Madhva, auch Ânandatîrtha genannt (1199 – 1278)
Indischer Stifter einer vishnuitischen Heilslehre, die bis heute in seiner Heimat - den kanaresischen Gebieten Südwest-Indiens - zahlreiche Anhänger hat. Madhva verkündigte einen dualistischen Vedânta, der die unwandelbare (nicht veränderbare) Verschiedenheit zwischen Gott, der Urmaterie, und der Vielheit von Einzelseelen annimmt. Diese drei Realitäten existieren seit Ewigkeit nebeneinander, doch ist Gott den beiden anderen übergeordnet und übt eine unbeschränkte Herrschaft über sie aus. In der kleinen Schrift »Tattva-sankhyâna« (Aufzählung der Weltprinzipien) gibt Madhva eine kurze Übersicht über sein System. |
Aufzählung
der Weltprinzipien
Die Realität ist
von zweierlei Arten: autonom
[unabhängig] und heteronom
[abhängig].
Autonom ist nur der erhabene Vishnu.
Das andere (d.h. das Heteronome)
ist zweifach: Sein
und Nichtsein.
Das Nichtsein ist dreifach:
priores, posteriores und ewiges Nichtsein,
d.h.
1. Nichtexistenz
eines Dinges vor seinem Ins-Daseintreten,
2. Nichtexistenz
nach seiner Vernichtung und
3. totale
Nichtexistenz.
Das Sein ist zweifach:
geistig und ungeistig.
Das Geistige ist zweifach:
1. zum Leid
in Beziehung stehend und
2. Von ihm
unberührt. Ewig frei von Leid ist (außer
dem autonomen Gott) Lakshmi
(d.h. Vishnus Gattin).
Alle anderen Wesen sind insgesamt vom Leid berührt.
Die zum Leid in Beziehung stehenden Wesen sind
von zwei Arten:
1. im Leid
befindliche und
2. erlöste.
Die im Leid befindlichen Wesen sind von
zwei Arten:
1. erlösungsfähige
und
2. nichterlösungsfähige.
Erlöste sind Götter,
Rishis, Manen, Weltbeherrscher und höchste
Menschen. Eben diese sind auch erlösungsfähig.
Die Nichterlösungsfähigen sind
1. für die Finsternis
geeignet (also zu ewigen Höllenstrafen Prädestinierte)
und
2. ewig
im Sansâta wandelnd.
Für die Finsternis geeignet sind
vier (Arten von Wesen): Daityas, Râkshasas,
Pishâcas (drei Arten von Dämonen)
und niedrigste Menschen.
Diese (Verdammten) sind von
zwei Arten:
1. solche, die bereits in die
blinde Finsternis eingegangen sind, und
2. solche, die noch im Sansâra
weilen.
Das Ungeistige ist dreifach:
1. ewig, 2.
zeitlich ewig und 3.
vergänglich.
Ewig sind die Veden;
zeitlich ewig sind die Purânas
und die anderen von Menschen verfaßten Werke,
die Zeit und die Urmaterie.
Das Vergängliche ist zweifach:1.
nicht-kombiniert und 2.
kombiniert.
Nicht-kombiniert sind: Mahân,
Ahankâra, Buddhi, Manas, die zehn
»Öffnungen« und die fünf
Reinstoffe und die fünf groben
Elemente.
[Mahân (der große), Ahankâra
(Ich-Macher), Buddhi
(Erkenntnisorgan, Vernunft) und Manas
(Denksubstanz, Verstand) sind die bei der
periodischen Weltentstehung gesetzmäßig in
bestimmter Weise aus der Urmaterie hervorgehenden kosmischen Grundlagen
der intellektuellen Aktivität der Einzelseelen.
Unter den »Öffnungen« sind die
Kraftsubstanzen der fünf Erkenntnissinne (Gesicht,
Gehör, Geruch, Geschmack, Gefühl) und der fünf
Tat-Sinne (d.h. die Organe des Redens, Greifens,
Gehens, Entleerens und Zeugens) zu verstehen.
Die fünf Reinstoffe
(tanmâtra) sind die feinen,
nicht-wahrnehmbaren unvermischten Elemente, Erde, Wasser, Feuer, Luft, Äther;
die fünf groben Elemente
sind die entsprechenden grobmateriellen, sichtbaren Elemente]
Kombiniert ist das Weltall,
und alles, was darin vorhanden ist (d.h. es kommt
durch die Zusammensetzung der bei der periodischen Weltentstehung
zuerst gewordenen »nicht kombinierten« kosmischen Faktoren zustande).
Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung und Regierung
der Welt, Wissen und Nichtwissen, Bindung und Erlösung, Lust und Leid,
Licht und Finsternis geschehen durch Vishnu, der
die Vereinigung und die Trennung dieses ganzen
(Heteronomen) ins Werk setzt.
S.207f.
Aus: Indische Geisteswelt. Eine Auswahl von Texten
in deutscher Übersetzung. Eingeleitet und herausgegeben von Helmuth von
Glasenapp. Band I Glaube und Weisheit der Hindus. Holle Verlag . Baden-Baden