir selber wie Christus und frage mich: Und du schläfst! Und
ich fahre auf und Scham übergießt mich ganz und ich erwache zu mir
selbst. Aber nur ein Kleines, so bin ich wieder im Halbschlaf. Und wieder tritt
mein Selbst an mich heran, rührt mir ans Herz, daß ich wie verwundet
aufschrecke und zum wievielten Male! S.291
Wir sollten wohl so vor dem Mysterium von Golgatha empfinden: Nicht nur: ein
Gott opfert sich für seine Welt. Sondern ebenso: er opfert sich für
seine Welt. Für seinen eigenen ungeheuren
tragischen Schöpfungsprozeß, Schöpfungskomplex. Oder, um die
Majestät dieses Unausdenkbaren zu mildern: für den Menschen, seinen
Sohn, seine Tochter. Denn vielleicht ist für den Gott, dem die Entwickelung
seiner Schöpfung, seines Geschöpfes vor Augen steht, die von ihm selbst
so verhängte und heraufgeführte Art und Notwendigkeit dieser Entwickelung
ein noch ganz anderer Schmerz, als der seines Kreuzweges und Opfertodes. Vielleicht
wird Christus erst dann von uns noch ganz anders ahnungsvoll begriffen werden,
wenn wir uns in die Tragik eines Weltenschöpfers zu versenken suchen, dessen
Wesen Liebe ist — stark und unaufhörlich wie die Sonne —, dessen
Wille es ist, selbständige ebenbürtige Weltengötter, Weltenschöpfer,
durch Äonen und Äonen heranreifen zu lassen, und dessen abgrund-tiefe
Weisheit es ist, den Schmerz in allen seinen Graden und Formen als Bildner zu
wollen oder doch wenigstens zuzulassen. Glaubst du nicht, daß Sein Leid
über alle Leiden der Welt das Leid all dieser Leiden übertrifft —
denn noch wie anders leidet ein Gott als ein Mensch —? Sollten wir nicht
dieses Leiden des Gottes Christus, als Gottes, zu sehr verkennen hinter dem
Leid des Gottes Christus, als Menschen, in der Maja des Jesus von Nazareth?
S.308f.
Aus Christian Morgenstern: Stufen. Eine Entwicklung
in Aphorismen und Tagebuch-Notizen
Herausgegeben von Margareta Morgenstern und Michael Bauer
Copyright 1918 by R. Piper Verlag, München