Christian Otto Josef Wolfgang Morgenstern (1871 – 1914)
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Deutscher Schriftsteller, Redakteur, Journalist, Übersetzer und Dramaturg, der meist in der Schweiz und Italien lebte, an Tuberkulose starb und durch seine tiefsinnig grotesken »Galgenlieder« 1905 bekannt wurde.Sein gedanklicher Weg von Arthur Schopenhauer über Friedrich Nietzsche zu Rudolf Steiner (Mystik und Anthroposophie) spiegelt sich insbesonderein seinen Aphorismen (»Stufen« 1918 postum ) und in seinen menschlich innigen Gedichten »Wir fanden einen Pfad« 1914, wider |
.Inhaltsverzeichnis
Stufen Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen
Natur, Irrtum und Wahrheit, Erkennen, Kunst
Gottesbegriff, Dreieinigkeit, Das Bürgerliche in Gott, Mysterium
Tod, Gericht, Wiederverkörperung
Der Tod Gottes, Selbstvergötterung, Übermensch
Religion
>>>Christus
Was ich an Christus verstehe
Die Gotteskindschaft und Gottheit Christi
Das Mysterium von Golgatha
Stufen - Eine Entwicklung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen
Natur
Durch die Natur beruhigt sich Gott selbst immer wieder. Wehe, wenn er als Mensch
in dem unseligen Fieber der Zivilisation. sich selbst als Natur zerstört
haben wird. S.23
Was tut die Blume wohl mit Gott? Sie lässt sich Gott gefallen. In
der Blume, als Blume träumt er seinen schönsten Traum, da widerstrebt
ihm nichts.S.23
Im Menschen vollendet sich und endet offenbar die Erde. Der Mensch — ein
Exempel der beispiellosen Geduld der Natur. S.298
Wer mag denn wissen, ob unsere Erde in der Rangstufe der Planeten nicht eine
der untersten, niedersten ist? Ob sie der Mehrzahl anderer Wandelsterne nicht
etwa vorkommen möchte, wie einem Paris, einem London der Marktflecken Schildburg,
oder wie einem Lionardo sein Hund oder sein Pferd.
S.298
Ist dies nicht alles Schöpfung, merkwürdige, wunderliche Schöpfung?
Dieser Schrank, diese Bettstatt, dieses ganze Zimmer? Ist nicht dies alles aus
Einem Grundgedanken heraus entstanden, aus Einem mathematischen Grundgedanken?
Stimmt darin nicht alles irgendwie zusammen?
Und von diesem Gedanken: dass dies alles Schöpfung aus dem Nichts
ist! — ist es da noch weit zu dem Gedanken eines Schöpfers und ganzer
Reiche und Stufenfolgen von Helfern desselben — noch weit zu dem Gedanken,
dass hinter allem und jedem — Geist steckt, und nicht bloß
alleiner, unterschiedloser Geist, sondern differenzierter, tausendfältig
gearteter, gestufter Geist? Ist vom Staunen über Mensch, Tier, Pflanze
und Mineral mehr als ein Schritt zum Ahnen unsichtbarer Wesenheiten, und davon
mehr als ein Schritt zum Glauben, dass es Lehren und Lehrer geben könne,
nein, zur Überzeugung, dass es Lehren und Lehrer geben — müsse,
in jene Geisterwelt offenen Sinnes hineinzudringen... S.319f.
Irrtum und
Wahrheit
Eine Wahrheit kann erst wirken, wenn der Empfänger reif für sie ist.
Nicht an der Wahrheit liegt es daher, wenn die Menschen noch so voller Unwissenheit
sind. S.258
Der Irrtum ist das formbildende Prinzip. Wahrheit kann nur als Irrtum zur Erscheinung
kommen. Alles Daseiende selbst ist Irrtum, aber Gott entwickelt sich, wird (ist) nur dadurch, dass er sich beständig »verrennt«, verstrickt,
verwickelt, zu Knoten schürzt, dass er sich selbst beständig
Stationen schafft. Er würde wie ein Meer ins Unendliche verfließen
— wenn er sich nicht fortwährend selbst im Netz gleichsam der Einzelerscheinung
finge, diese Netzerscheinung wie als ein bereits Endgültiges zu höchster
relativer Vollkommenheit emportriebe: um, wenn das ursprüngliche Netz sozusagen
völlig in sie hineingenommen, nun den Persönlichkeitskern als Eigengewinn
davon zurückzubehalten, das andere wieder zerfallen zu lassen. S.275
Kein größerer Irrtum als der: der Mensch sei dazu da, es jemals gut
zu haben. Nie gut haben soll er es — außer höchstens, dass
ihm die Kraft zu weiteren Kämpfen wachse —, denn sonst »bekäme«
er es nie »gut«; dann nämlich, wenn er, nach Äonen und
unzähligen Wandelungen, seinen Kosmos absolviert haben wird, und eine Heerschar
Gottes-Söhne mehr zu neuem Schaffen gereift steht. S.310
Wen Gott lieb hat, den züchtigt, den — züchtet er. Und so ward
er die Welt, Sich Selbst zur — Zucht. S.310
Im Grunde gibt es den einzelnen Menschen gar nicht. (Er bildet sich‘s
bloß ein.) S.311
Erkennen
Glaube mir, es gibt nichts Großes ohne Einfall. Der Mensch, das Individuum
ist Gottes Einfalt, ist einfältig gewordene Gottheit. In der Beschränkung
zeigt sich erst der Meister. S.127
Mein einziges Gebet ist das um Vertiefung. Durch sie allein kann ich wieder
zu Gott gelangen. Vertiefung! Vertiefung! S.148
Man fragt sich oft: wie ist es möglich, dass dieser große Intellekt
dies und jenes nicht gesehen oder seines Blicks nicht gewürdigt haben sollte.
Aber ebenso übersehen vielleicht unsere Zeitgenossen Dinge, von denen wieder
Spätere nicht begreifen werden, dass sie für uns offenbar völlig
im Schatten lagen. Man darf wohl sagen: jeder Blick vorwärts ist zugleich
ein Nichtbeachten dessen, was zur Seite liegt. Der Geist gleicht einer Granate,
deren Gebiet das vertikale Segment zwischen dem Punkt ihres Ausflugs und dem
ihres endlichen Aufschlags ist. S.236f.
Frage die Philosophie sich erst einmal: »wo bin
i c h hergekommen?« S.237
Alle Geheimnisse liegen in vollkommener Offenheit vor uns. Nur wir stufen uns
gegen sie ab, vom Stein bis zum Seher. Es gibt kein Geheimnis
an sich, es gibt nur Uneingeweihte aller Grade. S.237
Zu Ende denken ist alles... Da wäre das erste, diesen Satz zu Ende zu denken.
Will man ihn zu Ende denken, so darf man ihn nicht »zu Ende« denken
wollen. Denn alles Ende endet alles, also auch das Denken. Alles, also auch
alles Denken, endet in Gott. Gott ist, wie der Anfang, so das Ende von allem.
Etwas zu Ende denken wollen heißt also, es bis zu Gott hinaus denken wollen;
Gott aber hat mit Denken nichts mehr zu schaffen.S.241f.
Wenn einer heute in zehn Büchern dargetan, daß der Mensch nichts
wissen könne über Gott und die Welt, dann nennt er sich, dann nennt
ihn seine Mitwelt einen »Wissenden« und erbringt damit den Beweis,
dass man zehn Bücher schreiben und zehn Bücher lesen und doch
noch nicht so weit sein kann, sich folgerichtig auszudrücken. S.242
Wer Gott aufgibt, der löscht die Sonne aus, um mit einer Laterne weiterzuwandeln. S.243
Was ist »persönlicher Gott« anderes als der Riesenschatten,
den wir selber auf den Vorhang der ewigen Mysterien werfen. S.245
Sieh, wie deine Studierlampe sich an die Zimmerdecke projiziert. So projizierst
du dich auf die Wand des Außer-Dir. Wie du dich dort siehst, das nennst
du »Welt«, das Bewusstsein dieses (dich) So - Sehens deine
»Weltanschauung«. S.245
Das Ich ist die Spitze eines Kegels, dessen Boden das All ist. S.245
Die Welt ist nur eine Form des Menschen. S.245
Wenn man den Sternenhimmel mit Ernst betrachtet, wird man gestehen müssen,
daß Gott, der Schöpfer, der größte Gedanke war, der je
in ein Menschengehirn kommen konnte, wie zugleich Gott, der Sittenrichter, einer
der beschränktesten. Aber so gewiss der letzte unzählige Male
bis zu Ende gedacht worden ist, so ungewiss ist es, ob der erste je in
seiner ganzen unerhörten Mächtigkeit Herz und Hirn eines Sterblichen
ergriffen und zerstört hat. S.245f.
Leben ist die Suche des Nichts nach dem Etwas. S.246
Immer wieder: Nicht so sehr, was wir denken, ist das Höchste. Das Höchste
ist das Denken selbst. Es allein verbürgt uns mit eherner
Sicherheit den mit uns geborenen Gott. S.305
Wer in das, was von Göttlich-Geistigem heute erfahren werden kann, nur
fühlend sich versenken, nicht erkennend eindringen will, gleicht dem Analphabeten,
der ein Leben lang mit der Fibel unterm Kopfkissen schläft. S.313
Kunst
Gesetzt also, es gäbe einen Gott, so wäre sein Glaube, die beste aller
Welten vor sich zu haben, verzeihlich. S.33
Die neue — die christliche — Tragödie wird überall erst
möglich sein, wenn der Mensch mehr und mehr aus der Materie erwacht. Ihr
Stoff wird die Tragik seiner dann endlich überschauten und klar gewordenen.
Entwickelung sein, und ihre Größe das dann noch ganz anders, weil
aus einem ungleich höheren Bewußtseins-und Verantwortungsgrund gesagte,
gesungene: Trotzdem! und Ja! und O Ewigkeit! O unsere Gottesewigkeit!
Ihr Geist wird aus der endlichen Erkenntnis dessen geboren werden, was der Mensch
verbrochen und was er gutzumachen hat; sie wird den schauerlichen Fall des Menschen
ins Ungeistige spiegeln und seine übermenschlichen Anstrengungen: Unsühnbar-Scheinendes
zu sühnen, Unbezähmbar-Widerstrebendes zu überwinden, Unwiederbringlich-Verlorenes
wiederzugewinnen. Erheben wird sich nach langen Geburtswehen endlich der Heerbann
des Verständnisses und der Liebe, und seine Siege und Niederlagen werden
fortan wie ein Ringen erwachter Götter erschüttern, wo heute der Tiefschlaf
des Sondermenschlichen erst vereinzelte Ahnungen zuläßt.
Laßt uns darauf demütig warten und dazu das Unsere tun, Körnlein
um Körnlein. Laßt uns uns dessen vertrösten in vielem Kleinkram
und Wirrwarr noch unserer Tage. S.44f.
Wer sich einmal in die Idee des Teufels, an dem Gott immer wieder zu schanden
wird, von dem er immer wieder zum Leben verführt wird, vertieft, dein wird
die Größe und Schönheit des Lebens fürder nicht Einwand
sein können: denn je unfaßlicher dieser Gott ist, desto unfaßlicher
wird auch die Kunst seines Teufels sein müssen, desto heiliger wird sie
erscheinen müssen, desto bejahungswürdiger die Welt für menschliche
Urteilskraft. S.287
»Die Welt« ist Gottes Weg zu seiner Schönheit. Überall
und immer duftet diese Wunderpflanze »Welt«. Um dieses Duftes willen
ist sie da; er ist ihre Schönheit, ihre »Seele«, »Gottes«
— Seele. S.287
Wir sind nie wirklich aus dem Paradiese vertrieben worden. Wir leben und weben
mitten im Paradiese wie je, wir sind selbst Paradies, — nur seiner unbewußt,
und damit mitten im — Inferno. S.287
Im Geist erst wird die Natur, wird Gott tragisch. Was ist der Mensch? Die Tragödie
Gottes. S.287
Kunstwerk der einzelne, Kunstwerk sein Volk, Kunstwerk die ganze Erde — das ist das Ziel. S.291
Gottesbegriff
»Gott ist nur der Lebensfunke.« Schön. Dieser Funke aber bildet
Sterne und Gehirne. Ja, er legt mir selbst das Wort Gott über sich in den
Mund. Und so brauch ich‘s denn. S.253
Was es gilt, ist die Austreibung Gottes aus allem Jenseits in das Diesseits.
Gott ist nicht irgendwo, er ist auch nicht hier oder dort, sondern er ist dies
und das, und drittes und legionstes. S.253
Gott ist die Überwältigung unseres Inneren durch die Unendlichkeit.
Die Kapitulation des menschlichen Begriffevermögens vor der Welt. S.260f.
Mein Gottesbegriff ist die Heiligung auch des Allerfurchtbarsten. Alles, was
geschieht, ist Mein bewußter oder unbewußter Wille und als solcher
unantastbar. Damit aber fällt zugleich die übertriebene Wichtigkeit
alles Geschehens dahin. Alles ist wichtig — als göttliche Äußerung;
und nichts ist wichtig — ebenfalls als göttliche Äußerung.
Gottheit ist Fülle, und Fülle weiß nichts von dem, was sich
Kümmerlichkeit als Gewinn und Verlust herausrechnet. Es gab zu lange nur
den Gott des Bürgers, Gott sah sich selbst als Bürger: den aber hat
sein eignes Lachen töten müssen. Aus dem Gott-Bürger wurde der
Gott-Freie, aus dem komischen wieder der tragische Gott.
S.261
Dies Bewußtsein wenigstens habe ich: mein höchster Gedanke hat nichts
zu tun mit dem Äußerlichen meines Lebensganges. Ich bin nicht von
denen, die zur Wiederaufnahme der Gottesidee durch irgend etwas getrieben worden
sind, als da ist unterdrückte Sinnlichkeit, Einsamkeit der Seele, Verzweiflung
an sich und der Welt oder Ähnliches. Ich kenne diese Zustände wohl,
aber ich wäre nie vor ihnen zu einem neuen Gottes-Begriff geflohen: wie
denn dieser auch weder »heut« noch »erlöst«. Diese
Idee ist vielmehr aus meiner innersten Natur herausgewachsen, ich kann ihre
Anfänge bis in mein zweites Jahrzehnt zurückverfolgen, in dessen Mitte
etwa ein ganz spezifisch philosophisches Interesse in mir erwachte. Ihr endliches
Zutagetreten hängt sehr stark mit der Art meines Schauens zusammen, das
mir manchmal erlaubt, sehr in die Dinge zu versinken oder auch; die Dinge gleichsam
in mich hineinzunehmen, und mir damit das Michejusfühlen mit allem zu einem
natürlichen Gefühl macht.
Ebenso hatte ich stets das Gefühl des Zusammenhangs in so hohem Maße,
daß ich mich von Vorstellungen solcher Art nicht losmachen konnte, wie
diese etwa, daß meine Hand, von a nach b bewegt, das ganze Weltall in
Mitleidenschaft ziehen müsse. S.279f.
Was sagt Meister Ekkehart anders als: zerbrich alle Sprache und damit alle Begriffe
und Dinge; der Rest ist Schweigen. Dies Schweigen aber ist — Gott.
S.280
»Gott« ist das einfache Ergebnis eines Subtraktionsexempels: ziehe
alles von dir ab, was abzuziehen ist, und der Rest ist — Mysterium. S.280
Gott ist nur ein Wort für »sich«. Das Tier hat keines dieser
beiden Worte. Es ist wortlos sowohl Ich wie Gott, das Wort erst spaltet das
Leben in Ich und Gott. S.280
Gott wäre etwas gar Erbärmliches, wenn er sich in einem Menschenkopf
begreifen könnte. S.284
Ich möchte bisweilen eine Erkenntnis in Form einer mathematischen Figur
geben, z. B. die Anschauung Gottes in Form einer Kugel, aus einem Mittelpunkt
strahlend. S.236
Im Kugelbegriff grenzt sich Gott gegen sich selbst ab. Gott ist, worin dieser
letzte Begriff als in seiner höheren Einheit aufgeht. S.300
Man muß Gott schon in Zwei teilen, wenn seine schönste Empfindung,
die Liebe, nicht allerletzten Endes Selbst-Liebe sein soll. S.319
Dreieinigkeit
Jahrhunderte stritten über das Wort Dreieinigkeit. Und doch enthält
es die Welt, für ein Kind gedeutet. Der Vater, das ist das Leben, das alles
ist und das der einzelne Mensch nie aus seinem Gehirn heraus fassen oder gar
erklären kann. Der Sohn, das ist dies selbe göttliche Leben als sich
erahnendes Wesen, als Mensch, als der Mensch Christus im besonderen. Der heilige
Geist, das ist das langsame Weitergären dieser Erkenntnis auf Erden: daß alles Gott ist. – S.252
Tief unten schlachten sich noch die Völker, es raucht das Blut, und in
Selbstzerfleischung fällt noch-Blindes sich selber an. Warum tue —
Ich das. Ich weiß es nicht. Die Menschheit ist noch ein Kentaur, der Heilige
Geist hat das Tier erst zur Hälfte verwandelt. S.253
Ich frage mich, welche innere Nötigung liegt meiner Handlungsweise zugrunde
(drücken wir es so aus): das Ding an sich Gott zu nennen. Meine aufrichtigste
Antwort lautet: Das ist des Dings an sich, das ist Gottes Sache selbst. Ich
bin — wie ich es ansehen kann — nur eine Etappe im ungeheuren Heer
und Komplex von Assoziationen, und wenn ich mich nun selbst psychologisch zu
deduzieren suchte, so wäre damit wohl nicht viel mehr getan, als wenn ein
Strudel jenes Baches dort unten die Art seines Gurgelns durch die Daten seines
Lokalen usw. erklären zu können glaubte. Nun gut. Welche Nötigung?
Die Nötigung, nicht haltmachen zu brauchen. Die Nötigung, mich mit
allem um mich durch ein p e r s ö n li c h e s Band verbunden fühlen
zu dürfen. Wenn diese Tanne da vor mir ein geistreicher Mechanismus ist
wie ich, so kann sie mir in jedem Augenblick unendlich gleichgültig, ja
widerlich werden. Aber sie ist kein Mechanismus, sie teilt — ob ich sie
nun als Du oder Erscheinung bezeichne — E i n Geheimnis mit mir, das Geheimnis
des Lebens. Wir sind Brüder als Erscheinungen, und unser Beider Vater als
Dinge. Ich, als Vater, erfülle mich erst im Menschen, als mir, dem Sohne;
als Sohn erst erfahre ich mich als den Vater. Oder: als Erscheinung erst werde
ich mir selbst — Erscheinung. S.284f.
Das
Bürgerliche in Gott
Der Mensch von 1900 scheint eine neue Tugend in sich gereift sehen zu dürfen:
die Erkenntnis des Bürgerlichen. Als das Bürgerliche bezeichne ich
das Absehenkönnen des Menschen davon, daß er das Geheimnis der Geheimnisse
ist, das Sichhinstellen- und Verharrenkönnen des Menschen als eines Zweiten.
Bürger heißt: der sich in seiner Burg Bergende. Bürger heißt
mir der Mensch, insofern er sich in der Burg des Gedankens birgt, etwas andres
als Gott selbst zu sein. Kein Mensch kann sich wirklich als Gott fühlen,
der er ist. Es kann Gott sich nur bürgerlich und nicht anders ergreifen.
Das Menschliche ist schlechtweg das Bürgerliche. S.255
Im Menschen erschuf sich das Ungeborgene seine Burg. Gott ist nichts Außerbürgerliches;
wo auch nur die kleinste Zelle, da ist Gottes Burg. Nun ist aber alles Zelle,
das Wort »wo« ist überflüssig, ebenso, wie wenn man sagen
wollte: wo (im Glase Wasser) auch nur ein Tropfen Wasser, da ist Gott in ihm.
Alles ist »Burg«. Seit Welt überhaupt ist, gibt es nur Gott,
den Geborgenen, den Bürger. S.255
Mysterium
Ich hatte mich in »Gott« verloren . .
.
Aber Gott will nicht, daß wir uns in ihm verlieren,
sondern daß wir uns in ihm finden
Ich schrieb dies auf einem Punkte, wo der Mensch mit Gott zusammenfällt,
wo er aufhört, sich als Sonderwesen fühlen zu können. S.249
Betrachte den Sternenhimmel — alles versinkt um dich her. Wer ist er,
wer bist du. Dein Denken schweigt. Du fühlst dich wie hinweggehoben, zerflattern
... Wer bist du, wer ist er, wenn nicht — Es. Das unfaßbare Selbst,
Gott, das Mysterium. Und dies Mysterium fragt in sich selbst: wer bin ich, wer
bist du. Gott fragt sich selbst in sich selbst — und weiß keine
Antwort, erstummt in sich selbst... S.249f.
Denke dir den einfachsten Menschen der Welt, mit einer oft lebhaften, leicht
und nachhaltig erregbaren Phantasie und einiger dichterischer Begabung, ohne
hervorragende Charaktereigenschaften, aber von dem beständigen Wunsch erfüllt,
sich zu verinnerlichen ein Schwächling, ja ein würdeloser Mensch mitunter,
ohne ausgeprägten Sinn für Moral, von einer Sinnlichkeit, die sich
wie eine feine Wärme über sein Leben verbreitet, deren eigentliche
Ausbrüche indessen nicht so sehr von Belang sind, so daß man bei
ihm zugleich von einer ihn häufig, wie die flamme das Licht, verzehrenden
Leidenschaftlichkeit und zugleich von einer sehr geringen Fähigkeit zur
Leidenschaft sprechen mag; dabei von einer angeborenen Heiterkeit des Geistes,
einer gewissen Neigung zu Spott und Gelassenheit, vielbelesen ohne irgendwie
fachlich gebildet zu sein, von schlechtem Gedächtnis, ungeübt und
träge im Dialektischen, durchdringend nur in seiner Ausdauer, immer nur
ein Ziel bewußt oder unterbewußt zu verfolgen: sich in seinem Zusammenhang
mit dem Außer-Ihm zu er k e n n e n; — denke dir einen solchen Menschen
eines Tages das Wort verstehen; »Ich und der Vater sind eins.« Denke
dir, wie er das Wort in sich hin und her wendet, mehr noch, es sich hin und
her wenden läßt; denn er springt auf seine inneren Erlebnisse nicht
zu, er läßt sie leben oder sterben je nach ihrer eigenen Kraft; wie
es ihn zum endlichen Bewußtsein seiner selbst zu bringen scheint, als
wäre alles andre Blindheit, vollkommene Blindheit: sich n i c h t als Gott
selbst — als das Eine und Alle, als das Einzig Bestehende zu sehen, als
wäre es geradezu eine »Ver-rücktheit«, sich »Gott«
gegenüber als irgend etwas anderes, Gegensätzliches, Seitliches, Beigeordnetes
oder gar Untergeordnetes zu fühlen, ja die Frage »Gott« überhaupt
noch irgendwie zu diskutieren, als müsse man — s i c h s i c h selbst
beweisen! »Ihr seid alle in mir, aber in wem bin ich? — Wer mich
hat, der hat auch den Vater. —«
Wie mich diese steten Wiederholungen einst ärgerten, wie einfältig
und eigensinnig sie mir erschienen; als ob ein Kind immer dasselbe wiederholte!
Bis mir eines Abends dämmerte, aus welchem Gefühl heraus dieses unermüdliche
Betonen geflossen sein muß ... S.250f.
Wenn einer die Welt bejaht, bejaht sie Gott, wenn sie einer verneint, verneint
sie Gott (und damit Sich). S.288
Gott sagt weder bloß ja noch bloß nein zu sich, sondern urewig ja
und nein. S.288
Wo einer keine Augen für sich — als Mysterium —hat, da hat
auch Gott keine Augen für sich, als Mysterium. Aber als der, als der er
Augen für sich hat, leidet er unter diesem andern, als der er keine Augen
für sich hat, und zürnt sich, dem andern, aus sich, dem einen. S.288
Die Welt könnte so groß angelegt sein, daß die unaufgelöste
Dissonanz eines ganzen Planeten als solche mit hineingehörte. Ein schauerlicher,
wahnwitziger Gedanke. Denn wer will seine Dissonanz — schon allein seine
ganz persönliche Dissonanz — nicht aufgelöst, und sei es auch
erst nach Äonen. S.288
Gott ist die Welt im Einzelnen wie als Gesamtheit Als Gesamtheit aber ist er
vielleicht eine Zweiheit von Mann und Weib. Einheit als Gott, Zweiheit als Welt.
Sagst du aber: Die Welt? das wäre wohl nicht genug, wenn nur das Gott wäre!
so frage ich: weißt du, wo die Welt aufhört, daß du von genug
und nicht genug redest? Wie kann etwas Un-Endliches »noch-genug«
sein oder »nicht-genug«?
Das ist gewiß: was auch von Gott, von Gottheit gedacht werden mag, kann
auch noch nicht an den Saum des Mantels seines Ernstes rühren.
S.288f.
Wenn Gott nicht die ewige Sehnsucht zweier Seelen zueinander ist — wenn
die Welt nicht der ewige Weg dieser zwei Seelen ist — so weiß ich
nicht, was Gott: und Welt bedeuten. S.289
Der Mensch ist nur ein Moment innerhalb des MENSCHEN, und der MENSCH nur ein
Moment innerhalb Naturae sive Dei. S.289
Ich und du, einmal groß und einmal klein geschrieben
— das ist die Weltformel. Ich und Du, und ich und du. S.289
Gott ist der tiefste Gedanke, den der Mensch je gedacht hat. Gott ist der eigentliche
Gedanke der Erde, er einzige all unsrer Gedanken, der, geschweige denn in Jahrtausenden,
innerhalb ihres, der Erde, ganzen Daseins nicht zu Ende gedacht werden kann.
Gott ist die große Frage der Erde, aller Erden: Ihr Leben ihre offenbare
zugleich und geheime Antwort. S.299
Es ist eines der tiefsten Worte: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Gott
ist die Möglichkeit aller Möglichkeiten. S.300
Göttliches (Theon) immer wieder in unzähligen Lebenslinien, Lebensläufen,
Gott werdend (Theos) ... Gott ein ewiger und unendlicher Prozeß des Sich-Verlierens
und Sich-Gewinnens... Gott ein ewiges Ringen zahlloser dumpfer und lichter Individuen
um Sich, als Schönheit der Schönheit. — Sich fortwährend
auf irgendeiner höchsten Formenstufe als diese gewinnend und besitzend
und beschließend... und doch nie g a n z und überall und gleichzeitig
vollendet. S.300
Immer wieder Gott zu werden: Ziel aller kosmischen Entwickelungen. S.303
Sollte in immer höherer Erkenntnis und Liebe (in immer höheren Formen)
nicht die Möglichkeit immer höheren Glückes liegen? Welche Genugtuungen,
wieviel demütiger Dank, wieviel namenloser Jubel steht uns vielleicht noch
bevor! Denn immer wieder, wenn alles, was ist, sich unaufhörlich
höher vor- und emporgottet — wo braucht es eine Grenze zu
finden, wo hat Gott — ein Ende? Solch ein Aspekt aber ist erst einer Gottheit
würdig: — der ins Ewige und Un-endliche. S.303
Das Sein, das ist das Unvergängliche in uns; das Werden, das, als was wir
dahingehen. Wie können Sein und Werden Gegensätze sein, wenn sie doch
an uns in jeder Sekunde Eins sind, wenn das Ewig Seiende im Ewig Werdenden unaufhörlich
»ist«! S.304
Ich hatte mich in »Gott« verloren. Aber Gott will nicht, daß
wir uns in ihm verlieren, sondern daß wir uns in ihm finden, das aber
heißt, daß wir Christus in uns und damit in ihm finden... S.313
Selbstvergötterung
Das ist es: Alle die anderen beschäftigen sich mit »Gott«.
Ich wage zu sagen: ICH – bin – das, was wir
Gott nennen – selbst. Wer das versteht, aber auch nur der, weiß,
was ich meine, wenn ich von meinem Ernst spreche. S.172
(Zu Drews) Es ist sehr lehrreich, daß
dieses dicke und gelehrte Buch »Die Religion als Selbstbewusstsein Gottes«
gerade d i e Idee, die Gott am tiefsten faßt, als »wahnsinnig«
hinstellt. Man mache sich klar: von unzähligen Ideen mit tödlicher
Sicherheit gerade die energischste, bedeutendste! Man möchte den Geist
des Verfassers eine umgekehrte Wünschelrute nennen. S.262
(Zu Drews) Alles Lebendige unmittelbar als
Gott zu fühlen, kann nicht Größenwahn sein; denn, wenn ich mich
als Entwickelungspunkt Gottes, als Gott in einer bestimmten Entwickelungsphase
erkennen zu dürfen glaube, so gilt mir doch jeder Mitmensch, ja jedes lebendige
Wesen überhaupt gleichfalls als Gott: so daß da nichts ist, was sich
über andres überhöbe, oder nur in dein Sinne, wie sich Gedanken
im selben Kopfe übereinander überheben. S.262
(Zu Drews) Wenn ich sage: »Mensch«
ist nur eine sprachliche Ausdrucksform für »Gott« — ist
das »Selbstvergötterung«? Gott
kann sich doch nicht selbst vergöttern! Was aber wäre Gott, der nicht
die ganze Natur, der nicht alles, alles selbst wäre, der nur das Selbst,
nicht auch das Ich zugleich, nicht zugleich die Sehnsucht nach Sich und dies
Ersehnte selbst, kurz, dessen Inhalt, sozusagen, nicht die gesamte unendliche
Welt wäre? Gott ist jeder Gedanke und jedes Gebilde; es gibt allerdings
Metaphysik, insofern die Natur nicht nur ein einfacher chemischer oder mechanistischer
Prozeß ist, als den sie der Materialismus hinstellen will, aber es gibt
keinen Metatheismus; Metatheismus aber wäre, das menschliche Subjekt noch
einmal in Mensch und Gott zu spalten: wenn diese Spaltung auch noch so fruchtbar
sein mag, ja, wenn sie auch unzweifelhaft eines der instinktiven Mittel des
aus dumpfem Urtrieb zu immer reinerer Sichselbsterfassung, Sichselbsterringung
hindrängenden Gottes war und ist, seinen Weg zu sich selbst, ja: Sich Selbst
zu finden. S.262f.
Ihr werdet mich mit Euren blassen Gottesideen nicht überzeugen können.
Der sich selbst s c h ö p f e r i s c h e Gott ist ein zu gewaltiger Gedanke,
und wenn nicht die Philosophen, so werden die Künstler mich stets begreifen.
S.263
A: Wo ist Gott . . .
B: Du fragst, wo Gott ist?
A. Ja.
B. (auf A. deutend) Dort.
A. Wo? (dreht sich lächelnd um)
B. Ja, du mußt dich nicht nur umwenden, du musst dich in dich hineinwenden
—
A. Hineinwenden?
B. Ja. Siehst du diesen Handschuh?
A. Ja.
B. Das ist der Mensch. Und dies (stülpt den Handschuh um) ist Gott. S.267f.
Gott ist gewiß nicht Persönlichkeit. Aber er w i r d sie in jedem
Moment. Gott ist: Persönlichkeit e n. S.268
Der Körper, der Übersetzer der Seele (Gottes) ins Sichtbare. S.268
Daß jedes Menschenleben nur die eine leibgewordene Möglichkeit unter
unzähligen Möglichkeiten bedeutet, gibt ihm erst den großen
Hintergrund. Leib und —Seele, von hier aus neu zu begreifen. Der Leib,
eine Linie der Seele, die Eine wirklich hingezeichnete Linie von Legionen Linien,
die ebenfalls jede für sich hätte hingezeichnet werden können.
(Sichtbar, leiblich geworden sein könnten.) S.268
Die Welt ist ein einziges lebendiges Wesen, in beständigem Aufbau und beständiger
Zersetzung begriffen. Es gibt für dies Wesen keinen Tod — um den
Preis des individuellen Todes. Das Individuum ist der Preis des Dividuums. Das
Individuum ist vergänglich, das Dividuum ohne Anfang noch Ende. Das Dividuum
teilt sich fortwährend und darum besteht es fortwährend. Es kann nur
bestehen, wenn es beständig zu Individuen wird. Im Individuum wird es allein
fest, so daß man sagen kann: Die Individualität ist die Persönlichkeit
der Dividualität, oder, menschlicher: Der Mensch
ist die Persönlichkeit Gottes. S.269
Das Leben hat keinen Sinn als den Sinn — Gottes. S.269
Im Anfang war — Mein Ziel. S.269
Wir müssen uns davor hüten, ausschließlich mit der Menschheit
unseres Planeten zu rechnen. Wir müssen annehmen, daß jeder mögliche
Gedanke über Gott auch wirklich (von Gott) gedacht wird, gleichviel ob
in unsern oder in Mars- oder Saturnköpfen, ja, daß es sehr wohl Planeten
geben kann, auf denen Gott sozusagen leibhaftig im vollkommenen Bewußtsein
seiner selbst lebt. Daß wir als die Phase Gottes, die wir sind, offenbar
nur Gott in irgendeiner Phase darstellen, nicht zugleich in seiner höchsten;
wiewohl auch seine höchste nur eine »endliche« sein mag, indem
das unendliche »Mysterium« nur im immerwährenden Endlichen
unendlich bleiben kann. S.272
Der Mensch ist ein an einer Stelle geöffneter Ring. Gott ist der Ring als
Eines, Ununterbrochenes. Der Mensch stellt sich dar als dieser Ring, unterbrochen,
mit seinen zwei Enden sich wieder zu vereinigen, zu schließen strebend.
Der Mensch ist aus sich auslaufender und in sich zurücklaufender —
aber noch nicht zurückgelaufener — Gott. Der Mensch ist die Offenheit
des Rings, der noch nicht wieder zusammengeschmolzene Hingott und Widergott.
Der Mensch, der ganz erkannt haben würde, wäre der wieder geschlossene
Ring Gottes. S.274
Wir müssen das Quantitative verabschieden. Gott, ich meine das Unvorstellbare,
das wir sind, ist weder groß noch klein. Alles ist in jedem Augenblicke
Gott und jeder »Teil« in jedem Augenblicke zugleich das Ganze. Ist
denn das Wasser für den Tropfen klein oder groß? Nein, er ist der
Tropfen und das Wasser zugleich. Wasser aber ist weder klein noch groß,
und wenn der Tropfen zurückblickt auf den Wasserfall, so wird er doch darum
nicht sagen können: Wasser ist groß. Und so ist »Gott«
auch nicht größer da, wo er die »Milchstraße« ist,
als da, wo er in einem Menschen im Gras liegt. An sich ist diese Blume hier
nichts Geringeres als zehntausend Gestirne. Und so zerbrich denn auch nicht,
Herz, an diesen Worten »groß« und »klein«, denn
»das gibt es alles gar nicht«. S.278
— Wäre es nicht furchtbar, wenn der Mensch nur Entwurf Gottes bliebe?
Wenn jeder dieser Entwürfe als Entwurf endigen müßte, statt
weiter und weiter durch alle Ewigkeit ausgeführt, weiter gebildet zu werden?
Gewiß, der gegenwärtige Weltdurchschnitt wird immer Fragmentmosaik
sein — aber es fragt sich, ob einmaliges Fragmentmosaik oder Fragmentmosaik
als Fortsetzung und zwar nicht bloß im Ganzen, sondern auch im Einzelnen,
Einzelnsten: ob ich also nicht nur Fragment Gottes im Ganzen, sondern auch Entwickelungsfragment
meiner Person, als einer gottwerdenden Person, als Gottes im Einzelnen, bin.
So vielleicht: Kann Gott als Menschenperson verlorengehen, ist Person nur eine
Maske Gottes (oder besser ein Leib Gottes) — oder ist Gott, einmal Person
geworden, als solche ebenfalls unsterblich, so daß seine Entwickelung
nicht nur eine Entwickelung zur Selbstahnung seiner Selbst als Welt, sondern
auch eine Entwickelung in jedem Einzelnen zur immer wieder sterblichen Person
auf immer wieder höherer Stufe wäre? S.274f.
Ja, gewiß, es ist vieles am Menschen lächerlich und verächtlich.
Aber der Mensch ist ja auch nur ein winziger Teil Gottes. Und was wäre
Gott, wenn er nicht irgendwo auch lächerlich und verächtlich wäre.
Gott schenkt sich nichts. Das wollen nur die Kurzsichtigen, die meinen, man
könne das Eine ohne das Andere haben, ja noch mehr: man dürfe es.
S.285
Die planetarischen Kulturen geistiger Wesen sind die großen Grotesken
Gottes. Gottes materielle Erscheinungsform ist notwendig grotesk. S.285
Man könnte eine Bibliothek schreiben von den Selbsttröstungen Gottes.
S.285
Das ergibt sich aus meiner Lehre, daß nicht nur der Einzelne, sondern
auch Volk um Volk und endlich die ganze Menschheit — Persönlichkeit
zu werden trachtet. Denn wenn wir »Gott« sind, — was können
wir Höheres aus uns machen, als immer durchseeltere, durchbildetere, vollendetere
Persönlichkeit? So wie der Einzelne durch und durch »kaloskagathos«
werden soll, so soll auch ein Volk, eine Menschheit durch und durch »kalonkagathon«
werden wollen. S.291
Tod
Mein Tod ist meine Wahrheit, wie Dein Tod die Deinige. Wenn ich als Individuum
sterbe, bejahe ich mich als Welt. Denn mein Tod als solcher ist dein Leben des
Ganzen notwendig, und da ich selbst der Teil wie das Ganze bin, ist mein Tod
mir selber notwendig. Was aber meine Notwendigkeit ist, ist auch meine Wahrheit;
denn Notwendigkeit ist höchste Bejahung und höchste Bejahung Wahrheit.
S.251f.
Ich werde erst sterben, wenn ich erfüllt haben werde, was ich erfüllt
haben konnte. Gott stirbt nicht vor der Zeit. Er wacht hier auf und schläft
dort ein, wie es gut ist. Was sträubst du dich gegen das, was du dein Schicksal
nennst? Siehe dir selbst ins Antlitz: Dein Schicksal ist, daß du Gott
bist. Ich sage: Gott! Aber wo uns die Wirklichkeit dieses Wortes faßte,
da wäre unser Herz und Hirn auch schon dahin, wie ein Bologneser Glas,
das, getroffen, zu Staub zerspringt. Gott schauen ist
Tod, das wußten alle Völker. Gott erraten ist Leben. S.252
Gott kann allein leben durch seinen immerwährenden Tod. Gott muß
fortwährend sterben, um fortwährend leben zu können. Gott stirbt
nie um den Preis fortwährenden Todes. Versuchen wir dieses Furchtbare zu
fassen, und überwinden wir es durch das Wort »Ich bin«, das
Gott in uns spricht. »Ich sterbe als du, damit ich
als ich lebe. Du aber bist ich und ich bin du, sei also getrost. Dies
ist nun unsere Notwendigkeit (wie ich sie als du erkannt zu haben meine).«
S.272f.
Ich fürchte, — und dieser unheimliche Gedanke kehrt mir, fast seit
ich denken gelernt, immer wieder —: nicht, daß wir sterben werden,
ist zu fürchten, sondern, daß wir nie sterben werden. Ich empfand
dies immer unter folgenden Worten Ich werde immer da sein. Und wenn ich heute
meinem Leibe nach sterbe, wer will wissen, ob ich dann nicht — mein Freund
bin? Nicht, als ob etwas, was meine Seele genannt werden könnte, gewandert
wäre, nein, sondern wie wenn ein Etwas in allem Lebendigen immer wäre,
und wüßte, daß es wäre... Wer will wissen, ob er nicht
aus seinem Freunde (wenn auch ganz und gar als dieser und mit allen physischen
Prämissen) in die Welt blickt, in demselben Moment, wo er sein Bewußtsein
verliert? Solange ich in meiner Form befangen bin, kann ich nichts Zweites sein,
aber wenn diese Form zerbricht, bin ich vielleicht das Zweite, und das Zweite
ist vielleicht nichts als wieder das Eine. S.278f.
Ich sehe das Unvermeidliche herannahen: daß den Menschen eines Tages in
größerer und größerer Anzahl zum Bewußtsein kommt
— nicht nur nominell wie bisher, sondern faktisch —, daß sie
in der Unendlichkeit leben. S.282
Es gibt keinen größeren Stilisator in der Natur als den Tod. Gib
das Leben dem Tod in die Hand und du übergibst es seiner Kultur. Selbst
mit dem Menschen ist es nicht anders. Je mehr uns der Tod in Händen hat,
desto höhere Kunstwerke werden wir. S.298
Wohin können wir denn sterben, wenn nicht in immer
höheres, größeres — Leben hinein! S.305
Der Gedanke Gottes muß freilich der Tod des Individuums sein. Darum hält
er sich auch im Allertiefsten besser als im Vordergrund auf.
S.306
Gericht
Es versteht sich mir fast von selbst, daß das, was ich bin, sich irgendeinmal
seines ganzen Lebens — in allen seinen Erscheinungsformen — erinnern
wird. Und es wird nichts sein — kein Richten, kein Wundern, nur ein Schauen.
Aber in diesem Schauen wird Gericht oder Freispruch beschlossen
sein. S.289
Die Vorstellungen von Lohn und Strafe — müssen sie deshalb jeder
tieferen Wahrheit entbehren, weil wir sie heute schroff ablehnen? Was hat sich
eigentlich geändert? Daß wir uns heute unser Schicksal mehr oder
minder selbst zu bereiten glauben, während wir früher glaubten, daß
es uns bereitet würde. Ist nicht nur die Optik eine andere geworden, nur
die Optik? S.304
Man soll sich seiner Krankheiten schämen und freuen; denn sie sind nichts
andres als auszutragende Verschuldung. S.304
Wiederverkörperung
Vielleicht trifft man sich einmal unter freundlicheren Verhältnissen wieder.
Ja, vielleicht haben wir uns auch diesmal schon wiedergetroffen, von früher
her, nur, daß wir es nie wissen, daß wir heimliche Zusammenwanderer
sind. S.275
Warum sollte dies mein Leben ein Anfang oder Ende sein, da doch nichts ein Anfang
oder Ende ist. Warum nicht einfach eine Fortsetzung, der unzähliges Wesensgleiche
vorangegangen ist und unzähliges Wesensgleiche folgen wird. S.304
Die Menschheit hat längst alles empfangen, was zu empfangen ist. Aber sie
muß es immer wieder von neuem und in immer wieder neuer Form empfangen
und verarbeiten.
Die Lehre der Reinkarnation z. B., — sie ist längst da. Aber sie
mußte eine Weile beiseitegelassen werden; die ganze europäische Zivilisation
geht auf dies Beiseitelassen zurück. Jetzt hat dieser Zyklus das Seine
erfüllt, jetzt darf sie, als eine unermeßliche Wohltat, in den Gang
der westlichen Entwickelung wieder eintreten. In einem Sinne, der erst jetzt
möglich ist, zweitausend Jahre nach der Erscheinung des Christus, in einem
ganz andern Sinne als je vorher, wird sie jetzt von neuem die Menschheit befruchten,
erleuchten, erlösen. S.310f.
Der Tod Gottes
Aber diese Vorstellung war meine letzte, in der ich alle andern begrub. Kein
Wort der Erde, das sich mir im Wort »Gott« nicht löste. Andre
nennen ihre Grenzvorstellung Leben, Natur, Wirklichkeit. Aber ist das minder
anthropomorph? Nein. Jedes Wort ist Vorstellung, jedes Wort ist demnach gleich
viel wert. »Leben« ist das Wort einer andern Phantasie als »Gott«,
das ist alles.
Es gibt also zuletzt nur eine Grenzvorstellung, nur ein »Ur-wort«.
Dieses Urwort muß uns gelassen werden, wollen wir
Menschen bleiben. S.283f.
Übermensch
»Der Übermensch ist der Sinn der Erde« — das heißt:
Der Erde Sinn ist ihr Untergang in — Höheres. S.298
Religion
Religion ist Selbsterkenntnis des menschlichen, als eben damit göttlichen
Geistes. Religion ist die Erkenntnis, daß alles Denken göttliches
Denken ist, wie alle Natur göttliche Natur, daß jede Handlung eine
Handlung Gottes, jeder Gedanke ein Gedanke Gottes ist, daß Gott nur soweit
Gott ist, als er Welt ist, daß die Welt nichts anderes ist als Gott selbst,
— daß in demselben Augenblick, da ein Mensch sich seines Gott-seins
bewußt wird, Gott in ihm sich seiner selbst als Mensch bewußt wird.
S.249
Was ist Religion: Sich in alle Ewigkeit weiter und höher entwickeln wollen.
S.297
Alles Vollkommene darf angebetet werden, freilich nicht, daß es uns etwas
schenke (außer sich selbst durchs Mittel seiner Schönheit), sondern
angebetet im Sinne ehrfürchtiger Liebe.
Ja, d i e s Gebet, als kein Bitten um irgend etwas andres als um die immer reinere
Offenbarung der Schönheit des Angebeteten soll bleiben, soll als das neue
Gebet wiederkommen, nachdem wir das alte in uns niedergekämpft, ohne doch
je vergessen zu können, daß es nicht nur eine Form des gemeinen Bedürfnisses,
nein, noch weit mehr war: eine Form des edelsten Bedürfnisses der Seele:
der Liebe. Als Liebe darf das Gebet wieder auferstehen, frei werden. S.299
Wenn die Menschen sich weiter entwickeln, müssen auch ihre Götter
sich mit und weiter entwickeln, all die geistigen Wesenheiten, die an ihnen
gearbeitet haben und arbeiten. Der Lehrer, der das Kind bis zu dessen zwanzigstem
Jahre geleitet hat, wird dann ebenfalls um zwanzig Jahre gealtert, gereift,
weiter entwickelt sein. Wer überhaupt göttliche Demiurgen annimmt,
der soll sie nicht als starre Götzen verehren. S.308
Die Menschen sind heute soweit gesunken, daß sie sich »genieren«,
vom Wesentlichsten ihres und alles Lebens zu reden. Gott,
Christus, Unsterblichkeit sind in gewissen Kreisen so verpönt, wie in andern
Hemd, Hose, Strümpfe; es gehört nicht zum guten Ton, nicht zum savoir
vivre, sie nicht völlig zu ignorieren. Nur der »weiß«
heute zu »leben«, der in der Tat nicht mehr weiß, was leben
heißt. S.311
Der »Glaube« — und dem entsprechend der Unglaube — an
Gott gehört einer gewissen Periode der Menschheit an: er ist — im
tiefsten Ernst gesprochen und den Begriff Humor so geistig wie möglich
gefaßt — ein Kapitel ihres unfreiwilligen Humors. Es handelt sich
in Wirklichkeit allein um das von Gott mögliche Maß von Wissen. Nicht
um Gottesglauben, sondern. Gottesforschung, Gotteswissenschaft. S.313
»Hat die Religion eine Zukunft?« So gut, wie derjenige, der so fragt,
eine Zukunft hat, in der er, wie zu hoffen steht, solchen Fragestellungen entwachsen
sein wird. S.317
Die Geschichte der Menschheit ist ein Ringen der Konsequenz gegen die Inkonsequenz
(resp. Dumpfheit) und die Konsequenzlosen. Alle Konsequenz
führt zu Gott, alles, was darunter, in Maja.
S.317
Aus Christian Morgenstern: Stufen. Eine Entwicklung
in Aphorismen und Tagebuch-Notizen
Herausgegeben von Margareta Morgenstern und Michael Bauer
Copyright 1918 by R. Piper Verlag, München