Khalil Gibran (1883 – 1931)

  Libanesischer Autor und Mystiker, der bedeutende Werke verfasste. Weltberühmt wurde er mit seinem millionenfach verbreiteten Kultbuch »Der Prophet«. Darüber hinaus war er ein bekannter Maler in den USA sowie Leitartikler und Kolumnist in der arabischen Presse.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Von Vernunft und Leidenschaft
Von Gut und Böse
Von der Religion

Von Vernunft und Leidenschaft

Da ergriff die Priesterin von neuem das Wort und sagte: »Sprich zu uns von Vernunft und Leidenschaft.«

Und er antwortete und sprach:
»Oftmals ist eure Seele ein Schlachtfeld, auf dem eure Vernunft und euer Urteilsvermögen Krieg gegen eure Leidenschaft und euer Begehren führen.

Ich wünschte, ich könnte der Friedensstifter in eurer Seele sein, so daß ich den Mißklang und den Widerspruch eurer Wesenszüge in Einklang und Harmonie verwandeln könnte.

Aber wie vermag ich das, außer ihr schließt auch selbst Frieden mit euch und liebt all eure Wesenszüge?

Eure Vernunft und eure Leidenschaften sind wie Ruder und Segel eurer seefahrenden Seele.

Wenn entweder euer Segel reißt oder euer Ruder bricht, dann treibt ihr hilflos umher oder ihr liegt mitten im Ozean fest.

Denn wenn die Vernunft allein herrscht, ist ihre Macht einengend, und ist die Leidenschaft ungezügelt, so brennt sie bis zur Selbstzerstörung.
Daher laßt eure Seele die Vernunft auf die Höhe der Leidenschaft erheben, auf daß sie singe;

Und laßt sie eure Leidenschaft mit Vernunft lenken, damit eure Leidenschaft täglich von neuem zum Leben erwacht und sich wie der Phönix aus ihrer Asche aufschwingt.

Ich möchte, daß ihr euren Verstand und eure Begierden wie geliebte Gäste in eurem Haus betrachtet.

Gewiß würdet ihr nicht einen Gast höher ehren; denn wer den einen über den anderen stellt, verliert beider Liebe und Vertrauen.

Wenn ihr in den Hügeln im kühlen Schatten der weißen Pappeln sitzt und teilhabt am Frieden und der Heiterkeit ferner Felder und Weiden - dann laßt euer Herz im stillen sagen: >Gott ruht in der Vernunft.<

Und wenn der Sturm kommt und der gewaltige Wind den Wald erschüttert, und Donner und Blitz die Majestät des Himmels verkünden - dann laßt euer Herz ehrfürchtig rufen: >Gott bewegt sich in Leidenschaft.<

Und da ihr ein Atemhauch auf Gottes Erde seid und ein Blatt im Wald Gottes, so sollt auch ihr in der Vernunft ruhen und euch in Leidenschaft bewegen.«
S.65-67 [...]

Von Gut und Böse
Und einer der Stadtältesten sagte: »Sprich zu uns von Gut und Böse.«

Und er antwortete:
»Von dem Guten in euch kann ich sprechen, aber nicht von dem Bösen.

Denn was ist das Böse anderes als das Gute, das von seinem eigenen Hunger und Durst gequält wird?

Wahrhaftig, wenn das Gute hungrig ist, sucht es Nahrung selbst in dunklen Höhlen, und wenn es dürstet, trinkt es sogar von fauligem Wasser.

Gut seid ihr, wenn ihr eins mit euch selbst seid.

Doch wenn ihr nicht eins seid mit euch selbst, seid ihr dennoch nicht böse.

Denn ein geteiltes Haus ist noch keine Räuberhöhle, sondern einfach nur ein geteiltes Haus.

Und ein Schiff ohne Ruder mag ziellos zwischen gefährlichen Inseln herumirren und doch nicht auf den Meeresgrund sinken.

Ihr seid gut, wenn ihr danach strebt, von euch zu geben.

Doch seid ihr nicht böse, wenn ihr nach Gewinn für euch selbst strebt.

Denn wenn ihr nach Gewinn strebt, seid ihr nur wie eine Wurzel, die sich an die Erde klammert und sich an ihrem Busen nährt.

Gewiß kann die Frucht nicht zu der Wurzel sagen: >Sei wie ich, reif und voll und immer bereit, von deinem Überfluß zu geben.<

Denn der Frucht ist das Geben ein Bedürfnis, so wie der Wurzel das Empfangen.

Ihr seid gut, wenn ihr in eurer Rede vollständig wach seid.

Dennoch seid ihr nicht böse, wenn ihr schlaft und eure Zunge ziellos stammelt.

Und selbst holpriges Reden mag eine schwache Zunge kräftigen.

Ihr seid gut, wenn ihr festen und kühnen Schrittes auf euer Ziel zugeht.

Aber ihr seid nicht böse, wenn ihr dorthin hinkt.

Selbst der Hinkende schreitet nicht zurück.

Doch ihr, die ihr stark und schnell seid, seht zu, daß ihr nicht vor den Lahmen hinkt und dies für Freundlichkeit haltet.

Auf unzählige Weisen seid ihr gut, und wenn ihr nicht gut seid, dann seid ihr noch lange nicht böse.

Ihr seid nur träge und faul. Ein Jammer, daß der Hirsch die Schildkröte keine Schnelligkeit lehren kann.

In eurem Sehnen nach eurem übermenschlichen Selbst liegt euer Gutsein, und dieses Sehnen wohnt in allen von euch.

Aber in manchen von euch ist diese Sehnsucht ein Sturzbach, der mit Macht zum Meer rauscht und die Geheimnisse der Hügel und die Lieder des Waldes mit sich trägt.

Und in anderen ist es ein flacher Strom, der sich in Kurven und Windungen verliert und lange verweilt, bis er die Küste erreicht.

Dennoch soll der, welcher viel ersehnt, nicht zu dem sagen, der wenig begehrt: >Warum gehst du langsam und zögerst?<

Denn der wahrhaft Gute fragt auch nicht den Nackten: >Wo ist dein Gewand?< noch den Obdachlosen >Was ist aus deinem Haus geworden?<
« S.85-87 [...]

Von der Religion

Und ein alter Priester sagte: »Sprich zu uns von der Religion.«

Und er erwiderte:
»Habe ich denn heute von etwas anderem gesprochen? Sind nicht alle Handlungen und alles Sinnen Religion,
Und auch alles, was weder Tätigkeit noch Nachdenken ist, sondern ein Wunder und ein Staunen, das beständig der Seele entspringt, selbst während die Hände den Stein behauen?

Wer kann seinen Glauben von seinen Taten trennen, oder seine Überzeugung von seinem Tun?
Wer kann seine Stunden vor sich ausbreiten und sagen: >Dies ist für Gott, und dies für mich, dies für meine Seele, und jenes andere für meinen Körper?<

All eure Stunden sind Schwingen, die von Ich zu Ich durch den Raum schlagen.

Wer seine Moral nur wie sein bestes Gewand trägt, der ginge besser nackt.

Der Wind und die Sonne werden ihm schon keine Löcher in die Haut reißen.

Und wer sein Verhalten nach den Sittenlehren richtet, der sperrt seinen Singvogel in einen Käfig.

Doch selbst das freieste Lied dringt nicht durch Gitterstäbe und Draht.

Und der, für den die Anbetung ein Fenster ist, das man öffnen, aber ebensogut verschließen kann, der hat das Haus seiner Seele noch nicht aufgesucht, dessen Fenster von einer Morgenröte zur anderen reichen.

Euer tägliches Leben ist euer Tempel und eure Religion.

Wann immer ihr ihn betretet, nehmt euren ganzen Besitz mit.

Nehmt den Pflug, den Amboß, den Hammer und die Laute,
Das, was ihr aus Notwendigkeit oder zu eurer Freude geschaffen habt.

Denn in Tagträumen vermögt ihr euch weder über eure Leistungen hinaus zu erheben noch tiefer zu stürzen als euer Scheitern.
Und nehmt alte Menschen mit euch: Denn in der Andacht könnt ihr weder höher fliegen als ihre Hoffnungen sind, noch euch tiefer erniedrigen als ihre Verzweiflung.

Und wenn ihr Gott kennenlernen wollt, dann macht euch nicht daran, Rätsel zu entziffern.

Schaut euch lieber um, und ihr werdet sehen, wie Er mit euren Kindern spielt.

Und seht in den Himmel, und ihr werdet Ihn auf den Wolken wandeln sehen, Seine Arme mit dem Blitz recken und im Regen hinabsteigen.
Ihr werdet sehen, wie Er in den Blumen lächelt, dann emporsteigt und euch aus den Bäumen zuwinkt.«

Aus: Khalil Gibran, Der Prophet (S.65-67, 85-87, 105-107)
Aus dem Amerikanischen von Barbara Röhl
Neuübersetzung © 2002 Piper Verlag GmbH, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Piper Verlages Gmbh, München