Heinz Friedrich Bernhard Zahrnt (1915 - 2003)
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Inhaltsverzeichnis
Jesus aus Nazareth - Anfänger und Vollender des Glaubens
Die Überlieferung
von Jesus – die Entstehung der Evangelien
Jesus
aus Nazareth - Anfänger und Vollender des Glaubens
Ich bin gekommen, ein Feuer
auf Erden anzuzünden
Die israelitisch—jüdische Religionsgeschichte hat einen doppelten
Ausgang genommen. Auf der einen Seite mündet sie in das Judentum
der hebräischen Bibel und des Talmuds, auf
der anderen in das Christentum des Alten und Neuen Testaments.
Am Schnittpunkt von beidem steht Jesus aus Nazareth mit
seiner Gottesbotschaft.
Kein anderes Menschenleben ist in den letzten zweihundertfünfzig Jahren
historisch so gründlich durchforscht worden wie das seine. Aber ein
»Leben Jesu« läßt
sich nicht schreiben. Die neutestamentlichen Evangelien geben weder ihrer
Absicht noch ihrem Umfang nach den Stoff zu einer »Biographie«
her. Sie haben kein historisches oder psychologisches Interesse, sondern wollen
Jesu Worte und Taten als Gottes
Offenbarung und Heil dartun .Eine vom Glauben freie Überlieferungsstrecke
hat es niemals gegeben.
Stellt man die einigermaßen verläßlichen Daten des Lebens Jesu
zusammen, so füllen sie kaum eine DIN-A4-Seite. Dennoch
muß die Theologie immer neu den Weg von dem in der Bibel verkündigten
Christus zu dem historischen Jesus, das heißt zu Jesus selbst zurückgehen,
wenn der christliche Glaube nicht seinen Anhalt an der Geschichte verlieren
und in einem mythisch-gnostischen Nebel verschwimmen soll. Dabei darf
sie aber nicht historische Forschungsergebnisse, mögen sie auch noch so
gesichert erscheinen, unmittelbar zur Grundlage gegenwärtigen Glaubens
erheben. Zufällige Geschichtswahrheiten können nach wie vor nicht
der Grund ewiger Glaubenswahrheiten sein! Ein Bibeltext kann historisch unecht
und dennoch religiös wahr sein, wie umgekehrt ein Text historisch echt
sein kann und dennoch keine religiöse Wahrheit mehr für uns enthalten.
Zu einem Gesamtbild Jesu gelangt man, nicht anders
als sonst in der historischen Arbeit, durch einen Zirkelschluß:
Mittels einer kritischen Einzelanalyse der Texte sucht man Stück um Stück
ein verläßliches Gesamtbild zu gewinnen und an dem so gewonnenen
Gesamtbild wiederum die Einzelanalyse kritisch zu überprüfen, so daß
sich Einzelanalyse und Gesamtkonzeption gegenseitig stützen und durchdringen.
Wer zum Licht der Wahrheit gelangen will, muß zuvor das Zwielicht der
Wahrscheinlichkeit durchschreiten.
Die historisch sicherste Basis der neutestamentlichen Jesusüberlieferung
bilden die kleinen literarischen Einheiten, wie sie die formgeschichtliche Forschung
herausgearbeitet hat: Aphorismen, Gleichnisse, Streitgespräche,
Wundergeschichten, vor allem Worte, die noch ein unwiederholbares Situationsbewußtsein
widerspiegeln. Der chronologisch-biographische Rahmen, in den die Einzelüberlieferungen
eingefügt sind, stellt die eigene Komposition der Evangelisten dar. Im
ganzen wird man mit einem sicheren Boden dort rechnen können, wo eine Tradition
weder aus der jüdischen Umwelt noch aus dem Gedankengut der Urchristenheit
abgeleitet werden kann. Aber selbstverständlich kann auch aus dem Mund
Jesu »Jüdisches« kommen und umgekehrt
eine christliche Gemeindebildung »jesuanisch«
sein.
Auch im Fall Jesu gilt, daß das wahrhaft Geschichtliche an einer bedeutenden
Gestalt die persönliche Wirkung ist, die der
Nachwelt spürbar von ihr bleibt. Und da hat der »biblische
Christus« in der Geschichte des Christentums, ja der Menschheit
fraglos unvergleichlich stärker gewirkt als der sogenannte »historische
Jesus«. Wer vorurteilsfrei an die Evangelien herantritt, gewinnt
aus ihnen — trotz aller Unterschiede im einzelnen — den Eindruck
einer einheitlichen Erscheinung, wobei die eigene
Phantasie des Betrachters gewiß stets kräftig mitmalt.
Insgesamt gibt es für den kritischen Umgang mit der neutestamentlichen
Jesusüberlieferung nach wie vor keinen besseren Rat als die berühmten
Sätze, die Gotthold Ephraim Lessing bereits
vor zweihundertfünfzig Jahren, beim Beginn des neuzeitlichen Streits um
Jesus, geschrieben hat: »Die Religion ist nicht
wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten; sie lehrten sie, weil sie
wahr ist. Aus ihrer inneren Wahrheit müssen die schriftlichen Überlieferungen
erklärt werden; und alle schriftlichen Überlieferun¬gen können
ihr keine geben, wenn sie keine hat.«
Beim Rückbezug auf Jesus selbst geht es dem christlichen Glauben nicht
um einzelne Richtigkeiten, sondern um die Richtung im ganzen: daß der
Kernpunkt der Botschaft Jesu von Gott zugleich die Pointe seiner eigenen Existenz
bildet. Die gemeinsame Mitte der neutestamentlichen Überlieferung, in der
Person und Botschaft Jesu übereinstimmen, ist der von ihm gelebte und verkündigte
Glaube an Gott.
Jesus hat nicht sich selbst gepredigt. Er ist nicht durch Palästina gewandert
und hat, mit dem Finger auf sich zeigend, gerufen: Ich bin, sondern hat von
sich weg auf Gott verwiesen: Gott ist! Es geht ihm nicht
um die eigene Selbstverwirklichung, sondern um das Wirklich- und Wirksamwerden
Gottes. Jesus
ist »radikaler Theozentriker«. Gott
zur Sprache zu bringen, dazu weiß er sich ermächtigt und gesandt.
Wie unverbunden auch die einzelnen Stücke der neutestamentlichen Jesusüberlieferung
nebeneinander stehen, alle haben ihren gemeinsamen Grund und Sinn in dem, was
Jesus, oft sogar ohne jeden Zusatz, »Glauben«
nennt. Nirgendwo sonst in der Religionsgeschichte wird der gesamte Inhalt
einer Religion so total auf den »Glauben«
konzentriert und dieser wiederum so radikal als Vertrauen
identifiziert wie im Christentum. Von den vielen Titeln, die Jesus im
Neuen Testament beigelegt werden, scheint mir ihn der Name »Anfänger
und Vollender des Glaubens« daher am zutreffendsten zu charakterisieren.
An seinem Leben und Wirken wird offenbar, was Glaube an Gott heißt.
»Aus Glauben zum Glauben« lassen sich
daher Jesu Person und Botschaft
zur Einheit verbinden.
Die Grundverfassung der Existenz Jesu bildet seine Gottesbeziehung. Sie
ist die Quelle, aus der er lebt, lehrt und leidet. Er ist kein Mächtiger,
sondern ein Angewiesener — ohne die Möglichkeit eitler steten Ausflucht
in die ange¬stammte göttliche Natur. Er ist in die Zweideutigkeiten
des Lebens verstrickt, darum im Urteil unsicher, vor Irrtum nicht geschützt,
in seiner Macht begrenzt, vor Anfechtungen nicht gefeit, den Wechselfällen
des Daseins ausgeliefert — alles in allem nicht ein schicksalsloser, unverwundbarer
Himmelsbote, der nur von oben her über Gott redete, sondern ein lebensvoller,
verletzlicher Mensch, der Gott am eigenen Leib erlebt und erleidet.
In demselben Hebräerbrief, der ihn den »Anfänger
und Vollender des Glaubens« nennt, heißt es von ihm: »Er
hat, obwohl er Gottes Sohn war, an dem, was er litt, Gehorsam gelernt.«
Damit ist gesagt, daß Jesus in
seiner Gottesbeziehung einen Lernprozeß durchgemacht hat. Er hat
gelernt, Gott über alle Dinge zu Fürchten, zu lieben und ihm zu vertrauen,
und so in seinem Selbstbewußtsein dem Bewußtsein Gottes immer mehr
Raum gegeben. Der spätere Sohnesname war nicht ererbt, sondern »erlebt«.
Weil er nichts von sich selbst hat, besitzt Jesus auch kein von Anfang an fertiges
Sendungsbewußtsein, sondern hört immer neu auf die Stimme Gottes.
Darum spielt das Gebet für ihn eine so große Rolle. Immer wieder
flieht er des Nachts oder früh vor Tagesanbruch in die Einsamkeit: Die
Zwiesprache mit Gott ist der Ort der Offenbarung
Gottes in Jesu Leben.
Ursprung und Kern seiner Verkündigung bildet seine eigene
Gotteserfahrung. Er offenbart Gott einfach dadurch, daß er sein
persönliches Verhältnis zu ihm öffentlich auslebt. Indem er selbst
den Glauben lebt, erweckt er ihn in anderen.
Genau genommen, vermittelt Jesus keine Lehre oder Idee,
sondern sich selbst. Indem er Menschen unmittelbar — ohne Zwischeninstanz,
ohne Titel, Amt und großen Namen — allein durch sein Wort zum Glauben
ruft, versetzt er sie in die Gegenwart Gottes, wie er sie selbst erfahren hat.
Die Wahrheit ist für ihn stets persönlich und konkret. Sie steht nicht
fest, sondern ereignet sich jeweils neu in der Begegnung. Und wo immer ein Mensch
sich von ihm zum Glauben ermutigen läßt, dort ist seine Verkündigung
ans Ziel gelangt. Denn der Glaube an Gott ist ihr einziger
Inhalt. [...]
Das führt zu dem anderen religiösen Symbol, das die Zusage der unmittelbaren
Nähe Gottes ausdrückt: »Die Zeit ist erfüllt,
das Reich Gottes ist herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium«.
Mit dieser Zeitansage tritt Jesus in die Öffentlichkeit. Sie hat
sich nicht erfüllt. Das Reich Gottes ist nicht so gekommen, wie Jesus und
seine Jünger es erhofft hatten. Sie waren in der apokalyptischen Weltsicht
ihrer Zeit befangen. Aber mit dem Wegfall des weltanschaulichen Gewandes ist
der Inhalt der Botschaft nicht hinfällig geworden. Die andrängende
Nähe des Reiches Gottes gilt weiterhin. Wer auf Jesu
Ruf hört, hat keine Zeit mehr. Jeder geschichtliche Augenblick kann zur
»erfüllten Zeit« werden, zum
»Kairos«, in dem das Ewige in die Zeit einbricht und es wiederum
heißt: »Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.
Kehrt um und glaubt an das Evangelium!«
Jesus radikalisiert die biblische Gottesverkündigung,
und zwar beide Seiten, sowohl die Forderung des Gesetzes als auch den
Zuspruch der Gnade, das Tun-Sollen wie das Sein-Dürfen des Menschen. Dieses
Paradox von radikaler Forderung und radikaler Gnade ist das wesentlich Neue,
das die zeitgenössische jüdische Frömmigkeit qualitativ übersteigt.
S.213-219
Aus: Heinz Zahrnt, Das Leben Gottes. Aus einer unendlichen Geschichte, Serie
Piper SP 2953, © 1997 Piper Verlag GmbH, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau
Dorothee Zahrnt
Die
Überlieferung von Jesus – die Entstehung der Evangelien
Die Überlieferung von Jesus begann schon zu seinen Lebzeiten, sobald Augenzeugen
von ihren Begegnungen mit ihm berichteten: Der eine war von seiner Krankheit
geheilt worden, der andere hatte die Vergebung seiner Schuld erfahren, ein dritter
war betroffen von der Macht des Liebesgebotes, und wieder ein anderer fühlte
sich von Gott und den Men¬schen neu angenommen. So hatte jeder seine persönlichen
Erinnerungen an Jesus und erzählte von ihnen.
Nach der Auferstehung Jesu begann jedoch ein neues Stadium. Jetzt trat die Überlieferung
aus der Sphäre des Privaten heraus und wurde zu einer Angelegenheit der
Gemeinde, da¬mit öffentlich und schließlich offiziell. Die Mission
war der Anlaß, die Predigt das Mittel der Verbreitung, wobei zur »Predigt«
alle Lebensäußerungen der Gemeinde gehörten: Gottesdienst und
Liebestätigkeit, Apologetik und Polemik, Gemeindedisziplin und schriftgelehrte
Arbeit.
Alle diese Interessen haben die Überlieferung von
Jesus geformt, und so war diese von Anfang an durch den Glauben der Gemeinde
geprägt. Auch die kleinste Überlieferungseinheit, selbst die kürzeste
Szene und der knappste Spruch, war von dem Glauben bestimmt, daß Jesus
der Christus Gottes sei; sie wurde weitergegeben, gesammelt und schließlich
aufgezeichnet, um diesen Glauben zu bezeugen und als wahr zu erweisen —
wie es am ursprünglichen Schluß des Johannes-Evangeliums heißt:
»Diese Zeichen sind geschrieben, damit ihr glaubt,
daß Jesus der Christus ist, der Sohn
Gottes, und
damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.«
Dabei warf die Auferstehung Jesu ihr Licht auf
alle Erinnerungen an ihn zurück. Was er zu seinen Lebzeiten gesagt und
getan hat, wurde in ihrem Horizont erzählt. So sehr war das Verständnis
seiner Geschichte davon bestimmt, daß sich die Grenzen zwischen seinem
vorösterlichen und seinem nachösterlichen Wirken zu verwischen begannen.
Wenn die christlichen Gemeinden von Jesu Worten und Werken erzählten, so
taten sie es im Grunde nicht, um von einer historischen Gestalt der Vergangenheit
zu berichten, sondern um ihren gegenwärtigen Herrn zu verkündigen.
Dies verleiht den neutestamentlichen Evangelien ihren einmaligen, von allen
anderen Arten und Gattungen antiker Geschichtsschreibung und Literatur unterschiedenen
Charakter. Sie sind keine historischen Berichte und Biographien, sondern Glaubensurkunden,
Zeugnisse von geschehener Verkündigung, auf daß neue Verkündigung
geschehe und also neu Glaube entstehe. Immer begegnet die Überlieferung
von Jesus nur im »Kerygma«, daß heißt
im Glauben und in der Verkündigung der Gemeinde.
Es konnte gar nicht ausbleiben, daß Jesus
»persönlich« in sein Evangelium
hineingeriet. Denn wer glaubt, daß wahr sei und
stimme, was Jesus von Gott
gesagt hat, wer mithin an Gott durch Jesus
glaubt, der glaubt an Gottes Gegenwart in Jesus.
Und so wurden die Worte und Taten eines jüdischen Wander¬lehrers
zu Gottes Wort und Tat in der Geschichte. Der in Gottes Namen geredet hatte,
wurde jetzt selbst zum Namen Gottes. Und so schlug die Botschaft Jesu von Gott
um in die Botschaft von Gott in Christus.
Wo immer dieser Umschlag geschah, dort entwarfen die Gläubigen jeweils
in den Worten, Farben und Formen ihrer Umwelt ein Bild von dem Anfänger
und Vollender des Glaubens. Da sie in Jesu
Person und Botschaft die Gegenwart Gottes
erfahren zu haben glaubten, war es ein Bild ihrer eigenen Glaubenserfahrung
— aber nun nicht einfach nur ein Bild ihrer eigenen seelischen Kraft,
vielmehr der Eindruck, den Jesus in ihrer Seele
hinterlassen hat, und somit der göttlichen Kraft,
die ihn selbst beseelt hat.
Bei der Sammlung und Sichtung der im Umlauf befindlichen mündlichen und
schriftlichen Überlieferungen von Jesus wurden
die verschiedenartigen Aspekte seiner Erscheinung immer zugleich theologisch
reflektiert. Auf diese Weise entstanden etliche nebeneinander herlaufende und
voneinander abweichende Überlieferungsstränge mit jeweils verschiedener
theologischer Tendenz. Jede dieser »Glaubensrichtungen«
beging das Gedächtnis Jesu auf ihre Weise:
Jesus
als Wundermann, der sich
durch sichtbare Krafttaten ausweist -
als Weisheitslehrer, der durch die Vollmacht seiner
Rede überzeugt —
als Leidender und Sterbender,
der sich für die Vielen dahingibt —
als Erhöhter, der den Seinen vom Himmel herab
erscheint —
als Abwesender, der sehnsüchtig zu Gericht
und Erlösung erwartet wird—
als Anwesender, der schon jetzt das Heil der Endzeit in seiner ganzen Fülle
spendet. »Konfessionen« gab es schon
in der frühesten Christenheit!
Dieser Vielfalt entsprachen die verschiedenen religiösen Hoheits- und Würdetitel,
die die Gemeinden aus ihrer jüdischen, griechischen oder orientalischen
Umwelt übernahmen und sie auf Jesus übertrugen, um ihren Glauben an
ihn auszudrücken. Gar nicht genug Titel und Namen konnten sie häufen,
um die einzigartige Bedeutung Jesu zu beschreiben. Und so nannten sie ihn Messias
(Christus), Menschensohn, Davidssohn, Prophet, Sohn Gottes, Gottesknecht, Hoherpriester,
Hirte, Heiland, Retter, Mittler, Erlöser, Herr (Kyrios),
Logos (Wort),
Gott.
Dabei handelte es sich freilich niemals nur um eine einfache Übertragung
vorhandener Titel und fertiger Würdenamen, sondern stets zugleich um eine
Umprägung. Wo immer jene Titel zu Namen für Jesus, den Gekreuzigten
und Auferstandenen, wurden, dort wurden sie in seine Verkündigung einge¬schmolzen,
dort nahmen sie das Geheimnis seiner Person und Geschichte in sich auf und bekamen
einen neuen Sinn. So stark setzte sich das Eigene, Einzigartige der Gestalt
und Botschaft Jesu trotz aller Erhöhungen durch.
Insgesamt verrät die Überlieferung von Jesus
eine zunehmende Steigerung seiner Person ins Hoheitsvolle, ja Wunderbare.
Schaltet man die verschiedenen Stationen seiner Erhöhung hintereinander,
so ergibt sich folgende Ereigniskette:
Der präexistente Gottessohn, der von Ewigkeit her beim Vater weilt, steigt
aus der Himmelswelt herab und wird durch die Geburt von einer Jungfrau Mensch.
Während seines Erdenwandels wird ihm seine göttliche Sohnschaft gleich
zweimal — bei der Taufe am Jordan und bei der Verklärung auf einem
Berg — durch eine Himmelsstimme bestätigt. In
Erfüllung des göttlichen Heilsplans stirbt er für die Sünden
der Menschheit am Kreuz und kehrt, nachdem er sein Erlösungswerk auf der
Erde vollbracht hat, durch Höllenfahrt und Auferstehung hindurch in die
Himmelswelt zurück. Dort herrscht er zur Rechten Gottes, bis er,
diesmal für alle sichtbar auf den Wolken des Himmels, wiederkommen wird,
um Gericht zu halten und am Ende einen neuen Himmel und eine neue Erde heraufzuführen.
Innerhalb dieses heilsgeschichtlichen Rahmens wurden auch
die Taten, die Jesus auf Erden vollbracht hat, immer wunderbarer. Nun
wurden von ihm auch Naturwunder, wie die Stillung eines Sturms auf dem See Genezareth,
und sogar Totenerweckungen berichtet.
Bei den Totenerweckungen vollzog sich wiederum eine Steigerung: Zuerst ist es
nur ein soeben eingeschlafenes, fast nur scheintot wirkendes Mädchen, die
Tochter des Synago¬genvorstehers Jairus, das Jesus auferweckt — der
Jüngling zu Nain befindet sich schon auf dem Weg zum Friedhof, als Jesus
dem Leichenzug begegnet — Lazarus schließlich
ist schon drei Tage tot und sein Leichnam daher bereits in Verwesung begriffen
Alle diese Wunder sollten zum Beweis der Göttlichkeit
Jesu dienen. Tatsächlich aber drohten sie ihn zu einem morgenländischen
Magier zu machen und damit zu einem Doppelgänger
der vielen Wundertäter, die damals durch die Länder des Mittelmeers
zogen und ihre Künste anpriesen.
Deutet man die verschiedenen Weiterbildungen der Überlieferung von Jesus
und ihre Einkleidung in mythisches Gewand symbolisch, so verraten sie einen
tiefen Sinn und erweisen sich als sachlich richtige Auslegungen des einmaligen
geschichtlichen Ursprungs. Die Jungfrauengeburt wird dann
zu einem Symbol dafür, daß sich hier nicht ein Mensch nach Art griechischer
Heroen zu Gott emporgearbeitet, sondern umgekehrt Gott selbst in einem leibhaften
Menschen gehandelt hat.
Die Stillung des Seesturms zeigt an, daß der Glaube eine Macht
ist, die auch durch die Stürme und Untergänge des Lebens hindurchträgt.
Und die Totenerweckungen schließlich bezeugen Jesus
Christus als Herrn selbst über den Tod.
Den Interpretationshorizont für die Deutung der Geschichte Jesu lieferte
das Alte Testament — es war die Bibel der ersten christlichen Gemeinden.
Mit Hilfe des Schemas von »Weissagung und Erfüllung«
suchte man darzutun, wie sich die Prophezeiungen des Alten Testaments in Jesu
Geschick erfüllt haben: »Mußte nicht Christus dies erleiden
und in seine Herrlichkeit eingehen? Und er fing an bei Mose und allen Propheten
und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war.«
Man fand Jesu Weg im Alten Testament sozusagen »vorge¬schrieben«
— entsprechend lautete die übliche Zitationsformel »wie geschrieben
steht«. Der Nachweis der Erfüllung alttestamentlicher Texte ging
häufig, vor allem in der Passionsgeschichte, bis ins Einzelne und Kleinste.
Aber mögen diese punktuellen Schriftbeweise oft auch nachträgliche
schriftgelehrte Fündlein sein, so haben sie ihr Recht und ihren Ernst doch
darin, daß Jesus selbst im Alten Testament gelebt und aus ihm seine Sendung
verstanden hat.
So haben die ersten christlichen Gemeinden aus frommer Verehrung und Liebe,
gewiß bisweilen auch aus Aberglauben einen goldenen Schleier gewoben und
ihn über die harten Konturen der Gottesgeschichte gebreitet. Aus dem irdenen
Gefäß wurde eine goldene Monstranz. Der »Sohn
Gottes« wurde teilweise so sehr ins Wunderbare,
ja Wunderhafte gesteigert, daß seine Füße kaum noch den Erdboden
zu berühren schienen.
Dennoch wird man, aufs ganze gesehen, nicht behaupten können, daß
die Gemeinde die geschichtliche Gestalt Jesu aufgelöst und in einem mythisch-gnostischen
Nebel habe verschwimmen lassen. Wohl hat sie das Bild des irdischen Jesus
ausgeschmückt, sie hat es jedoch nicht verfälscht. Zwar wurde bisweilen
vergessen, daß Jesus in Niedrigkeit am Kreuz gestorben war, aber noch
der Auferstandene trug die Nägelmale des Gekreuzigten.
Daß das Christentum trotz allem eine geschichtliche Religion geblieben
ist, beweist die einfache Tatsache, daß das Zeugnis von Jesus Christus
in der Form von Evangelien überliefert wurde. Auch wenn diese die Geschichte
Jesu bereits im Licht seiner Auferstehung erzählen, so verkündigen
sie die Christusbotschaft doch immerhin im Rahmen des irdischen Lebens Jesu.
Selbst der Vierte Evangelist, den die Überlieferung »Johannes«
nennt, schreibt die Geschichte des erhöhten Herrn noch als Geschichte des
irdischen Herrn.
Dies ist um so erstaunlicher, als in den Briefen des Neuen Testaments, die zeitlich
meistens vor der Abfassung der Evangelien liegen, die Geschichte Jesu auf ein
Minimum zusammengeschrumpft und fast nur noch auf die Heilsbedeutung seines
Sterbens und Auferstehens konzentriert ist. Die Evangelien hingegen zeigen sich
trotz aller Deutung von Ostern her erheblich an der vorösterlichen Geschichte
Jesu interessiert. Sie schreiben ihr Kerygma [Verkündigung
des Evangeliums] dem irdischen Jesus zu und messen ihm damit eine
besondere Autorität und bleibende Bedeutung bei. Das
Kerygma ist für sie nicht anonym, sondern
trägt einen Namen; sein Name ist Jesus von Nazareth — kein Mythos
und keine Idee, auch kein Kulthaupt und kein Himmelswesen, sondern ein wahrhafter
Mensch. Es beginnt mit Jesus von Nazareth.
S.259ff.
Aus: Heinz Zahrnt, Jesus aus Nazareth. Ein Leben. Serie Piper SP 1141, ©
1987 Piper Verlag GmbH, München
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau
Dorothee Zahrnt