Francis Hutcheson (1694 –1746)

  Englischer Philosoph, der seit 1730 Professor der Moralphilosophie in Glasgow war. Hutcheson war einer der Gründer der »Schottischen Schule«. Motiviert durch seinen Lehrer Shaftesbury entwickelte er eine systematische Lehre der Ästhetik. Seine Ethik, die auf der Annahme eines moralischen Sinns als Fähigkeit zum Guten basiert, wurde zum Ausgangspunkt für die nationalökonomischen Überlegungen seines Schülers Adam Smith. Der von Jeremy Bentham vertretene utilitaristische Grundsatz vom größtmöglichen Glück der größtmöglichen Zahl geht auf Hutcheson zurück.

Siehe auch Wikipedia
 

Nachweis, dass die Tugend auch unter der Voraussetzung, dass sie durch einen Sinn erkannt und aus Neigung oder Instinkt gewählt wird, in jeder Bedeutung des Wortes verdienstlich und belohnenswert sein kann
Manche wollen nicht wahrhaben, daß Handlungen, die aus liebreichen Instinkten entspringen, irgendein Verdienst innewohnen kann. Verdienst, sagen sie, kommt Handlungen zu, zu denen uns nur die Vernunft antreibt oder zu denen wir uns in Freiheit selbst bestimmen. Die Wirkung von Instinkten oder Neigungen ist notwendig, nicht willentlich; ihnen wohnt daher nicht mehr Verdienst inne als dem Sonnenschein, der Fruchtbarkeit eines Baumes oder dem Wasserreichrum eines Flusses, die allesamt von allgemeinem Nutzen sind.

Doch was heißt
verdienstlich oder lobenswert? Bezeichnen diese Ausdrücke diejenige Eigenschaft von Handlungen, die gemäß der gegenwärtigen Verfassung des menschlichen Geistes beim Betrachter Billigung erregt? Oder heißen diejenigen Handlungen verdienstlich, deren Billigung durch den Betrachter von allen anderen Betrachtern gebilligt und deren Missbilligung von ihnen missbilligt wird? Dies sind die einzigen Bedeutungen von verdienstlich, bei denen ich mir einen Unterschied zu belohnenswert denken kann, wovon später gesondert die Rede sein soll. Wer mit diesen beiden Erklärungen von Verdienst nicht einverstanden ist, mag sich um eine Definition bemühen, die die Vorstellung auf ihre einfachen Ideen zurückführt, anstatt diese Umschreibungen zu bestreiten, indem er uns nur sagt, verdienstlich sei, was Billigung verdiene oder ihrer würdig sei, denn das heißt den Ausdruck durch einen gleichbedeutenden definieren.
Nun habe ich mich schon bemüht zu zeigen, dass die Vernunft nicht vor jeder Zwecksetzung zu einer Handlung antreibt und dass ein Zweck nicht ohne einen Instinkt oder eine Neigung gesetzt werden kann. Was kann es also heißen, daß jemand von der Vernunft im Gegensatz zu jeder Regung der Instinkte oder Neigungen angetrieben wird? Einige behalten vielleicht das Wort Instinkt solchen Regungen des Willens oder der körperlichen Vermögen vor, die uns bestimmen, ohne daß wir einen Zweck erkennen oder intendieren. Solche Instinkte können nicht der Ursprung der Tugend sein. Aber die Seele kann auf ebenso natürliche Weise bestimmt werden, gewisse Stimmungen und Neigungen zu billigen und gewisse Ereignisse zu wünschen, soweit sie eine Vorstellung von ihnen hat, wie die Tiere durch ihre niederen Instinkte zu ihren Handlungen bestimmt werden. Wer bestreitet, daß das Wort
Instinkt auf etwas Höheres, als was wir bei den Tieren finden, angewendet werden kann, mag ein anderes Wort gebrauchen, obgleich der Klang dieses Wortes ebensowenig Schaden anrichtet wie der Entschluß, dem Gemäßen zu folgen, den sie dem göttlichen Willen zuerkennen müssen, wenn sie Gott überhaupt einen Willen zuschreiben wollen.

Ferner: heißt sich in Freiheit selbst bestimmen, ohne irgendein Motiv oder einen wirkenden Grund handeln? Wenn nicht, so kann es nicht dem Handeln aus Instinkt oder Neigung entgegengesetzt sein, denn alle Motive oder Gründe setzen einen Instinkt oder eine Neigung voraus. Wenn es heißt, daß Verdienst nur solchen Handlungen zukommt, die ohne Motiv oder Neigung getan werden, auf Grund bloßer Wahl, ohne den überwiegenden Wunsch nach einer bestimmten Handlung oder einem Zweck anstatt des Gegenteils, oder ohne das Streben nach dem Wohlgefallen, das, wie einige annehmen, auf Grund einer natürlichen Verknüpfung auf jede Wahl folgt: so möge jedermann erwägen, ob er jemals so handelt, nämlich auf Grund bloßer Wahl, ohne einen vorausgehenden Wunsch. Und weiter möge er sein Gewissen fragen, ob eine derartige Handlung seine Billigung findet.

Angenommen, jemand würde durch Neigung, Mitleid, Liebe oder Begierde genausowenig bestimmt, sein Vaterland glücklich zu machen, wie es unglücklich zu machen, und er entscheide sich für das erste nicht aus einem Streben nach dem allgemeinen Glück oder aus Abneigung gegen die Leiden anderer, sondern auf Grund einer leidenschaftslosen Entscheidung ähnlich derjenigen, der zufolge einer seinen Zeigefinger und nicht den Mittelfinger bewegt, um ein Beispiel einer bedeutungslosen Handlung zu geben: da möge einer sagen, ob diese Handlung verdienstlich ist, und daß kein Verdienst in einem weichen, mitfühlenden Herzen ist, das vor jedem Schmerz seiner Mitgeschöpfe zurückbebt und bei ihrem Glücke jauchzt, das sich mit liebreichen Neigungen und heißem Begehren für das allgemeine Wohl einsetzt. Wenn dies das Wesen verdienstlicher Handlungen sein soll, so möchte wohl jedes ehrliche Herz alles moralische Verdienst so nachdrücklich von sich weisen, wie die alten Protestanten es bei der Rechtfertigung vor Gott zurückgewiesen haben.


Aber lasst uns sehen, welche der beiden Bedeutungen von
verdienstlich oder lobenswert auf dieser (ich will nicht sagen: unvernünftigen oder zufälligen, sondern) leidenschaftslosen Wahl beruht. Wenn Verdienst die Eigenschaft bezeichnet, die den Betrachter zur Billigung veranlaßt, so kann es leidenschaftslose Wahl der größten Schurkerei ebenso wie der nützlichsten Handlung geben; aber würde irgend jemand sagen, daß sie gleichermaßen gebilligt werden? Aber vielleicht ist es nicht die bloße Freiheit der Wahl, die gebilligt wird, sondern die freie Wahl des allgemeinen Wohls ohne jede Neigung. In diesem Falle werden Handlungen wegen ihrer allgemeinen Nützlichkeit gebilligt, und nicht wegen der Freiheit. Unter dieser Voraussetzung würde die Wärme der Sonne oder die Fruchtbarkeit eines Baumes verdienstlich sein, oder, wenn einer sagt, das seien keine Handlungen, so sind es zumindest verdienstliche Eigenschaften, Bewegungen usw. Auch eine zufällige Erfindung könnte hiernach verdienstlich sein. Vielleicht ist die freie Wahl eine conditio sine qua non, und die allgemeine Nützlichkeit die unmittelbare Ursache der Billigung; keine ist für sich allein verdienstlich, aber beide zusammen sind es.

Freie Wahl allein ist kein Verdienst, allgemeine Nützlichkeit allein ist kein Verdienst, aber das zusammentreffen beider ist Verdienst.
Sollte also irgend jemand auf Grund bloßer Wahl, ohne jeden Wunsch, der Allgemeinheit zu dienen, Erzbergwerke anlegen oder eine nützliche Manufaktur einrichten, oder sollte jemand auf Grund bloßer Wahl einen Menschen erstechen, ohne zu wissen, daß es sich um einen Straßenräuber handelt, so könnten hier freie Wahl und allgemeine Nützlichkeit zusammentreffen. Würde jedoch irgend jemand sagen, dass solchen Handlungen Verdienst oder Tugend zukommt? Wo also werden wir Verdienst finden, wenn nicht in liebreichen Neigungen oder im bewussten Streben nach dem allgemeinen Wohl? Dies ruft unsere Billigung hervor, wo immer wir es wahrnehmen; und sein Fehlen ist der wahre Grund, warum jemand, der eine Erzader sucht oder aus freiem Entschluss einen unerkannten Räuber tötet, oder auch die wärmende Sonne oder der fruchttragende Baum nicht als verdienstvoll gilt.

Man könnte jedoch einwenden, zur Verdienstlichkeit einer Handlung gehöre nicht allein, dass die Handlung von allgemeinem Nutzen ist, sondern auch, dass der Handelnde weiß oder sich einbildet, sie sei es, bevor er sie frei wählt. Aber was fügt dies zu der obigen Theorie hinzu? Nur das Urteil oder die Meinung im Verstande hinsichtlich der natürlichen Tendenz einer Handlung zum allgemeinen Wohl. Vermutlich werden wenige die Tugend in die Zustimmung oder Ablehnung oder in Perzeptionen setzen. Und doch ist dies alles, was zu dem erstgenannten Fall hinzukommt. Der Handelnde darf nicht das allgemeine Wohl anstreben oder irgendwelche liebreiche Neigungen haben; denn nach der Theorie derjenigen, die auf einer Freiheit bestehen, die den Neigungen oder Instinkten entgegengesetzt ist, würde das die Freiheit der Wahl verderben. Sondern er darf nur rein theoretisch die Tendenz zum allgemeinen Wohl erkennen und ohne jede Hinneigung zum Glücke anderer und ohne danach zu streben, durch eine willkürliche Wahl sein Verdienst erwerben. Jeder möge für sich selbst entscheiden, ob das die Eigenschaften sind, die er billigt.

Was wahrscheinlich viele zu der Ausdrucksweise verführt hat, wonach Tugend die Wirkung vernünftiger Wahl, nicht aber die Wirkung von Instinkten oder Neigungen sein soll, ist dies: Sie finden, dass bestimmte Handlungen, die aus besonderen liebreichen Neigungen entspringen, manchmal als schlecht missbilligt werden, weil sie einen schlechten Einfluss auf den Zustand größerer Gemeinschaften haben, und daß die Uberstürzung und verworrene Empfindung irgendwelcher Leidenschaften den Geist davon abbringen kann, die gesamte Wirkung seiner Handlungen zu betrachten. Sie fordern daher für die Tugend einen ruhigen und ausgeglichenen Gemütszustand.

Es gibt tatsächlich einigen Grund, diesen Gemütszustand als in vielen Fällen sehr notwendig zu empfehlen, und doch können einige der leidenschaftlichsten Handlungen vollkommen gut sein. Aber selbst im ruhigsten Gemütszustand muss eine gewisse Neigung oder ein Begehren bleiben, ein eingepflanzter Instinkt, für den wir keinen Grund angeben können; andernfalls könnte es überhaupt keine Handlung irgendwelcher Art geben, wie weiter oben im ersten Abschnitt gezeigt wurde.

Wenn verdienstliche Handlungen derart sind, dass, wer sie nicht billigt, seinerseits von anderen missbilligt wird, so ist die Eigenschaft, die sie zu verdienstlichen Handlungen in diesem Sinne macht, die gleiche, die unsere Billigung hervorruft. Wir missbilligen jeden, der nicht billigt, was wir selber billigen. Wir setzen voraus, dass der moralische Sinn anderer wie unser eigener beschaffen ist, und daß jeder andere, würde er auf die Handlungen achten, die wir billigen, diese gleichfalls billigen und den Handelnden lieben würde. Wenn wir finden, dass ein anderer nicht billigt, was wir billigen, so sind wir geneigt zu schließen, dass er keine liebreichen Neigungen gegenüber dem Handelnden hat oder dass ein Übelwollen ihn veranlasst, seine Tugenden zu übersehen und ihn aus diesem Grunde zu missbilligen.


Vielleicht bedeutet
verdienstlich dasselbe wie ein anderes Wort, das wir auf ähnliche Weise verwenden, nämlich belohnenswert. In diesem Falle ist die Eigenschaft, auf der Verdienst oder die Würdigkeit belohnt zu werden beruht, tatsächlich verschieden von der, die das Wort Verdienst in den oben angeführten Bedeutungen bezeichnet.

Belohnenswert
oder Belohnung verdienend bezeichnet entweder die Eigenschaft, die ein höheres Wesen veranlassen würde, einen Handelnden glücklich zu machen, oder die Eigenschaft von Handlungen, die einen Zuschauer veranlassen würde, ein höheres Wesen zu billigen, wenn es den Handelnden glücklich macht, und das höhere Wesen zu missbilligen, das diesen Handelnden unglücklich macht oder bestraft. Man versuche, dem Wort belohnenswert einen anderen Sinn als die genannten zu geben, ohne sich mit den Worten würdig oder verdienend zufriedenzugeben, die eine sehr komplexe und durchaus nicht einheitliche Bedeutung haben.

Nun müssen die Eigenschaften einer Handlung, die ein
mächtiges Wesen bestimmen, sie zu belohnen, sich nach der Beschaffenheit und den Neigungen dieses höheren Wesens richten. Wenn es einen moralischen Sinn hat oder etwas noch Höheres, das dem entspricht, etwas das ihn bestimmt, diejenigen zu lieben, die liebreiche Neigungen zeigen, und ihr Glück zu wünschen, dann ist liebreiche Neigung eine Eigenschaft, die Belohnung findet.

Aber weiter: wenn dieses
höhere Wesen wohlwollend ist und feststellt, dass niedere Wesen durch ihr Handeln ihr Glück gegenseitig befördern können, dann muss es dazu neigen, sie nötigenfalls durch die Aussicht auf persönlichen Vorteil zu Handlungen von allgemeinem Nutzen anzutreiben. Daher wird es sie durch die Aussicht auf Belohnung zu derartigen Handlungen bewegen, was immer das innere Prinzip ihrer Handlungen oder was immer ihre Neigungen sein mögen. Wenn diese beiden Eigenschaften in irgendwelchen Handlungen zusammentreffen, nämlich dass sie aus liebreichen Neigungen entspringen und daß sie von allgemeinem Nutzen sind, wird dies das wohlwollende höhere Wesen zweifellos dazu bringen, den Handelnden glücklich zu machen.

Wenn allein die erste Eigenschaft gegeben ist, der Handelnde aber nicht die Kraft hat, seine liebreichen Absichten zu verwirklichen, wird ein wohlwollendes höheres Wesen dazu neigen, ihn zu belohnen, und der Mangel an Kraft im Handelnden wird es niemals geneigt machen, ihn zu bestrafen. Aber das Fehlen liebreicher Neigungen kann trotz des Gegebenseins allgemein nützlicher Handlungen den moralischen Sinn des höheren Wesens so sehr beleidigen, daß es nicht zu einer Belohnung, sondern zu einer Bestrafung kommt, außer wenn dadurch ein noch größeres allgemeines Übel veranlaßt würde, indem es vielen Handelnden einen notwendigen Beweggrund zu allgemein nützlichen Handlungen nimmt, nämlich die Hoffnung auf Belohnung.

Wenn das höhere Wesen jedoch boshaft ist und einen moralischen Sinn besitzt, der unserem entgegengesetzt ist, so würde es durch die entgegengesetzten Neigungen und Handlungstendenzen zu einer Belohnung veranlasst werden, falls so etwas wie eine Belohnung von einem derartigen Charakter zu erwarten ist.

Wenn Handlungen belohnenswert genannt werden, sobald ein Zuschauer es billigen würde, wenn der höhere Geist solche Handlungen belohnt, dann müssen Handlungen gemäß dem moralischen Sinn des Zuschauers belohnenswert sein. Die Menschen billigen aber die Belohnung aller liebreichen Neigungen. Und wenn es dem allgemeinen Wohl dient, Belohnungen für Handlungen von allgemeinem Nutzen auszusetzen, gleich aus was für Neigungen sie hervorgehen, so beweist es Wohlwollen in dem höheren Wesen, wenn es das tut. Das gilt auch von irdischen Herrschern, die keinen Einblick in die Neigungen der Menschen haben.

Einige behaupten mit Nachdruck (was oft der einzige Beweis ist), damit eine Handlung belohnenswert sei, müsse der Handelnde Neigungen zum Bösen ebenso wie zum Guten gehabt haben. Was heißt das? Daß ein guter Geist, der über die Welt herrscht, nur dann geneigt ist, einen Handelnden glücklich zu machen oder zu belohnen, wenn dieser irgendwelche böse Neigungen hat, die jedoch von wohlwollenden Neigungen überwunden werden? Aber würde nicht ein wohlwollendes höheres Wesen dazu neigen, jeden, der aus Wohlwollen handelt, glücklich zu machen, ob er nun schwächere böse Neigungen hat oder nicht? Böse Neigungen in einem Handelnden würden gewiß eher eine Tendenz haben, die Liebe des höheren Geistes zu verringern. Kann ein guter Geist nur dann einen Handelnden lieben und sein Glück wünschen, wenn er auch Eigenschaften an ihm wahrnimmt, die für sich allein Haß oder Abneigung hervorrufen würden?

Bedarf es einer Beimischung von Haß, damit die Liebe stark und wirksam ist, so wie es einer Beimischung von Schatten bedarf, damit das Licht auf einem Gemälde hervortritt? Ist da Liebe, wo keine Neigung vorhanden ist, glücklich zu machen? Oder setzt starke Liebe sich aus Liebe und Haß zusammen?

Es trifft zu, dass die Menschen die Stärke liebreicher Neigungen im allgemeinen nach den entgegengerichteten Triebfedern der Selbstliebe beurteilen, die von jenen überwunden werden müssen. Aber mu
ss auch die Gottheit so verfahren? Ist ein Wesen weniger liebenswert, weil es keine Triebfeder hat, die es hassenswert macht? Wenn ein Wesen, das keine Triebfeder zum Bösen hat, von einem höheren Wesen geliebt werden kann, wird dieses nicht das Glück des Handelnden wünschen, den es liebt? Ein solches Wesen wird zwar ohne Aussicht auf irgendwelchen eigenen Vorteil gut handeln; aber würde ein wohlwollendes höheres Wesen aus diesem Grunde weniger um sein Glück bemüht sein?

Wenn man das Wort belohnenswert jedoch nur auf solche Handlungen anwendet, die ein Handelnder ohne Aussicht auf Belohnung nicht ausführen würde, dann ist es in der Tat notwendig, dass der Handelnde, damit seine Handlung belohnenswert ist, entweder keine liebreichen Neigungen hat oder daß er in Verhältnissen lebt, wo Selbstliebe zu Handlungen führt, die dem allgemeinen Wohl entgegengesetzt sind, und alle liebreichen Neigungen unterdrückt, oder daß er böse Neigungen hat, die seine Selbstliebe sogar bei einer guten Einrichtung der Welt nicht ohne Belohnung unterdrücken kann.

Diese armselige Vorstellung von Belohnenswürdigkeit ist von der Armut und Ohnmacht menschlicher Herrscher hergenommen, deren Mittel bald erschöpft sind und die nicht alle glücklich machen können, deren Glück sie wünschen: Ihr geringer Vorrat muß sparsam verwaltet werden. Niemand darf daher belohnt werden für das Gute, das er auch ohne Belohnung tut, oder dafür, daß er sich böser Taten enthält, zu denen er nicht von sich aus neigt. Belohnungen müssen dem unverschämten Minister vorbehalten bleiben, der sich seinem Fürsten widersetzen würde, wenn er nicht belohnt wird, dem unruhigen Demagogen, der Zwietracht sät, wenn er nicht bestochen wird, oder dem habgierigen und niedriggesinnten, aber verschlagenen Bürger, der seinem Vaterland nur soweit dient, wie es ihm zum persönlichen Vorteil gereicht. Laßt jedoch ein liebreiches ehrliches Herz bekennen, welche Gesinnung es liebt, wessen Glück es am meisten wünscht, wen es belohnen würde, wenn es könnte, oder welche Eigenschaften es sind, die es mit dem größten Wohlgefallen und mit der größten Billigung durch ein höheres Wesen belohnt sehen möchte: Wenn diese Fragen beantwortet sind, werden wir wissen, was Handlungen belohnenswert macht.

Wenn wir die Handlungen belohnenswert nennen, deren Belohnung wir billigen, dann werden wir in der Tat die Belohnung all der Handlungen billigen, die wir ihrerseits billigen, ob nun der Handelnde irgendwelche Neigungen oder Triebfedern zum Bösen hatte oder nicht. Wir werden auch die Aussetzung von Belohnungen für allgemein nützliche Handlungen billigen, was immer die Neigungen der Handelnden gewesen sein mögen. Wenn durch die Aussicht auf Belohnungen bösartige Naturen von Missetaten abgehalten oder selbstsüchtige Naturen
(oder auch wohlwollende, die ohne Belohnung nicht imstande sind, wirkliche oder anscheinende Triebfedern der Selbstsucht zu überwinden) zum Dienst an der Allgemeinheit veranlaßt werden: so fördert in allen diesen Fällen die Aussetzung von Belohnungen wirklich das Glück des Ganzen oder vermindert sein Unglück und wird folglich von unserm moralischen Sinn gebilligt.

In dieser letzten Bedeutung des Wortes sind die folgenden Eigenschaften belohnenswert:


1. reines ungetrübtes Wohlwollen;
2. überwiegende gute Neigungen;
3. schwaches Wohlwollen, das ohne Belohnung anscheinend entgegengesetzte Triebfedern der Selbstliebe nicht überwinden kann;
4. ungetrübte Selbstliebe, die durch die Aussicht auf Belohnung zum Dienst an der Allgemeinheit veranlaßt wird;
5. Selbstliebe, die mit Unterstützung von Belohnungen einige böse Neigungen überwinden kann. Wenn in diesen Fällen die Aussetzung von Belohnungen das Glück des Ganzen vermehrt oder sein Unglück vermindert, so beweist es Güte in dem Herrscher, Belohnungen auszusetzen, wenn er auf andere Weise nicht leicht so viel Gutes für das Ganze bewirken kann.

Wenn wir die Notwendigkeit unterstellen, daß alle tugendhaft Handelnden gleichermaßen glücklich gemacht werden, dann würde eine Beimischung von bösen Eigenschaften zu überwiegenden guten Eigenschaften oder eine Beimischung von starken entgegengesetzten Triebfedern zu überwiegenden Triebfedern zum Guten bei der Verteilung von Belohnungen wirklich ins Gewicht fallen; denn ein solches Wesen muß während des Kampfes entgegengesetzter Neigungen oder Triebfedern in seiner Brust weniger Lust verspürt haben als ein Wesen, dessen Tugend auf keinen inneren Widerstand gestoßen ist.

Aber da eben dieser Widerstand dem Wesen einen starken Beweis seiner Tugendkraft geliefert hat, kann dieses Bewußtsein als besondere Entschädigung gelten, die den ungemischten Charakteren vorenthalten ist. Auch scheint es nicht notwendig zu sein, daß alle Wesen gleichermaßen glücklich sind. Es ist keineswegs unvereinbar mit der vollkommenen Güte, daß sie eine Hierarchie von Wesen schafft, und vorausgesetzt, daß alle Tugendhaften schließlich voll zufrieden sind und so glücklich wie sie wünschen, so liegt kein Widerspruch in der Annahme verschiedener Fähigkeiten und verschiedener Grade des Glücks. Und während der Zeit der Prüfung gibt es nicht einmal den Schatten einer Notwendigkeit, daß alle gleich seien.

Diejenigen, die niemanden auf Grund einer Eigenschaft oder Handlung für strafwürdig halten, wenn es nicht in seiner Macht lag, die entgegengesetzte Eigenschaft zu besitzen oder sich der Handlung zu enthalten, wenn er wollte, haben möglicherweise recht. Aber dann sollten sie andererseits nicht behaupten, es sei ungerecht, diejenigen zu belohnen oder glücklich zu machen, die irgendwelche Neigungen zum Bösen weder hatten noch irgendwie sich wünschen konnten. Wenn nun die Neigungen der Menschen von Natur aus gut sind und wenn ihre Mitmenschen keine Eigenschaft besitzen, die notwendigerweise bösen Willen im Betrachter wachruft, sondern vielmehr alle Eigenschaften, die erforderlich sind, um wenigstens Wohlwollen oder Mitleid wachzurufen, so kann man mit Recht sagen, daß es in jedermanns Macht liegt, alle bösen Neigungen in sich zu verhindern und liebreiche Neigungen gegen alle in sich wachzurufen. Die verwickelten Debatten über die menschliche Freiheit berühren daher das, was hier über unser Empfinden für Neigungen und Handlungen gesagt wird, genausowenig wie irgendwelche anderen Systeme dies tun.

Verdienst, behaupten einige, setzt neben liebreichen Neigungen voraus, daß der Handelnde einen moralischen Sinn hat, sich seiner eigenen Tugend bewußt ist, sich an ihr freut und sich entschließt, wegen des Vergnügens, das sie mit sich führt, an ihr festzuhalten. Wir brauchen die Verwendung des Wortes
Verdienst hier nicht zu erörtern. Offensichtlich billigen wir eine großherzige, liebreiche Handlung, auch wenn der Handelnde die obige Überlegung nicht angestellt hat. Die Überlegung offenbart eine Triebfeder der Selbstliebe, deren Mitberücksichtigung unsere Billigung der Handlung nicht verstärkt. Aber andererseits ist dann zuzugeben, daß wir aus einer oder zwei liebreichen und großherzigen Handlungen keinen zutreffenden Schluß auf den Charakter ziehen können, zumal wenn keine sehr starken Triebfedern zum Gegenteil vorhanden waren. Einige anscheinende Triebfedern der Selbstliebe können später die liebreichen Neigungen überwinden und den Handelnden zu Missetaten führen.

Aber der Gedanke an die Tugend und der Reiz, der von ihrer Schönheit ausgeht, offenbaren ein Interesse auf seiten der Tugend, das, in gute Obhut genommen, von keiner anderen Triebfeder zu überwinden ist. Diese Überlegung gibt dem Charakter Festigkeit und muß bei einem Geschöpf wie dem Menschen vorausgesetzt werden, bevor wir uns auf die Beständigkeit seiner Tugend verlassen können. Dasselbe gilt von vielen anderen interessebedingten Triebfedern zur Tugend, die zwar nicht unmittelbar die liebreichen Neigungen des Handelnden beeinflussen, aber doch die Hindernisse aus dem Wege räumen, die auf einem falschen Anschein von Interesse beruhen. Dazu gehören auch die Triebfedern, die auf der Sanktion der göttlichen Gesetze durch zukünftige Belohnungen und Strafen beruhen, und sogar jene, die auf den offenbaren Vorteilen beruhen, welche die Tugend in diesem Leben mit sich bringt; wenn diese nicht berücksichtigt werden, ist ein gradliniger Kurs der Tugend inmitten der Verworrenheit der menschlichen Angelegenheiten kaum zu erwarten.

Aus: Erläuterungen zum moralischen Sinn. (An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections, with Illustrations
Moral Sense.) 1728. Abschn. 4, 5. In: Illustrations on the Moral Sense. Ed by B. Peach. Cambridfe (Mass): Harvard University Press, 1971. S.115—119, 159—174. Übers. von G. Gawlick.
Text auch enthalten in: Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Herausgeber: Rüdiger Bubner . Band 4, Empirismus, Herausgegeben von Günter Gawlick (S.204-216)
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