Wilhelm Windelband (1848 - 1915)
Deutscher
Philosoph, der nach Studien an den Universitäten Jena, Berlin und Göttingen (zuerst Medizin und Naturwissenschaften,
dann Geschichte und Philosophie) im Jahre 1873 als Privatdozent in
Leipzig tätig war. 1876 lehrte er als Professor in Zürich, 1877 folgte er einem Ruf nach Freiburg, 1882 – 1903 war er Professor in
Straßburg und danach in Heidelberg. Von Plato,
Kant, Fichte und Lotze
beeinflusst, vertritt Windelband einen teleologischen Kritizismus mit voluntaristischer Ausprägung, in dem
die Begriffe »Wert«, »Zweck« und »Norm« von zentraler Bedeutung sind. Die Philosophie ist nach Windelband Wertwissenschaft, d. h. die »kritische Wissenschaft von den allgemeingültigen
Werten«. Weil Werturteile »Beurteilungen«
(Urteile über Urteile) sind, bilden die Beurteilungen den Hauptgegenstand der Philosophie. Da die obersten Werte zudem ein Normsystem darstellen,
ist die Philosophie die »Wissenschaft vom Normalbewusstsein«, welche sich in Logik (einschließlich Erkenntniskritik),
Ethik und Ästhetik gliedert. Die allgemeingültigen Werte sind »Wahrheit im Denken«, »Gutheit
im Wollen und Handeln« und »Schönheit
im Fühlen«. Die Jahre in Staßburg waren seine fruchtbarste Zeit. Aus diesem Zeitraum stammt auch das 1892 entstandene »Lehrbuch
der Geschichte der Philosophie«, aus dem der folgende Abschnitt »Die religiöse Periode« entnommen
ist. Siehe auch Wikipedia |
Die religiöse Periode
Autorität und Offenbarung , Geist und Materie , Gott und Welt , Das Problem der Weltgeschichte .
Die religiöse
Periode
Autorität
und Offenbarung (§ 18)
Die unerschütterliche Selbstgewißheit und Selbstherrlichkeit, welche
die nacharistotelische Philosophie für den Weisen gesucht und zum Teil
behauptet hatte, war mit der Zeit so tief erschüttert worden, daß
sie einer theoretischen und ethischen Hilfsbedürftigkeit gewichen war.
Das philosophierende Individuum traute sich nicht mehr zu, aus eigener Kraft
zu rechter Einsicht oder zum Seelenheil zu gelangen, und es suchte somit eine
Hilfe teils bei den großen Erscheinungen der Vergangenheit, teils bei
einer göttlichen Offenbarung. Beide Wendungen aber fußen schließlich auf demselben Grunde: denn
das Vertrauen, welches den Männern und Schriften der Vorzeit entgegengebracht
wurde, beruhte doch nur darauf, dass in ihnen besonders
begnadete Gefäße der höheren Offenbarung gesehen wurden. Die Autorität gewann also ihren Wert als die mittelbare, historisch bewährte
Offenbarung, während die göttliche Erleuchtung
des einzelnen als unmittelbare Offenbarung ihr an die Seite trat. So
verschieden auch das Verhältnis zwischen diesen beiden Formen aufgefaßt
wurde, so ist doch das gemeinsame Kennzeichen aller alexandrinischen Philosophie,
dass sie die göttliche Offenbarung als
höchste Erkenntnisquelle betrachtet. Schon in dieser erkenntnistheoretischen
Neuerung aber spricht sich der gesteigerte Wert aus, den diese Zeit auf die
Persönlichkeit und ihre gefühlsmäßige Betätigung legte.
Die Wahrheit wollte für die Sehnsucht dieser Zeit erlebt sein als eine
innige Gemeinschaft des Menschen mit auf die Autorität erscheint in der
griechischen und hellenistischen Philosophie zwar dem höchsten Wesen.
1. Die Berufung
vielfach im Sinne der Bestätigung und Bekräftigung
eigener Ansichten, aber nicht als entscheidendes und ausschlaggebendes
Argument: zwar mochte bei den untergeordneten Mitgliedern der Schulen das
jurare in verba magistri üblich genug
sein; aber die Schulhäupter und die selbständig forschenden Männer
überhaupt verhielten sich zu den Lehren der Vorzeit weit mehr kritisch
als mit unbedingter Unterwerfung. Und wenn auch in den Schulen, zumal der akademischen
und der peripatetischen, durch die Gewohnheit des Kommentierens die Neigung
gefördert worden war, die Lehre des Stifters als einen unantastbaren Schatz
zu bewahren und zu behaupten, so war doch bei allem Streit um die Kriterien
der Wahrheit nicht das Prinzip aufgestellt worden, daß etwas darum geglaubt
werden müsse, weil es dieser oder jener große Mann gesagt habe.
Wie stark aber in der späteren Zeit das Autoritätsbedürfnis angewachsen
war, erkennt man schon aus den zahllosen Unterschiebungen, welche in der gesamten
alexandrinischen Literatur an der Tagesordnung waren. Ihre Urheber oder Verbreiter,
die vielleicht größtenteils bona fide handelten, indem sie selbst
ihre Gedanken nur für Ausbildungen und Fortsetzungen der alten Lehren ansahen,
glaubten offenbar ihren Werken nicht besser Eingang verschaffen zu können,
als indem sie ihnen den Namen eines der Heroen der Weisheit, eines Aristoteles,
Platon, Pythagoras beilegten. In ausgedehntestem
Maße tritt diese Erscheinung bei den Neupythagoreern auf, denen es vor
allem darum zu tun war, ihre neue Lehre mit dem Nimbus
uralter Weisheit zu bekleiden. Je mehr aber die auf diese Weise zu begründenden
Ueberzeugungen einen religiösen Charakter trugen, um so lebhafter wurde
das Bedürfnis, diese Autoritäten selbst als Träger einer religiösen
Offenbarung aufzufassen, und deshalb wurden in ihnen alle die Züge aufgesucht
oder auch wohl solche in sie hineingelegt, welche sie dazu stempeln konnten.
Nicht zufrieden aber damit, glaubten die späteren Griechen ihrer Philosophie (wie ihrer gesamten Kultur) dadurch eine höhere
Weihe zu geben, daß sie alles Wertvolle und Ehrwürdige darin aus
den orientalischen Religionen herleiteten: so nahm Numenios keinen Anstand zu
behaupten, Pythagoras und Platon hätten nur die alte Weisheit der Brahmanen, Magier, Aegypter und Juden
vorgetragen. Damit wuchs denn die Ausdehnung der literarischen Autoritäten
außerordentlich: die späteren Neuplatoniker, ein Jamblichos
und Proklos, kommentierten nicht nur griechische
Philosophen, sondern auch die gesamte hellenische und barbarische Theologie
und nahmen ihre Mythen und Wunderberichte gläubig auf.
In ganz ähnlicher Weise bezeugte nun aber auch die orientalische Literatur
dem Hellenismus ihre Hochachtung. Unter den Vorgängern Philons
hat namentlich Aristobulos sich auf Verse, welche dem Orpheus und Linos, dem
Homer und Hesiod untergeschoben wurden, berufen,
und bei Philon selbst, dem großen
Jüdischen Theologen, erscheinen neben dem alten Testament die Größen
der griechischen Philosophie als Träger der Weisheit.
Am stärksten natürlich macht sich das Autoritätsbedürfnis
in dem unbedingten Glauben an die religiösen Urkunden geltend. Hier war
von vornherein das alte Testament die feste Grundlage
für die Wissenschaft des Judentums und ebenso für die des (orthodoxen)
Christentums. In der christlichen Kirche aber hat sich das Bedürfnis
nach der Feststellung einer Sammlung von Schriften, in denen die Glaubenslehre
sicher bestimmt wäre, zuerst bei Marcion entfaltet
und hat dann erst allmählich sich in der Abschließung des neuen Testamentes
erfüllt: schon bei Irenaeus und
Tertullian erscheinen beide Testamente mit der vollen Geltung kirchlicher
Autorität.
2. Wenn nun auf diese Weise auch
das wissenschaftliche Denken, das infolge der skeptischen Zersetzung sich selbst
nicht mehr die Kraft der Wahrheit zutraute, sich freiwillig den Autoritäten
des Alters und der religiösen Satzung unterwarf, so ist es doch dadurch
keineswegs in dem Maße gebunden worden, wie man voraussetzen sollte: vielmehr
hat sich dies Verhältnis auf allen Linien in der Weise gestaltet, dass
die wissenschaftlichen Lehren, die aus den neuen religiösen Bewegungen
entsprangen, aus den autoritativen Quellen herausgedeutet und in dieselben hineingedeutet
wurden. Wo man dabei nicht ausdrücklich zu jenen Unterschiebungen griff,
die sich ebenso wie im Neupythagoreismus mehr oder minder in der ganzen Literatur
jener Zeit finden, da bediente man sich des methodischen
Mittels der allegorischen Schriftauslegung.
Zuerst begegnet uns diese in der jüdischen Theologie.
Ihr Vorbild hat sie freilich in der allegorischen Mythendeutung,
welche früh in der griechischen Literatur hervorgetreten, von den Sophisten
gehandhabt und von den Stoikern in großem Umfang betrieben worden war.
Auf die religiösen Urkunden wendete sie, falls dessen Fragmente echt sind,
schon Aristobulos, mit methodischer Durchführung
aber Philon an, der von der Ueberzeugung ausging,
es müsse in der Schrift zwischen der buchstäblichen und der geistigen
Bedeutung, zwischen ihrem Leibe und ihrer Seele unterschieden werden. Gott habe,
um der großen Masse der Menschen, die in ihrer Sinnlichkeit das Göttliche
nicht rein zu fassen vermöchten, doch seine Gebote zu lehren, der Offenbarung
die anthropomorphe Form gegeben, hinter die nun der geistig reifere Mensch zu
dem wahren Sinne dringen solle. Dieser aber ist in den philosophischen Begriffen
zu suchen, welche in den historischen Hüllen verborgen liegen. Danach ist
seit Philon die Aufgabe der Theologie darauf gerichtet,
die religiösen Urkunden in ein System wissenschaftlicher
Lehren umzudeuten: und wenn er dazu die griechische Philosophie benutzt,
in ihr also den höheren Sinn der Schrift wiederfindet, so erklärt
er sich dies Verhältnis so, daß auch die Denker des Griechentums
aus der mosaischen Urkunde geschöpft haben sollen.
Nach seinem Vorgange haben dann die Gnostiker orientalische
Mythen durch allegorische Ausdeutung in griechische Begriffe umzusetzen
gesucht und damit eine Geheimlehre der apostolischen Tradition zu entwickeln
gemeint. Ebenso stand den Apologeten die Einhelligkeit der Christenlehre mit
den Dogmen der griechischen Philosophie grundsätzlich fest; selbst Männer
wie Irenaeus und Tertullian
bearbeiteten in diesem Sinne das neue Testament, und endlich hat Origenes
die Theologie, d.h. die Philosophie des Christentums mit dessen religiösen
Urkunden nach diesem Prinzip in Einklang zu bringen gewußt. Wie schon
die Gnostiker, die zuerst eine christliche Theologie zu schaffen suchten, so
unterschied auch der große alexandrinische Theologe - im Zusammenhange
der metaphysisch-anthropologischen Vorstellungen der Zeit, vgl. § 19 f. - zwischen der leiblichen (somatischen),
seelischen (psychischen) und geistigen (pneumatischen)
Auffassung der religiösen Urkunden: und die Aufgabe der Theologie
ist auch bei ihm, aus der buchstäblich-historischen Leberlieferung, welche
für sich nur ein fleischliches Christentum (christianiomos
sômatikos) ergibt, durch die moralische Deutung hindurch,
bei der die Psychiker stehen bleiben, zu dem ideellen Gehalt der Schrift zu
führen, welcher dann als die selbstverständliche philosophische Wahrheit
einleuchten muß. Erst wer diese erfaßt, gehört zu den Pneumatikern,
denen aus der Umhüllung das ewige Evangelium sich offenbart.
Dieselbe Herausdeutung des philosophischen Sinnes aus der religiösen Ueberlieferung
findet sich dann in weitestem Umfange bei den Neuplatonikern. Jamblichos übt
sie nach stoischem Muster an allen Formen orientalischer und occidentalischer
Mythologie, und auch Proklos erklärt, die
Mythen verhüllen die Wahrheit vor den Sinnenmenschen, die ihrer nicht würdig
sind.
3. In allen solchen Lehren überwiegt
nun aber doch schließlich noch immer das Interesse der Wissenschaft (in
den christlichen Lehren gnôsis) über dasjenige des Glaubens:
sie sind Accommodationen der Philosophie an das religiöse Autoritätsbedürfnis
der Zeit. Als Grundvoraussetzung aber gilt deshalb die wesentliche Identität
der Autorität und der Vernunfterkenntnis; sie gilt in solchem Maße,
daß eben da, wo sie bedroht erscheint, alle Kunststücke der allegorischen
Auslegung versucht werden, um sie zu retten. Dies Vertrauen jedoch, womit die
Wissenschaft daran ging, ihren eigenen Inhalt als denjenigen der religiösen
Urkunde zu entwickeln, beruhte im letzten Grunde auf der Ueberzeugung, daß
beide, die historische Autorität und die wissenschaftliche
Lehre, nur verschiedenartige Offenbarungen derselben göttlichen Macht seien.
Zwar ist die psychologische Wurzel des Autoritätsglaubens in dieser Zeit
neben der Heils- und Hilfsbedürftigkeit die gesteigerte
Bedeutung der Persönlichkeit. Sie zeigt sich in dem lebhaften Ausdrucke
der Bewunderung für die Größen der Vergangenheit, wie wir ihn
bei Philon und in allen Richtungen des Platonismus finden, und nicht minder
in dem unbedingten Vertrauen der Jünger zu ihren Meistern, welches namentlich
im späteren Neuplatonismus zu übertriebenster Verehrung der Schulhäupter
ausartete. Dasselbe Motiv erscheint in großartigster Weise als eine weltgeschichtliche
Macht in dem ungeheuren, überwältigenden Eindrucke der Persönlichkeit
Jesu: der Glaube an ihn ist das einigende Band gewesen, welches die bunte Mannigfaltigkeit
der Richtungen des jungen Christentums siegreich zusammenhielt.
Allein für die Theorie rechtfertigte sich nun dies psychologische Motiv
gerade damit, daß die bewunderte Persönlichkeit in Lehre und Leben als Offenbarung der göttlichen Weltvernunft aufgefaßt
wurde. Die metaphysischen und erkenntnistheoretischen Grundlagen dafür
waren im Platonismus und namentlich im Stoizismus
gegeben. Anlehnung an die platonische Lehre von der Erkenntnis als Erinnerung,
mit der (schon bei Cicero ausgesprochenen)
Wendung, daß das rechte Wissen von Gott der Seele eingepflanzt,
ihr eingeboren sei, und Ausführung der stoischen
Logoslehre und der in ihr enthaltenen Vorstellung, daß der vernünftige
Seelenteil ein wesensgleicher Ausfluß aus der göttlichen Weltvernunft
sei, - alles dies führte dazu, jede Form richtiger Erkenntnis als
eine Art von göttlicher Offenbarung im Menschen zu betrachten: alles Wissen
ist, wie Numenios sagte, die Anzündung
des kleinen Lichts an dem großen, das die Welt erleuchtet.
Von dieser Lehre aus begriff namentlich Justinus die
von ihm behauptete Verwandtschaft der alten Philosophie
mit dem Christentum und zugleich die Ueberlegenheit des letzteren. Gott
hat sich zwar wie nach außen durch die Vollkommenheit seiner Schöpfung,
so innerlich durch die vernünftige Anlage(sperma
logou emphyton) des nach seinem Ebenbilde
geschaffenen Menschen offenbart; aber die Entwicklung dieser allgemeinen, mehr
potentiellen Offenbarung wird durch die bösen Dämonen und die Sinnentriebe
des Menschen gehemmt. Deshalb hat Gott zur Hilfe des Menschen sich der
besonderen Offenbarung bedient, welche nicht nur
in Moses und den Propheten,
sondern auch in den Männern der griechischen Wissenschaft zu Tage getreten
ist. Justin nennt jene über das ganze Menschengeschlecht
verbreitete Offenbarung den logos spermatikos.
Allein, was so zerstreut und vielfach verdunkelt in der Vorzeit erschienen,
das ist noch nicht die volle Wahrheit: der ganze reine
Logos ist in Christus, dem Sohne Gottes und dem
zweiten Gotte, offenbart worden.
In dieser Lehre waltet bei den Apologeten einerseits das Bestreben ob, das Christentum
als die wahre und höchste Philosophie darzustellen und zu zeigen, daß
es alle Lehren in sich vereinige, die in der früheren Philosophie von bleibendem
Werte erfunden werden können. Christus wird
der Lehrer (didaskalos) genannt, und dieser
Lehrer ist die Vernunft selbst. Wurde dadurch das Christentum der rationalen
Philosophie so nahe wie möglich gerückt und das Erkenntnisprinzip
der Philosophie wesentlich mit dem der Religion gleichgestellt, so hatte das
doch auch gleichzeitig zur Folge, daß die Auffassung des religiösen
Inhalts selbst bei Justin und ähnlichen Apologeten,
wie Minucius Felix, stark rationalistisch
wurde: die spezifisch religiösen Momente erscheinen mehr zurückgedrängt,
und das Christentum nimmt den Charakter eines moralisierenden
Deismus an, in welchem es die größte Aehnlichkeit mit dem religiösen Stoizismus gewinnt.
Anderseits spricht sich doch auch in diesem Verhältnis das Selbstbewußtsein
des Christentums aus, das mit seiner vollkommenen Offenbarung alle ihre andern
Arten, die allgemeinen so gut wie die besonderen, überflüssig werden
sah: und an diesem Punkte wurde die Apologetik, wie sich namentlich bei
Athenagoras zeigt, von selbst polemisch. Die Offenbarung gilt auch hier
noch als das wahrhaft Vernünftige; aber eben deshalb soll das Vernünftige
nicht demonstriert, sondern nur geglaubt werden. Die Philosophen
haben, weil sie Gott nicht von Gott selbst lernen wollten oder konnten, die
volle Wahrheit nicht gefunden.
4. So bereitet sich in der Apologetik
doch allmählich, obwohl in ihr gerade das Vernünftige als supranatural,
als übernatürlich offenbart gilt, ein Gegensatz zwischen Offenbarung
und Vernunfterkenntnis vor. Je mehr sich die Gnostiker
in der Ausbildung ihrer theologischen Metaphysik von dem einfachen Inhalt des
Christenglaubens entfernten, um so mehr warnte Irenaeus
vor den Spekulationen weltlicher Weisheit, um so
heftiger verwarf Tatian mit orientalischer Griechenverachtung
alles Blendwerk der hellenischen Philosophie, welche in
sich selbst ewig uneins sei und von deren Lehrern Jeder nur seine eigenen
Meinungen zum Gesetz erheben wolle, während die Christen
sich der göttlichen Offenbarung gleichmäßig unterwerfen.
Noch schärfer spitzt sich dieser Gegensatz bei Tertullian
und Arnobius zu. Der erstere hat sich, wie teilweise
schon Tatian, in metaphysischer Hinsicht den stoischen Materialismus zu eigen
gemacht, daraus aber nur die Konsequenz einer rein sensualistischen Erkenntnistheorie
gezogen. Diese hat Arnobius in interessanter Weise
ausgeführt, indem er zur Bekämpfung der platonischen
und der platonisierenden Erkenntnistheorie zeigte, daß ein von der Geburt
an völlig der Einsamkeit überlassener Mensch geistig leer bleiben
und höhere Erkenntnis nicht gewinnen würde.
Ihrer Natur nach lediglich auf die Eindrücke der
Sinne beschränkt, ist deshalb die menschliche
Seele für sich allein durchaus unfähig, die Erkenntnis der Gottheit
und ihrer eignen, über dies Leben hinausgehenden Bestimmung zu gewinnen. Eben deshalb bedarf sie der Offenbarung und findet ihr Heil nur in dem
Glauben an diese. So erweist sich hier zum ersten Male der Sensualismus als
Grundlage für den supranaturalistischen Orthodoxismus:
je niederer und sinnlich beschränkter die natürliche Erkenntniskraft
des Menschen, um so notwendiger erscheint die Offenbarung.
Danach ist nun bei Tertullian der Inhalt der Offenbarung
nicht nur übervernünftig,
sondern in gewissem Sinne auch widervernünftig,
insofern unter Vernunft die natürliche Erkenntnistätigkeit des Menschen
verstanden werden soll. Das Evangelium ist nicht nur unbegreiflich, sondern
es ist auch im notwendigen Widerspruch mit der weltlichen Einsicht: credibile
est, quia ineptum est; certum est, quia impossibile est - credo quia absurdum.
Daher hat nach ihm das Christentum mit der Philosophie, Jerusalem mit Athen
nichts zu schaffen: die Philosophie als natürliche
Erkenntnis ist Unglaube; darum gibt es keine christliche Philosophie.
5. Zu einer solchen Abgrenzung
der Offenbarung gegen die natürliche Erkenntnis fanden sich aber auch Veranlassungen
genug für die rationalistische Ansicht. Denn durch jene Identifikation
drohte das Kriterium der Wahrheit verloren zu gehen: die Menge dessen, was in
dieser religiös so aufgeregten Zeit sich als Offenbarung gab, machte eine
Entscheidung über die rechte Offenbarung unerläßlich, und das
Kriterium dafür konnte wiederum nicht in der Vernunfterkenntnis des einzelnen
gesucht werden, weil damit das Offenbarungsprinzip verletzt gewesen wäre.
Diese Schwierigkeit machte sich gerade auch in der hellenistischen Richtung
sehr bemerklich. Plutarch z. B., der alle Erkenntnis
für Offenbarung ansieht, will zwar, der stoischen Einteilung in die drei
Arten der Theologie, der Dichter, der Gesetzgeber und der Philosophen, folgend,
die höchste Entscheidung über religiöse
Wahrheit der Wissenschaft zuerkennen und erklärt sich lebhaft gegen
den Aberglauben (deisidaimonia); aber
er selbst zeigt sich doch schließlich in seinen Schriften bei
der Aufnahme von allerlei Weissagungs- und Wunderberichten so naiv und leichtgläubig
wie seine ganze Zeit: und die unglaubliche Kritiklosigkeit, mit der in
dieser Hinsicht die späteren Neuplatoniker,
ein Jamblichos und Proklos,
verfuhren, erweist sich als das folgerichtige Ergebnis des Verzichts
auf die eigene Einsicht, welchen das Offenbarungsbedürfnis von vornherein
mit sich brachte. Hier hat nun die Entwicklung der sich organisierenden Kirche
mit dem Prinzip der Tradition und der historisch beglaubigten Autorität
eingesetzt. Sie betrachtet die religiösen Urkunden des alten und des neuen
Testaments als durchgängig, aber auch allein inspiriert; sie nimmt an,
daß ihre Verfasser sich bei der Aufzeichnung dieser
höchsten Wahrheit stets in dem Zustande reiner Rezeptivität dem göttlichen
Geiste gegenüber befunden haben, und sie findet die Bewährung dieses
göttlichen Ursprunges nicht in der Uebereinstimmung mit der menschlichen
Vernunfterkenntnis, sondern wesentlich in der Erfüllung der Weissagungen,
die darin enthalten sind, und in dem zweckvollen Zusammenhang ihrer zeitlichen
Reihenfolge.
Der für die weitere Entwicklung der Theologie so außerordentlich
wichtig gewordene Weissagungsbeweis ist somit aus
dem Bedürfnis entsprungen, ein Kriterium für
die Unterscheidung der wahren und der falschen Offenbarung zu gewinnen.
Da dem Menschen das Wissen der Zukunft durch natürliche Erkenntnis versagt
ist, so gelten die Voraussagen der Propheten, welche sich erfüllen, als
Kennzeichen der Inspiration, vermöge deren sie ihre Lehren aufgestellt
haben.
Diesem Argument tritt nun aber ein zweites hinzu. Altes und neues Testament
stehen nach der Lehre der Kirche, welche in dieser Hinsicht hauptsächlich
durch Irenäus vertreten ist, in dem Zusammenhange, dass
derselbe Eine Gott sich den Menschen im Laufe der Zeit je nach dem Grade ihrer
Empfänglichkeit in immer höherer und reinerer Weise offenbart hat:
dem ganzen Geschlecht in dessen vernünftiger, freilich zu mißbrauchender
Veranlagung, dem Volke Israel in dem strengen Gesetz Mosis, der ganzen Menschheit
wiederum in dem Gesetz der Liebe und der Freiheit, das Jesus verkündigt
hat. In dieser zusammenhängenden Reihe der Propheten entwickelt sich damit
der göttliche Erziehungsplan, wonach die Offenbarungen
des alten Testaments als Vorbereitungen für das sie bestätigende neue
Testament zu betrachten sind. Auch hier gilt in der patristischen Literatur
die Erfüllung der Weissagungen als das Bindeglied zwischen den verschiedenen
Phasen der Offenbarung.
Das sind die schon bei Paulus anklingenden gedanklichen
Formen, in denen sich für die christliche Kirche
die göttliche Offenbarung als historische Autorität fixiert
hat. Die psychologische Grundmacht aber, die dabei tätig war, blieb doch
immer die gläubige Hingabe an die Person Jesu, welche als Inbegriff der göttlichen Offenbarung den Mittelpunkt des christlichen Lebens
bildete.
6. Eine ganz andere Richtung hat
die Entwicklung der Offenbarungslehre in der hellenistischen Philosophie eingeschlagen.
Hier fehlte der wissenschaftlichen Bewegung der lebendige Zusammenhang mit der
Gemeinde und damit der Halt einer historischen Autorität: hier mußte
deshalb die Offenbarung, die als Ergänzung für
die natürliche Erkenntniskraft gefordert wurde, in einer unmittelbaren
Erleuchtung des Individuums durch die Gottheit gesucht werden. Deshalb
gilt hier die Offenbarung als ein übervernünftiges
Erfassen der göttlichen Wahrheit, welches dem einzelnen Menschen in unmittelbarer
Berührung (haphê) mit der Gottheit
selbst zuteil wird: und wenn auch zugestanden werden muss, dass es nur wenige sind, die dazu gelangen, und auch diese
nur in seltenen Augenblicken, so wird doch eine bestimmte, historisch autoritative
Sonderoffenbarung, die für alle maßgebend wäre, hier abgelehnt.
Diese Auffassung der Offenbarung ist später die mystische genannt worden,
und insofern ist der Neuplatonismus die Quelle aller späteren
Mystik.
Die Ursprünge dieser Auffassung aber sind wiederum bei
Philon zu suchen. Denn er schon lehrte, daß alle
Tugend des Menschen nur durch die Wirkung des göttlichen Logos in uns entstehen
und beharren könne, und daß die Erkenntnis Gottes nur in der Selbstentäußerung,
in dem Aufgeben der Individualität und in dem Aufgehen in das göttliche
Urwesen selbst bestehe. Die Erkenntnis des Höchsten ist Lebenseinheit mit
ihm, unmittelbare Berührung. Der Geist, der Gott schauen will, muß selbst Gott werden. In diesem Zustande verhält sich die Seele nur
leidend und empfangend, sie hat sich aller Selbsttätigkeit, alles eigenen
Denkens und aller Besinnung auf sich selbst zu entäußern. Auch der
nous, die Vernunft, muß schweigen, damit
die Seligkeit der Gottesanschauung über den Menschen kommen kann: bei
diesem Zustand der Ekstase (ekstasis)
wohnt nach Philon der göttliche
Geist im Menschen. Daher ist dieser in solchem Zustand ein Prophet göttlicher
Weisheit, ein Weissager und Wundertäter.
Wie schon die Stoa auf die Wesensgleichheit menschlichen und göttlichen
Pneumas die mantischen Künste zurückgeführt hatte, so begreifen
auch die Alexandriner diese »Vergottung«
des Menschen aus seiner Wesensvereinigung mit dem Weltgrunde. Hinter
diesem Zustande der Ekstase, lehrt Plotin, liegt
alles Denken; denn Denken ist Bewegung, ist Erkennenwollen; die Ekstase
aber ist Gewissheit Gottes, selige Ruhe in ihm an der göttlichen theôria
(Aristoteles) hat der Mensch nur Anteil, wenn er
sich selbst ganz zur Gottheit erhoben hat. Die Ekstase ist also ein Zustand
der Seele, welcher, wie der Gegenstand, auf den sie dabei gerichtet ist (vgl. § 20), über alle einzelne Bestimmtheit, deshalb auch
über das Selbstbewußtsein des Individuums hinausliegt: es ist ein
selbstbewußtloses Versenken in das göttliche
Wesen, ein Besitz der Gottheit, eine Lebenseinheit mit ihr, die aller Beschreibung,
aller Anschauung und aller begrifflichen Gestaltung spottet.
Dieser Zustand ist auf alle Fälle eine Gabe der Gottheit,
ein Geschenk des Unendlichen,
welches das Endliche in sich aufnimmt. Aber der Mensch hat mit seinem freien Willen sich dieser Vergottung
würdig zu machen. Er soll alles sinnliche Wesen und allen Eigenwillen von
sich abtun, er soll aus der Fülle der Einzelbeziehungen heraus zu seinem
lauteren einfachen Wesen zurückkehren (haplôsis): die Wege dazu sind
nach Proklos Liebe, Wahrheit und Glaube; aber erst
in dem letzteren, der über alle Vernunft hinausgeht, findet die Seele ihr völliges Einswerden mit Gott und den Frieden seliger Verzückung.
Als wirksamste Unterstützung in der Vorbereitung auf diese göttliche
Gnadenwirkung wird dann von Jamblichos und
seiner Schule das Gebet und alle Handlungen des religiösen Kultus empfohlen;
und wenn diese nicht immer zu den höchsten Offenbarungen
der Gottheit leiten, so gewähren sie, wie schon Apuleius meinte, doch wenigstens die tröstenden und helfenden Offenbarungen der
niederen Götter und Dämonen, der Heiligen und Schutzgeister. So erscheinen
denn auch im späteren Neuplatonismus die Verzückungen der Weissagung,
welche die Stoiker gelehrt hatten, als niedere und vorbereitende Formen für
jene höchste Ekstase der Vergottung. Denn in letzter Instanz sind dem Neuplatoniker alle Kultusformen nur symbolische Handhaben für jene unmittelbare
Einigung des Individuums mit Gott.
So tritt in Christentum und Neuplatonismus die Inspirationstheorie zu zwei ganz
verschiedenen Formen auseinander: dort ist die göttliche
Offenbarung als historische Autorität fixiert, hier gilt sie als die von
aller äußeren Vermittlung befreite Versenkung des Einzelmenschen
in den göttlichen Urgrund. Dort ist für das Mittelalter
die Quelle der Scholastik, hier entspringt diejenige der
Mystik.
Geist
und Materie (§ 19)
Unter den Argumenten, in denen die Offenbarungsbedürftigkeit der alexandrinischen
Philosophie sich entwickelt, ist keines so einschneidend wie dasjenige, welches
davon ausgeht, daß der in die Sinnenwelt verstrickte
Mensch nur durch übernatürliche Hilfe zur Erkenntnis der höheren,
geistigen Welt gelangen könne: hierin zeigt sich der religiöse
Dualismus, der die Grundanschauung der Zeit bildete. Seine Wurzeln sind teils
anthropologisch, teils metaphysisch: die stoische Entgegensetzung der Vernunft
und des Vernunftwidrigen verbindet sich mit der platonischen Unterscheidung
der übersinnlichen, ewig sich gleichbleibenden und der sinnlichen, immer
wechselnden Welt.
Die Identifikation des Geistigen und des Immateriellen, bei Platon nur angebahnt,
aber keineswegs vollzogen, war von Aristoteles auf das göttliche Selbstbewußtsein
beschränkt worden: dagegen galten die gesamten geistigen Tätigkeiten
des Menschen, so sehr auch in erkenntnistheoretischem und ethischem Interesse
das Vernünftige der Sinnlichkeit gegenübergestellt werden mochte,
doch selbst bei Platon als zur Erscheinungswelt
(genesis) gehörig und blieben damit
von der Welt des unkörperlichen Seins (ousia)
ausgeschlossen; und wenn in den antagonistischen Motiven, welche sich in der
aristotelischen Lehre vom nous; kreuzten, auch der Versuch sich geltend gemacht
hatte, die Vernunft als immaterielles, von außen
in die animale Seele eintretendes Prinzip zu betrachten, so hatte doch
die Entwicklung der peripatetischen Schule (vgl. §15,
1) diesen Gedanken sogleich wieder beiseite geschoben. Am stärksten
aber war in den Lehren Epikurs und der
Stoa die bewußte Materialisierung des Seelenwesens und der Seelentätigkeiten
zum Ausdruck gelangt.
Auf der anderen Seite dagegen war jener ethische Dualismus,
der die auf sich selbst zurückgezogene Innerlichkeit des Menschen gegen
die sinnliche Außenwelt so stark als möglich abgrenzte, im Laufe
der Zeit immer schärfer herausgebildet worden, und je mehr religiöse
Form er annahm, um so mehr drängte er auch auf eine Weltanschauung hin,
welche diesen Gegensatz zum metaphysischen Prinzip machte.
1. Am anschaulichsten tritt dies
Verhältnis vielleicht in den Aeußerungen der späteren Stoiker
zu Tage, die den anthropologischen Dualismus so stark betonen, daß er
mit der Metaphysik der Schule in handgreiflichen Widerspruch kommt. Die Vorstellung
von der Einheitlichkeit des menschlichen Wesens, welche die Stoiker bis dahin
gelehrt hatten, war freilich schon von Poseidonios in
Frage gestellt worden, wenn er platonisierend meinte,
die Affekte könnten nicht aus dem hêgemonikon selbst herstammen, worin sie als ein Fremdes und Gegensätzliches
auftreten, sondern nur aus andern unvernünftigen
Seelenteilen. Jetzt aber finden wir bei Seneca
einen schroffen Gegensatz zwischen Seele und
»Fleisch«: der
Leib ist nur eine Hülle, er ist eine
Fessel, ein Kerker für den Geist.
Ebenso nennt Epiktet Vernunft und Leib die beiden
Bestandteile des Menschen, und obwohl dann Marc
Aurel im sinnlichen Wesen des Menschen zwischen dem groben Stoffe und dem
ihn belebenden seelischen Hauche, dem
Pneuma, unterscheidet, so will doch auch er von dem letzteren die eigentliche
Seele als ein unkörperliches Wesen, den Geist (nous
und dianoia) um so schärfer getrennt wissen. Dementsprechend
findet sich denn auch bei allen diesen Männern eine Vorstellung von der
Gottheit, welche nur die geistigen Merkmale aus dem stoischen Begriffe beibehält
und die Materie als ein der Gottheit entgegengesetztes,
der Vernunft feindliches Prinzip ansieht.
Vielleicht beruhen diese Aenderungen in der Stoa auf
dem steigenden Einflusse des Neupythagoreismus, der
zuerst wieder den platonischen Dualismus mit seinen
ethisch-religiösen Wertmotiven zum Mittelpunkte der Weltansicht gemacht
hat. Von den Anhängern dieser Lehre wird die Wesensverschiedenheit der
Seele vom Leibe auf das nachdrücklichste betont, und damit steht in unmittelbarem
Zusammenhange einerseits die Lehre, welche Gott als rein geistiges Wesen nur
geistig verehrt wissen will, durch Gebet und tugendhafte Gesinnung, nicht durch
äußere Handlungen, - anderseits die durchweg asketische Moral, welche
durch Waschungen und Reinigungen, durch Vermeidung gewisser Nahrungsmittel,
namentlich von Fleisch, durch geschlechtliche Enthaltsamkeit, durch das Abtöten
aller sinnlichen Triebe die Seele aus der Umstrickung
der Materie frei machen und zu ihrem geistigen Urgrunde zurückleiten will. Der Gottheit gegenüber, die das Prinzip des Guten ist, wird die Materie (hylê) als der Grund
alles Bösen, die Neigung zu ihr als die eigentliche Sünde des Menschen
betrachtet.
Derselben Auffassung begegnen wir ethisch bei den Essenern
und theoretisch überall in der Lehre des Philon.
Auch er unterscheidet zwischen der Seele, die als Lebenskraft des leiblichen
Organismus im Blute ihren Sitz habe, und dem
Pneuma, welches, als Ausfluß der rein geistigen Gottheit, das wahre
Wesen des Menschen ausmache: auch er findet, daß dies höhere
und reinere Wesen im Leibe eingekerkert und in seiner Entfaltung von dessen
Sinnlichkeit (aisthêsis) gehemmt
ist, so daß, da darin die allgemeine Sündhaftigkeit der Menschen
wurzelt, ihr Heil nur in der Ausrottung aller sinnlichen Begierden gesucht werden
darf; auch ihm gilt deshalb die Materie als das körperliche Substrat, welches zwar von der Gottheit zu der zweckmäßigen, guten Welt geordnet
worden, dabei aber doch der Grund des Bösen und der Unvollkommenheit geblieben
ist.
2. Verwandt und doch verschieden
ist die Vorstellung bei den christlichen Apologeten. Der aristotelische Begriff
von Gott als dem reinen Geiste (nous teleios) verbindet
sich bei ihnen mit der Lehre, daß Gott die Welt
aus der gestaltlosen Materie geschaffen habe: doch wird hier nicht unmittelbar
die Materie als selbständiges Prinzip betrachtet, sondern der Grund des
Bösen vielmehr in dem verkehrten Gebrauch der Freiheit von seiten des Menschen
und der diesen verführenden Dämonen gesucht. Hier tritt der
ethische und religiöse Grundcharakter des Dualismus jener Zeit ganz rein
heraus: die Materie selbst gilt als etwas Indifferentes, welches erst durch
den Gebrauch von seiten der geistigen Mächte zum Guten oder zum Bösen
wird. In derselben Weise haben hellenistische Platoniker, wie Plutarch,
von dem Begriffe der Materie als des formlos Nichtseienden
ausgehend, das Prinzip des Bösen nicht in ihr, sondern vielmehr in einer
eigenen, der guten Gottheit gegenüberstehenden Kraft gesucht, die mit jener
gewissermaßen um die Gestaltung der Materie ringe.
Plutarch fand diesen Gedanken in den Mythen der verschiedenen Religionen;
aber er durfte auch an eine Stelle erinnern, wo Platon
von der bösen Weltseele im Gegensatze zur guten geredet
hatte.
Indessen macht sich nun doch auch hier die Tendenz, den Gegensatz des Guten
und des Bösen mit demjenigen des Geistes und der Materie zu identifizieren,
immerhin darin geltend, daß wiederum das Wesen des
Bösen in einer Neigung zum Sinnlichen und Fleischlichen, zur Materie,
das Gute dagegen in der Liebe zu der rein geistigen Gottheit
gesucht wird. Das ist nicht nur ein durchgängiger Zug der altchristlichen
Moral, sondern es findet sich auch in derselben Weise bei jenen Platonikern.
Auch für Plutarch gilt die Befreiung vom Leibe
als die notwendige Vorbereitung für die Empfängnis
der göttlichen Gnadenwirkung, die das Ziel des menschlichen Lebens
bildet; und wenn Numenios dessen Theorie dahin
weiter ausführte, daß, wie im Universum, so
auch im Menschen zwei Seelen, eine gute und eine böse, miteinander streiten,
so sucht er auch wieder den Sitz der bösen Seele im Leibe und seinen Begierden.
Ebenso aber wird in diesen Lehren überall nicht nur die reine Geistigkeit und Unkörperlichkeit Gottes, sondern in gleicher
Weise auch die Unkörperlichkeit des individuellen
Geistes betont. Bei Plutarch zeigt sich
das wiederum in der Form, daß er den nous,
den vernünftigen Geist, von der psychê;
getrennt wissen will, welche mit der Kraft, den Leib zu
bewegen, auch die Sinnlichkeit und den Affekt besitze. Ebenso unterscheidet
dann auch Irenaeus den seelischen
Lebenshauch (pnoê zôês),
der zeitlicher Natur und an den Leib gebunden ist, von dem
belebenden Geiste (pneuma zôopoioun),
welcher seiner Natur nach ewig ist. Ueberall erscheinen diese Ansichten selbstverständlich in Verbindung
mit den Lehren von der Unsterblichkeit, bezw. von der Präexistenz und der Seelenwanderung,
von dem Sündenfall, durch den oder zu dessen Sühne der Mensch
in die Materie versetzt worden ist, und der Reinigung, mit deren Hilfe er sich
wieder davon befreien soll; und gerade auch darin vollzieht sich die in Rede
stehende Synthese immer kräftiger, indem das wandellos sich gleichbleibende
Ewige (die platonische ousia)
in dem Geist, das Vergängliche und Wechselnde in der Materie erkannt
wird.
3. In diesen Zusammenhängen
entwickelte sich nun allmählich eine Scheidung der beiden Merkmale, die
ursprünglich in dem Seelenbegriff vereinigt gewesen waren, des
physiologischen und des psychologischen,
des Merkmals der Lebenskraft und desjenigen der Bewußtseinstätigkeit. Wie es schon bei
Aristoteles angelegt und noch mehr von den Stoikern in ihrer Unterscheidung
des hêgemonikon von der physischen Seele (pneuma) ausgeführt worden
war, so erscheint jetzt neben der »Seele«,
welche den Leib bewegt, als selbständiges und davon unabhängiges Prinzip
der »Geist«, und in dem letzteren wird nicht mehr nur eine allgemeine
Vernunfttätigkeit, sondern das eigentliche Wesen der individuellen (wie
auch der göttlichen) Persönlichkeit gefunden. In den mannigfachsten
Ausdrucksweise wird die Dreiteilung des Menschen in Leib,
Seele und Geist auf allen
Linien eingeführt, und es ist begreiflich, daß dabei die Grenzbestimmungen
einerseits zwischen Leib und Seele, anderseits aber noch mehr zwischen Seele
und Geist sehr schwankend waren: denn die Seele spielt dabei die Rolle einer
Vermittlung zwischen den beiden Extremen Materie und Geist.
Eine unmittelbare Folge davon aber war die, daß von den Tätigkeiten
des Bewußtseins, die nun als »geistige«
von den physiologischen Funktionen der »Seele« abgetrennt wurden, eine neue und tiefere Vorstellung gewonnen werden konnte.
Denn, der Körperwelt einmal wesentlich entrückt, durfte der Geist
weder in seiner Tätigkeit noch in deren Gegenständen von den sinnlichen
Einflüssen abhängig gedacht werden: und während in der gesamten
griechischen Philosophie das Erkennen als das Anschauen und Aufnehmen eines
Gegebenen betrachtet, das Verhalten des Denkens als wesentlich rezeptiv angesehen
worden war, so kommt nun die Vorstellung vom Geist als
einem selbständigen, erzeugenden Prinzip zum Durchbruch.
4. Die Anfänge dazu liegen
schon in der neupythagoreischen Lehre insofern,
als in ihr zuerst die Geistigkeit der immateriellen Welt
behauptet worden ist. Die immateriellen Substanzen der platonischen
Metaphysik, die Ideen, erscheinen nicht mehr als selbständige Wesen,
sondern als Inhaltsbestimmungen der geistigen Tätigkeit: und wenn sie für
das menschliche Erkennen noch etwas Gegebenes, Bestimmendes bleiben sollen,
so werden sie zu ursprünglichen Gedanken Gottes. Damit sind die körperlosen Urbilder der Erfahrungswelt in die Innerlichkeit
des Geistes aufgenommen; die Vernunft ist nicht mehr nur etwas zur ousia Gehöriges oder nur ihr Verwandtes, sie ist die ganze ousia selbst: die
immaterielle Welt ist anerkannt als die Welt des Geistes.
Dementsprechend wird dann bei Plotin der
Geist (nous) als die Einheit
definiert, welche die
Vielheit in sich trägt.
In metaphysischer Hinsicht ergibt das die Stellung, welche dem Geiste als der
durch die erste Einheit bestimmten Dualität in der Reihenfolge der Emanationen
zukommt (vgl. § 20, 2 und 7); wichtiger aber
ist die psychologische Bedeutung dieser Lehre. Denn in ihr zuerst erscheint
der Geist als die synthetische Funktion, welche aus ihrer höheren Einheit
die Vielheit erzeugt. Von diesem allgemeinen Gesichtspunkt aus haben die Neuplatoniker
die Psychologie des Erkennens unter dem Prinzip der Aktivität des Bewußtseins
durchgeführt. Denn die »höhere Seele« kann hiernach nicht mehr als leidend, sondern ihrem Wesen nach auch in allen
ihren Funktionen nur als tätig angesehen werden. All ihre Einsicht (synesis)
beruht auf der Zusammenfassung (synthesis) verschiedener Momente; selbst da, wo die Erkenntnis sich auf das sinnlich Gegebene
bezieht, leidet nur der Körper, während die Seele in dem Bewusstwerden (synaisthmsis und parakolouthêsis) sich aktiv verhält und dasselbe gilt von den sinnlichen Gefühlen und
Affekten. So wird auf dem sinnlichen Gebiete der Erregungszustand von seinem
Innewerden unterschieden: der erstere ist ein Leiden des
Leibes (oder auch der niederen Seele); das
letztere, schon in der bewußten Wahrnehmung (antilêpsis), ist ein
Akt der höheren Seele, den Plotin
als eine Art von Zurückbiegen
(anakamptein - Reflexion) des Gedankens beschreibt.
Wenn so das Bewußtsein als das tätige Bemerken der eigenen Zustände,
Funktionen und Inhaltsbestimmungen des Geistes begriffen wurde - eine Theorie,
die (nach Philoponus) besonders auch von dem neuplatonischen
Plutarch aufgestellt worden ist -, so ergab sich daraus bei Plotin auch der Begriff des Selbstbewußtseins (parakolouthein
heautô). Nach Analogie der aristotelischen Unterscheidung
der »tätigen« und der »leidenden« Vernunft faßte Plotin diesen Begriff
des Selbstbewußtseins so, daß der Geist als bewegtes, tätiges Denken (noêsis) sich selbst als ein ruhendes, gegenständliches
Denken (noêton) zum Gegenstande
habe: der Geist als Wissen und der Geist als Sein sind dabei identisch.
Der Begriff des Selbstbewußtseins nimmt nun
aber im Sinne der Zeit auch eine ethisch-religiöse Färbung an. Die synesis ist zugleich syneidêsis;
Gewissen, d.h. das Wissen des Menschen nicht nur von seinen eigenen Zuständen
und Handlungen, sondern auch von deren sittlichem Werte und von dem Gebote,
nach dessen Erfüllung er sich richtet: und gerade in der Lehre der christlichen
Kirchenväter entwickelt sich deshalb die Lehre vom
Selbstbewußtsein nicht nur als dem Wissen des Menschen von seiner Sünde,
sondern auch in ihrer tätigen Bekämpfung als Reue (metanoia).
Diese Wendung hängt jedoch auch
damit zusammen, daß in der christlichen Auffassung jene Aktivität
des Bewußtseins weniger unter der Form der theoretischen als unter der
der praktischen Funktionen in Betracht gezogen wurde. Die
Freiheit des Willens
ist hier der Zentralbegriff. Wenn die orientalischen Kirchenväter
zum Teil dem Intellektualismus der hellenistischen Philosophie näher standen
oder wenigstens Konzessionen machten, so tritt die Betonung des Willens in Psychologie
und Dogmatik am stärksten bei den occidentalischen, mehr von römischem
Wesen genährten Lehrern der Kirche hervor. Bei ihnen ist die Neigung vorherrschend,
den Geist, das immaterielle Prinzip, sofern er Erkenntnis
ist, als leidend und durch seinen Gegenstand bestimmt, sofern er aber Wille
ist, als aktiv und bestimmend zu betrachten.
5. Die Auffassung des Geistes als selbsttätigen, schöpferischen Prinzips ist aber
nicht bei der psychologischen, ethischen und erkenntnistheoretischen Bedeutung
stehen geblieben, sondern hat sich am Ausgange des Altertums zum beherrschenden
Gedanken der religiösen Metaphysik erhoben. Denn diese Auffassung bot die
Möglichkeit, jenen Dualismus, welcher die Voraussetzung der ganzen religiösen
Gedankenbewegung der Zeit bildete, schließlich zu überwinden, indem
der Versuch gemacht wurde, auch die Materie aus diesem schöpferischen Geiste
abzuleiten. Daher ist das letzte und höchste Problem der alten Philosophie
dies geworden: die Welt als ein Erzeugnis des Geistes
zu verstehen, auch die Körperwelt mit allen ihren Erscheinungen als wesentlich
geistigen Ursprungs und Inhalts zu begreifen. Die Vergeistigung des Universums
ist das Schlußergebnis der alten Philosophie.
An dieser Aufgabe haben gleichmäßig das Christentum
und der Neuplatonismus, Origenes
und Plotin gearbeitet. Für beide bleibt zwar,
soweit es sich um die Auffassung der Erscheinungswelt und speziell um ethische
Fragen handelt, der Dualismus von Geist und Materie vollkräftig
bestehen; immer noch gilt das Sinnliche als das
Böse und Gottfremde,
wovon die Seele sich losmachen muß, um zur Einheit mit dem reinen Geiste
zurückzukehren; aber auch dies Dunkle soll aus dem ewigen Lichte
erklärt, die Materie soll als eine Schöpfung des Geistes erkannt werden.
So ist der letzte Standpunkt der alten Philosophie der Monismus
des Geistes.
In der Lösung dieses gemeinsamen Problems aber gehen die Philosophie des
Christentums und der Neuplatonismus weit auseinander: denn diese Entwicklung
des göttlichen Geistes zur Erscheinungswelt bis hinab in ihre materielle
Gestaltung mußte selbstverständlich durch die Vorstellungen von dem
Wesen Gottes und seinem Verhältnis zur Welt bestimmt werden, und
gerade hierin befand sich der Hellenismus unter völlig andern Voraussetzungen
als die Lehre der neuen Religion.
Gott und
Welt (§
20)
Die eigentümliche Spannung zwischen metaphysischen Monismus und ethisch-religiösem
Dualismus, welche als Erweiterung des stoischen Problems (vgl. §16) der gesamten alexandrinischen Philosophie ihren Charakter bestimmt,
drängt die ganzen Gedanken der Zeit zu dem verdichtetsten und schwersten
Probleme, demjenigen des Verhältnisses von Gott und
Welt zusammen.
1. Schon von der rein theoretischen
Seite her war dies Problem durch den Gegensatz der aristotelischen und der stoischen
Philosophie nahe gelegt: Jene behauptete ebenso stark die Transzendenz
Gottes, d.h. seine völlige Trennung von der Welt, wie diese die Immanenz, d.h. das völlige Aufgehen Gottes in die Welt. Deshalb
ist das Problem und die Grundrichtung seiner Lösung bereits in der eklektischen
Vermischung peripatetischer und stoischer Kosmologie zu erkennen, als deren
Typus die pseudo-aristotelische Schrift ȟber
die Welt« angesehen wird. Mit der aristotelischen Lehre, daß das Wesen Gottes weit über die Natur (als
den Inbegriff der bewegten Einzeldinge) und besonders über
den Wechsel des irdischen Daseins hinausgesetzt werden müsse, verbindet
sich hier das stoische Bestreben, Gottes Kraftwirkung
durch das ganze Universum hindurch bis in alles einzelne hinein zu verfolgen.
Bei den Stoikern galt die Welt selbst als Gott;
Aristoteles sah in ihr ein zweckvoll bewegtes Lebewesen, dessen äußerste
Sphäre nur von der Sehnsucht nach der ewig
unbewegten reinen Form in den Umschwung versetzt werde, welcher sich dann mit
immer geringerer Vollkommenheit den niederen Sphären mitteile: in
diesem Buche dagegen, wo sich beide Lehren vereinigen, erscheint der Makrokosmos
als das in sich sympathische System der Einzeldinge, worin die
Kraft des an sich überweltlichen Gottes unter
den verschiedensten Gestalten als das Prinzip des Lebens waltet. Die
Vermittlung zwischen Theismus
und Pantheismus
wird teils durch die Unterscheidung zwischen Wesen und
Kraft Gottes, teils durch die Stufenfolge der göttlichen Wirkungen
gewonnen, welche vom Fixsternhimmel bis zur Erde herabsteigt. Die Pneumalehre
verbindet sich mit dem aristotelischen Gottesbegriffe,
indem die Kräfte des Naturlebens als die Wirkungen
des reinen Geistes aufgefaßt werden.
Durch diese Wendung aber wurde nur die Schwierigkeit vermehrt, die schon in
der aristotelischen Lehre von der Wirkung der Gottheit
auf die Welt steckte: denn mit der reinen Geistigkeit,
welche das Wesen Gottes ausmachen sollte, war die Materialisierung
seiner Wirkung - und diese sollte eben gerade in der Bewegung der Materie
bestehen - schwer zu vereinbaren, und auch Aristoteles
hatte das Verhältnis des unbewegt Bewegenden
zu dem Bewegten (vgl. § 13, 5) nicht zu voller
Klarheit gebracht.
2. Eine weitere Verschärfung
erfuhr das Problem mit derjenigen des religiösen Dualismus, welcher, nicht
zufrieden, Gott als Geist der Materie, die übersinnliche
Sphäre der sinnlichen gegenüberzustellen, vielmehr die Tendenz
verfolgte, das göttliche Wesen über alles Erfahrbare
und über jeden bestimmten Inhalt hinaus zu potenzieren und damit den überweltlichen
auch zu einem übergeistigen Gott zu machen.
Man findet dies schon bei den Neupythagoreern, bei denen sich das Schwanken
zwischen den verschiedenen Stadien des Dualismus hinter der zahlen-symbolischen
Ausdrucksweise versteckt. Wenn da als Prinzipien die »Eins«
und die »unbestimmte Zweiheit« behauptet
werden, so bedeutet die letztere freilich immer die Materie
als das Unreine, als den Grund des Unvollkommenen und des Bösen;
die Eins aber wird bald als die reine Form, als Geist,
bald aber auch als die über alle Vernunft hinausliegende »Ursache
der Ursachen« behandelt, als das Urwesen,
welches den Gegensatz jener abgeleiteten
Eins und der Zweiheit, des Geistes und der Materie, erst aus sich habe hervorgehen
lassen: in diesem Falle erscheint die zweite Eins, das erstgeborene Eine
(prôtogonon hen),als das
vollkommene Abbild, aber doch eben nur als Abbild
der höchsten Eins.
Dies Bestreben führte nun dazu, indem der Geist erst
zu einem Erzeugnis, wenn auch dem ersten und vollkommensten,
der Gottheit gemacht wurde, den Begriff der letzteren selbst zu vollständiger
Qualitätslosigkeit zu steigern. Das zeigt sich schon bei Philon, der den Gegensatz zwischen allem Endlichen und Gott so scharf hervorhob, daß er diesen ausdrücklich als eigenschaftslos
(apoios) bezeichnet: denn da Gott über
alles erhaben sei, so könne von ihm immer nur gesagt werden, daß
er alle menschlicher Einsicht bekannten endlichen Prädikate nicht habe:
ihn nennt kein Name. Diese (später so genannte) »negative
Theologie« finden wir auch bei den in ihren Begriffen von Philon beeinflußten Apologeten des Christentums, besonders bei
Justin, und ebenso zum Teil bei den Gnostikern.
Dieselbe begegnet uns aber, in womöglich noch gesteigerter Form, auch im Neuplatonismus. Wie schon in den hermetischen
Schriften Gott als unendlich und unbegreiflich,
als namenlos, als der über alles Sein erhabene Grund des Seins und der
Vernunft, der diese erst erzeugt, betrachtet worden war, so ist auch
für Plotin die Gottheit
das absolut transzendente Urwesen, als vollkommene Einheit noch erhaben über den Geist, der als das Prinzip, welches
die Vielheit bereits in der Einheit
enthält (§ 19, 4), aus
Gott erst hervorgegangen sein kann. Dies
Eine, to hen, geht allem Denken und
Sein vorher, es ist unendlich,
gestaltlos, und »jenseits« (epekeina)
der geistigen ebenso wie der sinnlichen Welt,
darum auch ohne Bewußtsein und ohne Tätigkeit.
Hatte endlich Plotin dann doch dies unaussagbare
Erste (to prôton) noch als das
Eine, welches allen Denkens und allen Seins Ursache sei, und als das
Gute, als den absoluten Zweck alles Geschehens bezeichnet, so genügte den Späteren auch dies noch nicht.
Jamblichos setzte über das plotinische
hen noch wieder ein höheres,
völlig unaussprechliches Eins (pantê
arrhêtos archê), und Proklos
folgte ihm darin nach.
In diesem Zusammenhange erfuhr nun der Begriff des Unendlichen eine völlige
und höchst bedeutsame Umwertung. Dem auf Maß und Bestimmtheit gerichteten
Geiste der Griechen hatte das Unendliche ursprünglich als das Unfertige, Unvollkommene gegolten, und nur
ungern hatte sich die Metaphysik mit Berücksichtigung
der Unendlichkeit von Raum und Zeit dazu verstanden, dem Unendlichen
eine zweite sekundäre Art von Wirklichkeit zuzuschreiben (Pythagoreer,
Atomisten, Platon). Jetzt aber war Unendlichkeit das einzige Prädikat
geworden, das, den endlichen Dingen der Welt gegenüber, der höchsten
Realität oder der Gottheit zugeschrieben werden durfte: auch die »negative« Theologie konnte diesen Ausdruck gestatten; unendlich
mußte die göttliche
Urkraft heißen,
welche in der stoisch-neupythagoreischen Naturphilosophie
als das die Welt mit seinen Wirkungen durchwaltende Wesen
betrachtet wurde - unendlich das »Eine«,
aus dem der Neuplatonismus die Fülle
der Weltgestalten aus- und überquellen ließ - unendlich,
weil aller Beschränkung frei, der schöpferische
Gotteswille, der nach christlicher Lehre die Welt
aus dem Nichts hervorgerufen
- unendlich auch diese höchste Persönlichkeit selbst im Gegensatz
zu den endlichen Personen. So ist der Begriff der Unendlichkeit durch
diese Schlußentwicklung der alten Philosophie ein integrierendes Merkmal
der höchsten metaphysischen Realität geworden: er gebührt nicht nur dem Weltall in seiner räumlichen und
zeitlichen Ausdehnung, sondern auch dem innersten Wesen
der Dinge und vor allem der Gottheit. Insbesondere die letztere Verschmelzung
ist so fest und sicher geworden, daß es dem heutigen Bewußtsein,
in der Vorstellung wie im Gefühl, völlig selbstverständlich gilt,
das höchste Wesen als das »unendliche«
allen endlichen Dingen und Verhältnissen gegenüber
aufzufassen.
3. Den dialektischen Verflüchtigungen
gegenüber, welche der Begriff der unendlichen Gottheit
namentlich bei den späteren Neuplatonikern zu erleiden drohte, hat nun die kirchliche Entwicklung des christlichen Denkens
ihre eindrucksvolle Energie darin bewahrt, daß sie an dem Begriff Gottes
als geistiger Persönlichkeit festhielt. Sie tat dies nicht aus philosophischer
Ueberlegung und Begründung, sondern vermöge des unmittelbaren Anschlusses
an die lebendige Ueberzeugung der Gemeinde, und eben darin bestand ihre psychologische,
ihre weltgeschichtliche Kraft. Diesen Glauben atmet das Neue Testament, diesen
verteidigen bei aller Verschiedenheit ihrer sonstigen Richtungen und Ansichten
sämtliche Vertreter der Patristik, und gerade durch ihn grenzt sich überall
die christliche Lehre gegen die hellenistischen Lösungen des religiös-philosophischen
Hauptproblems ab.
Der Hellenismus sieht in der Persönlichkeit,
auch wo sie rein geistig gefaßt wird, eine Beschränkung und Verendlichung,
welche er von dem höchsten Wesen ferngehalten und nur für die besonderen
Götter, wie für die Menschen, zugelassen sehen will: das Christentum
verlangt als lebendige Religion ein persönliches
Verhältnis des Menschen zu dem als höchste Persönlichkeit gefaßten
Weltgrunde, und es prägt dies in dem Gedanken
der Gottessohnschaft des Menschen aus.
Wenn daher der Begriff der Persönlichkeit
als der geistigen Innerlichkeit das wesentlich neue Resultat darstellt,
zu welchem sich in dem griechischen und dem hellenistischen Denken die theoretischen
und die ethischen Motive verschlangen, so hat diese Erbschaft der Antike das
Christentum angetreten, während der Neuplatonismus
in die alte Vorstellung zurückbog, die in der Persönlichkeit
nur ein vorübergehendes Erzeugnis eines unpersönlichen Gesamtlebens
sah. Das ist das Wesentliche der christlichen Weltanschauung, daß sie
als den Kern der Wirklichkeit die Person und das Verhältnis
der Personen zueinander betrachtet.
4. Trotz dieser bedeutsamen Verschiedenheit
bleibt nun aber für alle Richtungen der alexandrinischen
Philosophie das gleiche Problem, die so der Sinnenwelt
entrückte Gottheit doch dazu wieder in diejenigen Beziehungen zu setzen,
welche das religiöse Bedürfnis verlangte: denn je tiefer der Gegensatz
zwischen Gott und Welt gefühlt wurde, um so brennender wurde die Sehnsucht,
ihn zu überwinden - ihn zu überwinden durch eine Erkenntnis,
welche auch die Welt aus Gott begreifen, und durch ein Leben, welches aus der
Welt zu Gott zurückkehren wollte. Daher ist der Dualismus
von Gott und Welt, wie der von Geist und Materie nur der gefühlsmäßige
Ausgangspunkt und die Voraussetzung der alexandrinischen Philosophie: ihr Ziel
aber ist überall, theoretisch wie praktisch, seine Besiegung. Eben darin
besteht das Eigentümliche dieser Zeit, daß sie die tiefe Kluft, die
sie in ihrem Gefühle vorfindet, im Wissen und Wollen zu schließen
bemüht ist.
Freilich erzeugte diese Zeit auch solche Weltanschauungen, in welchen der Dualismus
sich so übermächtig geltend machte, daß er zu unverrückbaren
Grundlinien fixiert wurde. Dahin gehören zunächst die
Platoniker wie Plutarch, die nicht nur die Materie als ursprüngliches Prinzip neben der Gottheit behandelten,
weil die letztere in keiner Weise der Grund des Bösen sein könne, sondern auch in der Gestaltung dieser indifferenten
Materie zur Welt neben Gott als drittes Prinzip die »böse Weltseele«
in Anspruch nahmen. Ganz besonders aber kommt hier ein Teil der gnostischen
Systeme in Betracht.
Dieser erste, phantastische Versuch einer christlichen Theologie war durchweg
von den Gedanken der Sünde und der Erlösung beherrscht, und der Grundcharakter des Gnostizismus besteht darin, daß von hier aus die Begriffe der griechischen Philosophie mit den Mythen orientalischer
Religionen in Beziehung gesetzt wurden. So erscheint denn bei Valentin
neben der in die Fülle (to plêrôma)
geistiger Gestalten ergossenen
Gottheit (propatôr) die von
Ewigkeit her gleich ursprüngliche Leere (to
kenôma), neben der Form der Stoff,
neben dem Guten das Böse: und wenn auch aus
der Selbstentwicklung der Gottheit (vgl.
unten 6) schon eine ganze Geisteswelt in jener
»Fülle« gestaltet ist,
so gilt doch die körperliche Welt erst als das Werk
eines gefallenen Aeonen (vgl. § 20, 6 und
21, 4), der dem Stoffe seine Innerlichkeit einbildet. Ebenso stellte
Saturninus dem Lichtreiche
Gottes die Materie als das Herrschaftsgebiet des
Satanas gegenüber und betrachtete die
irdische Welt als einen streitigen Grenzraum, um dessen Besitz die guten
und die bösen Geister durch ihre Einwirkung auf den Menschen ringen; und
ähnlich war auch die Mythologie des Bardesanes
angelegt, welche dem »Vater des Lebens«
eine weibliche Gottheit als empfangende
Potenz bei der Weltbildung zur Seite gab.
Die schärfste Zuspitzung aber erreichte der Dualismus in einer Mischreligion, die unter dem Einflusse der gnostischen Systeme mit
Rückgang auf die altpersische Mythologie im dritten Jahrhundert entstand,
dem Manichäismus. Die
beiden Reiche des
Guten und
des Bösen, des
Lichts und der Finsternis,
des Friedens und des
Streites stehen sich hier gleich
ewig wie ihre Fürsten, Gott
und der Satan, gegenüber: auch
hier wird die Weltbildung als eine durch Grenzverletzung
hervorgerufene Mischung aus guten und bösen Elementen aufgefaßt,
im Menschen der Kampf einer guten, dem Lichtreich angehörigen und einer
bösen, der Finsternis entstammenden Seele angenommen und eine Erlösung
erwartet, die beide Gebiete wieder völlig trennen soll.
So kommt es in dieser Entwicklung immer deutlicher zu Tage, daß der Dualismus
dieser Zeit wesentlich auf ethisch-religiösen Motiven beruhte. Indem
man die Wertbeurteilung, welche Menschen, Dinge und Verhältnisse
als gut oder böse charakterisiert, zum Gesichtspunkt der theoretischen
Erklärung macht, gelangt man dazu, den Ursprung des so geteilten Universums
auf zwei verschiedene Ursachen zurückzufahren, von denen zwar im Sinne
der Beurteilung nur die eine, die des Guten, als positiv gelten und den Namen
der Gottheit haben soll, in theoretischer Hinsicht aber auch die andere völlig
den Anspruch auf metaphysische Ursprünglichkeit und
Ewigkeit (ousia) behauptet. Schon
aus diesen Beziehungen aber läßt sich absehen, daß, sobald
das metaphysische Verhältnis dem ethischen vollständig angepaßt
wurde, dies von selbst zu einer Aufhebung des Dualismus führen mußte.
5. In der Tat erzeugte der Dualismus
aus seinen eigenen Motiven heraus eine Vorstellungsreihe, durch die er selbst
seine Ueberwindung vorbereitete. Je schroffer nämlich der Gegensatz
zwischen dem geistigen Gott und der materiellen Welt, je größer
der Abstand zwischen dem Menschen und dem Gegenstande seiner religiösen
Sehnsucht gedacht wurde, um so mehr machte sich das Bedürfnis geltend,
das so getrennte durch Zwischenglieder wieder zu vermitteln.
Theoretisch bestand deren Bedeutung darin, die Einwirkung
der Gottheit auf die ihm fremde, seiner unwürdige Materie begreiflich
und unbedenklich zu machen, praktisch hatten sie den Sinn, zwischen Mensch und
Gott als die Mittler zu dienen, welche den Menschen aus seiner sinnlichen Niedrigkeit
durch ihre Hilfe zu dem Höchsten emporleiten könnten. Beide Interessen
aber wiesen gleichmäßig auf die Methode hin, womit schon die älteren
Akademiker und nach ihnen die Stoiker den Glauben an die niederen Götter
in ihre Naturreligion hineinzuarbeiten gewußt hatten.
Im großen Stil ist die Durchführung dieser Vermittlungstheorie zuerst
von Philon versucht worden, der ihr dadurch die
bestimmte Richtung gab, daß er sie einerseits zu der neupythagoreischen
Ideenlehre, anderseits zu der Engellehre seiner
Religion in nahe Beziehungen brachte. Die vermittelnden Mächte,
bei deren Betrachtung Philon noch mehr die theoretische
Bedeutung und die Erklärung des Einflusses von Gott
auf die Welt im Auge hatte, bezeichnet er je nach dem Wechsel der Untersuchung
bald als die Ideen bald als die wirkenden Kräfte bald als die Engel Gottes;
aber stets ist damit der Gedanke verbunden, daß diese Zwischenglieder
ebenso an Gott wie an der Welt teil haben, daß sie zu Gott gehören und doch von ihm verschieden sind. So gelten die
Ideen einerseits (neupythagoreisch) als
Gottes Gedanken und als Inhalt seiner Weisheit, anderseits aber auch
wieder (altplatonisch) als
eine von Gott geschaffene intelligible Welt von Urbildern. Diese Urbilder jedoch sollen zugleich die wirkenden Kräfte sein, welche
die ungeordneten Stoffe nach ihrem zweckvollen Inhalt
gestalten: sie erscheinen indes dabei als selbständige
Potenzen, denen Weltbildung und Welterhaltung zufallen, so daß jede unmittelbare Beziehung zwischen
Gott und Welt vermieden wird; bald aber werden diese Kräfte doch wieder als ein am göttlichen Wesen Haftendes und
es selber Darstellendes behandelt. Die
Engel endlich, die mit jenen Ideen und Kräften gleichgesetzt werden, sind
zwar eigene mythische Gestalten und werden als die Diener, die Gesandten, die
Boten Gottes bezeichnet; aber auf der anderen Seite stellen sie doch die verschiedenen
Seiten und Eigenschaften des göttlichen Wesens selbst dar, das freilich
als Ganzes in seiner Tiefe unerkennbar und unaussagbar ist, gerade in ihnen
jedoch sich offenbart. Diese durch den Grundgedanken
des Systems selbst bedingte Doppelnatur bringt es mit sich, daß die ideellen
Engelkräfte die Bedeutung allgemeiner Begriffsinhalte haben und dabei doch
mit allen Merkmalen der Persönlichkeit ausgerüstet sind: und gerade
diese eigentümliche Verquickung von wissenschaftlicher
und mythischer Auffassung, dies unbestimmte Dämmerlicht, worin die
ganze Lehre verharrt, ist das Wesentliche und weltgeschichtlich Bedeutsame daran.
Dasselbe gilt von der letzten Folgerung, mit der Philon diesen Gedankengang abschloß. Die Fülle der
Ideen, Kräfte und Engel war selbst wieder eine ganze Welt, worin Vielheit
und Bewegung herrschte: zwischen ihr und der Einen, unbewegten, veränderungslosen
Gottheit bedurfte es noch eines höheren Zwischengliedes. Wie die Idee zu
den einzelnen Erscheinungen, so muß sich zu den Ideen deren höchste (to gennikôtaton), die »Idee
der Ideen«, - wie die Kraft zu ihren sinnlichen
Wirkungen, so muß sich zu den Kräften die vernünftige Weltkraft überhaupt verhalten: die Engelwelt muß in einem Erzengel ihren einheitlichen Abschluß finden. Diesen Inbegriff
der göttlichen Weltwirksamkeit bezeichnet
Philon mit dem stoischen Begriffe des Logos. Auch dieser aber erscheint deshalb bei ihm in schwankender, wechselnder Bedeutung:
der Logos ist einerseits die in sich ruhende göttliche Weisheit (sophia
oder logos endiathetos, vgl. S. 165 Anm. 2) und die zeugende
Vernunftkraft des Höchsten, er ist aber anderseits auch die aus
der Gottheit heraustretende Vernunft (logos
prophorikos), das selbständige Abbild,
der erstgeborene Sohn, weder unentstanden wie Gott noch entstanden wie die Geister
und die Menschen, er ist der zweite Gott. Durch
ihn hat Gott die Welt gebildet, und er ist umgekehrt auch der Hohepriester,
der durch seine Fürbitte die Beziehungen zwischen
dem Menschen und der Gottheit herstellt und erhält; er ist erkennbar,
während Gott selbst über alle Bestimmung hinausgehoben
und unerkennbar bleibt: er ist Gott, sofern dieser das Lebensprinzip der Welt
bildet.
So legen sich Transzendenz und
Immanenz Gottes als gesonderte Potenzen auseinander, um doch vereint
zu bleiben; der Logos
als der innerweltliche Gott ist »die
Wohnstätte« des außerweltlichen Gottes. Je schwieriger
dies Verhältnis sich begrifflich gestaltet, um so reicher sind die bildlichen
Ausdrucksweisen, in denen es von Philon dargestellt
wird.
6. Mit dieser Logoslehre war nun
der entscheidende Schritt getan, um die Kluft zwischen Gott und der Sinnenwelt
durch eine bestimmte Stufenfolge von Gestalten auszufüllen, die mit
allmählichen Uebergängen von der Einheit zur Vielheit, von der Unveränderlichkeit
zur Veränderlichkeit, vom Immateriellen zum Materiellen, vom Geistigen
zum Sinnlichen, vom Vollkommenen zum Unvollkommenen, vom Guten zum Bösen
herabstieg, und wenn diese Rangordnung zugleich als ein System von Ursachen
und Wirkungen, die selbst wieder Ursachen, aufgefasst wurde, so ergab sich
daraus eine neue Darstellung des kosmogonischen Prozesses, durch den vermöge
aller dieser Zwischenglieder die Sinnenwelt aus dem göttlichen Wesen abgeleitet
wurde: zugleich aber lag dann der Gedanke habe, die Etappen dieses Hervorganges
auch rückläufig als die Stufen der Wiedervereinigung
des in die Sinnenwelt verstrickten Menschen mit Gott zu betrachten. In
so weit angelegten Zusammenhängen bahnt sich theoretisch und praktisch
die Ueberwindung des Dualismus an.
Damit wurde das Problem wieder aufgenommen, welches Platon
in seiner letzten pythagoreisierenden Periode und
die ältesten Akademiker im Auge gehabt hatten, wenn sie mit Hilfe der Zahlentheorie den Hervorgang der Ideen und der Dinge aus der göttlichen
Einheit zu begreifen suchten (vgl.
oben § 11, 5). Aber schon damals hatte sich gezeigt, daß dies
Schema einer Entwicklung der Vielheit aus der Eins hinsichtlich
seiner Beziehung zu den Wertprädikaten zwei entgegengesetzte Deutungen zuließ. Die platonische, von Xenokrates
vertretene Auffassung ging dahin, daß die
Eins das Gute und Vollkommene, das aus ihr Abgeleitete aber das Unvollkommene
und schließlich das Schlechte sein müsse: ihr trat in Speusippos
die Ansicht entgegen, daß das Gute nur das
Endprodukt, nicht der Ausgangspunkt der Entwicklung, letzterer dagegen in dem
Unbestimmten, Unfertigen zu suchen sei. Man pflegt die so unterschiedenen
Lehren als Emanationssystem und Evolutionssystem
zu unterscheiden. Der erstere Name entstammt daher, daß in diesem
System, welches in der religiösen Philosophie des Alexandrinismus entschieden
vorwaltete, die Sondergestaltungen des weltzeugenden Logos
vielfach mit dem stoischen Terminus als »Ausflüsse«
(aporrhoiai) des göttlichen
Wesens bezeichnet wurden.
Doch fehlt es in der alexandrinischen Philosophie auch
nicht an evolutionistischen Versuchen; insbesondere lagen sie dem
Gnostizismus nahe; denn dieser mußte bei seiner scharfen Spannung
des Dualismus von Geist und Materie den monistischen Ausweg mehr in einem
indifferenten Urgrunde zu suchen geneigt sein, der sich in die Gegensätze
auseinander gelegt habe. Wo daher die Gnostiker - und das ist gerade bei den bedeutenderen der Fall - über den Dualismus
hinausstreben, da entwerfen sie nicht nur einen kosmogonischen,
sondern einen theogonischen Prozeß, durch den die Gottheit sich aus dunklem
Urwesen durch den Gegensatz zur vollen Offenbarung entfaltet habe. So
heißt bei Basileides der namenlose Urgrund
der (noch) nicht seiende Gott (ho ouk ôn theos): dieser, hören wir, habe den Weltsamen
(panspermia) erzeugt, in welchem ungeordnet
neben den materiellen Kräften (amorphia)
die geistigen (yhiotêtes) lagen: die Gestaltung und Ordnung aber dieses Kräftechaos vollzieht sich
durch die Sehnsucht nach der Gottheit. Dabei scheiden sich die verschiedenen »Sohnschaften«, die geistige
Welt (hyperkosmia) von der materiellen
Welt (kosmos) und im zeitlichen
Verlaufe des Geschehens schließlich alle Sphären der so entwickelten
Gottheit; jede gelangt an den ihr bestimmten Ort, die Unruhe des Strebens hört
auf, und der Friede der Verklärung ruht über
dem All.
In eigentümlicher Mischung erscheinen evolutionistische
und emanatistische Motive in der Lehre
Valentins. Hier wird nämlich die geistige Welt (plêrôma)
oder das System der »Aeonen«, der ewigen Wesenheiten,
zum ersten Teil als Entfaltung der dunklen Urtiefe
(bythos) zur Selbstoffenbarung,
zum andern Teil dann aber als absteigende Erzeugung un-vollkommnerer
Gestalten entwickelt. Das mythische Schema
ist dabei die orientalische Paarung männlicher und
weiblicher Gottheiten. In der obersten »Syzygie«
tritt neben den Urgrund das »Schweigen«
(sigê), das auch Denken
(ennoia) genannt wird. Aus dieser
Verbindung des Urseins mit der Fähigkeit des
Bewußtwerdens geht als das Erstgeborene der
Geist (hier nous genannt) hervor,
der in der zweiten Syzygie die »Wahrheit«, d.h. die intelligible Welt,
das Reich der Ideen zu seinem Gegenstande hat. So sich selbst zur vollen
Offenbarung geworden, gestaltet die Gottheit sich in der dritten
Syzygie zu »Vernunft«
(logos) und »Leben« (zôê) und wird zum Prinzip der äußeren
Offenbarung in der vierten Syzygie
als »Idealmensch« (anthrôpos) und »Lebensgemeinschaft«
(ekklêsia). Hat nun damit schon
der absteigende Prozeß begonnen, so setzt er sich weiterhin derart fort,
daß aus der dritten und der vierten Syzygie noch
weitere Aeonen hervorgehen, die mit jener heiligen
Achtzahl erst das ganze Pleroma bilden,
die aber immer ferner von dem Urgrunde stehen:
erst der letzte dieser Aeonen, die »Weisheit«
(sophia), ist es, der durch sündige
Sehnsucht nach dem Urgrunde den Anlaß dazu gibt, daß diese
Sehnsucht von ihm abgelöst und in die stoffliche
Leere, das kenôma geworfen
wird, um dort zur Bildung der irdischen Welt zu
führen.
Sieht man auf die philosophischen Gedanken, die sich hinter dieser vieldeutigsten
Mythenkonstruktion verbergen, so ist es leicht verständlich, daß die Schule der Valentinianer in mannigfache Ansichten
auseinander ging. Denn in keinem anderen Systeme jener Zeit sind so sehr dualistische
und monistische Motive beider Art, der evolutionistischen
wie der emanatistischen, mit einander gemischt wie hier.
7. In begrifflicher Abklärung
und mit Ablösung des mythischen Apparates erscheinen die gleichen Motive
in der Lehre Plotins, so Jedoch, daß in der
Durchführung des Ganzen das Prinzip der Emanation
die beiden andern fast ganz verdrängt.
Die Synthese von Transzendenz und Immanenz wird
auch von Plotin in der Richtung gesucht, daß das Wesen Gottes als das absolut Einheitliche und Unveränderliche bewahrt bleibt, während Vielheit und Veränderlichkeit
nur seinen Wirkungen zukommen. Von dem über alle endlichen Bestimmungen
und Gegensätze erhabenen »Ersten«
kann im strengen Sinne gar nichts ausgesagt werden (vgl.
oben 2); nur uneigentlich, in seiner Beziehung zur Welt kann es
als das unendlich Eine, als das Gute und als höchste
Kraft (prôtê dynamis) bezeichnet
werden, und die Wirkungen dieser Kraft, welche
das Weltall ausmachen, sind nicht als Abzweigungen und
Teilungen seiner Substanz, nicht somit als eigentliche « Ausflüsse«,
sondern vielmehr als überquellende, die Substanz selbst in keiner Weise verändernde, doch aber aus der Notwendigkeit
ihres Wesens sich ergebende Nebenerfolge zu betrachten.
Als bildliche und doch auch die Auffassung dieses Verhältnisses bestimmende
Darstellung wendet Plotin das Gleichnis
des Lichtes an,
welches, ohne damit an seinem Wesen einzubüßen oder selbst in Bewegung
zu treten, in die Finsternis strahlt und damit
um sich eine Atmosphäre der Helligkeit derart erzeugt,
daß sie von dem Quellpunkte aus immer mehr an Intensität abnimmt
und schließlich sich von selbst in die Finsternis verliert. So
sollen auch die Wirkungen des Einen und Guten,
je mehr sie durch die einzelnen Sphären hindurch sich davon entfernen,
immer unvollkommener werden und am Ende in das finstere, böse Gegenteil umschlagen, - die Materie.
Die erste Sphäre dieser göttlichen Wirksamkeit ist nach Plotin der Geist
(nous), mit dem sich die erhabene
Einheit in die Zweiheit von Denken und Sein d.h. in diejenige des Bewußtseins
und seiner Gegenstände auseinanderlegt. In ihm ist das Wesen
der Gottheit als Einheitlichkeit der Denkfunktion (noêsis) erhalten: denn dies mit dem
Sein identische Denken wird (wie im aristotelischen
Gottesbegriff) nicht
als eine anhebende oder aufhörende,
an den Gegenständen etwa wechselnde Tätigkeit,
sondern als die immer gleiche, ewige Anschauung des eigenen
wesensgleichen Inhaltes betrachtet. Aber dieser Inhalt, die Ideenwelt,
welche den Erscheinungen gegenüber das ewige Sein
(ousia in platonischem Sinn) bedeutet,
ist als intelligible Welt (kosmos
noêtos) zugleich das Prinzip der Vielheit.
Denn die Ideen sind nicht bloß Gedanken und Urbilder, sondern zugleich
die bewegenden Kräfte (noi
= dynameis) der niederen Wirklichkeit. Die Grundbegriffe (Kategorien)
dieser intelligiblen Welt sind daher, weil in ihr
Einheit und Mannigfaltigkeit als die Prinzipien des Beharrens und des Geschehens
vereinigt und doch wieder getrennt sind, die fünf:
das Seiende (to on),
die Ruhe (stasis),
das Geschehen (kinêsis),
die Identität (tautotês) und die Verschiedenheit (heterotês).
Der Geist also als inhaltlich bestimmte, die Vielheit in sich tragende Funktion
ist die Gestalt, durch welche die Gottheit alle empirische Wirklichkeit aus
sich hervorgehen läßt: Gott als erzeugendes
Prinzip, als Weltgrund ist Geist.
Aber der Geist bedarf nun einer ähnlichen Ausstrahlung, um aus sich die
Welt zu erzeugen; sein nächstes
Produkt ist die Seele, und diese wiederum
betätigt sich dadurch, daß sie die Materie
zur Körperlichkeit gestaltet. Die eigentümliche Stellung der »Seele« besteht also darin, daß sie den Inhalt des Geistes, die Ideenwelt, anschauend
empfängt und nach diesem Urbilde
(eikôn) das Sinnliche
bildet. Dem schöpferischen
Geiste gegenüber ist sie das empfangende,
der Materie gegenüber das wirkende Prinzip. Und diese Dualität
der Beziehungen auf das Höhere und das Niedere wird hier so stark betont,
daß (ebenso wie der »Geist« in Denken
und Sein auseinanderging), die »Seele« sich für Plotin geradezu verdoppelt: in die
selige Anschauung der Ideen versunken, ist sie die höhere,
eigentliche Seele, die psychê im
engeren Sinne des Worts; als gestaltende Kraft ist sie
die niedere Seele, physis (gleich
dem logos spermatikos der Stoiker).
Alle diese Bestimmungen treffen einerseits die allgemeine
Seele (Weltseele - PLATON), anderseits aber
auch die einzelnen Seelen, die als ihre Sondergestaltungen von ihr ausgegangen
sind, namentlich also auch die menschlichen Seelen. Von der reinen
idealen Weltseele wird die physis,
die gestaltende Naturkraft unterschieden: aus jener emanieren die Götter, aus dieser die Dämonen. Unter der
erkennenden Seele des Menschen, die sich zu dem heimatlichen
Geiste zurückschwingt, steht die Lebenskraft,
welche den Leib bildet. So erscheint die Scheidung in den Merkmalen des
Seelenbegriffs, die sich sachlich aus dem Dualismus entwickelte (vgl. § 19, 3), hier formell durch den Zusammenhang des metaphysischen
Systems gefordert.
Dabei wird die Wirkung der »Seele« auf die Materie zwar selbstverständlich als zweckmäßig aufgefaßt,
weil sie ja zuletzt auf den Geist und die Vernunft
(logos) zurückgeht, aber doch, da sie Sache der niederen Seele
ist, als absichtsloses, unbewußtes, naturnotwendiges Walten angesehen.
Wie die äußeren Strahlenschichten des Lichts
in die Finsternis dringen, so gehört es zum Wesen der
Seele, mit ihrem Glanz, der aus dem Geist und aus dem Einen stammt, die
Materie zu durchleuchten.
Die Materie aber - und das ist einer der wesentlichsten
Punkte in Plotins Metaphysik - darf nicht etwa
als eine für sich neben dem Einen bestehende körperliche
Masse angesehen werden, sie ist vielmehr selbst Körperlos,
immateriell. Zwar werden aus ihr die Körper
gebildet, aber sie selbst ist kein Körper, und da sie so weder geistiger
doch körperlicher Natur ist, so kann sie durch keine
Eigenschaften bestimmt werden (apoios).
Aber diese erkenntnistheoretische Unbestimmbarkeit gilt nun bei Plotin
zugleich als metaphysische Unbestimmtheit. Die Materie ist ihm die absolute Negativität, die reine Privation
(sterêsis), die völlige
Abwesenheit des Seins, das absolute Nichtsein: sie verhält sich zu dem Einen wie die Finsternis
zu m Lichte, wie die Leere zur Fülle. Diese hylê der Neuplatoniker ist nicht
die aristotelische oder die stoische, sondern wieder die platonische:
es ist der leere, finstere Raum. So weit reicht in dem antiken Denken die Wirkung
der eleatischen Gleichsetzung des leeren Raums mit dem
Nichtsein und der demokritisch-platonischen Weiterbildung
dieser Lehre: auch im Neuplatonismus gilt der
Raum als die Voraussetzung für die Vervielfältigung, welche
die Ideen in der sinnlichen Erscheinungswelt finden, das
principium individuationis. Deshalb ist auch bei Plotin
die niedere, für die Ausstrahlung auf
die Materie bestimmte Seele, die physis,
das Prinzip der Teilbarkeit, während die höhere Seele die dem Geist verwandte Ungeteiltheit und innere Einheitlichkeit
des Bewußtseins besitzt.
In der reinen Negativität begründet es sich nun aber, daß diese
eigenschaftslose Materie auch durch ein Wertprädikat bestimmt werden kann: sie ist das Böse. Als der absolute
Mangel (peria pantelês),
als die Negation des Einen und des Seins, ist sie
auch die Negation des Guten:
apousia agathou. Indem aber der Begriff des Bösen so eingeführt wird, erhält er auch seine besondere Formung: das Böse
ist nicht selbst etwas positiv Vorhandenes, sondern es ist der Mangel,
es ist das Fehlen des Guten, das Nichtsein. Diese
Begriffsbildung gab für Plotin ein willkommenes
Argument für die Theodicee: wenn
das Böse nicht ist, so braucht es nicht gerechtfertigt zu werden, und so
folgt aus den bloßen begrifflichen Bestimmungen, daß alles, was
ist, gut ist.
Darum ist nun für Plotin die Sinnenwelt
nicht an sich böse, so wenig wie sie an sich
gut ist; sondern weil in ihr das Licht in die Finsternis,
das Eine in die Materie übergeht, weil sie somit eine Mischung von Sein
und Nichtsein darstellt (der platonische Begriff
der genesis wird hier von neuem mächtig), so ist sie
gut, sofern sie an Gott oder dem Guten teil hat, d.h. sofern sie ist,
und so ist sie böse, sofern sie an der Materie oder
dem Bösen teil hat, d.h. sofern sie nicht ist. Das
wahre, eigentliche Böse (prôton
kakon) ist die
Materie, die Negation: die Körperwelt darf nur böse genannt werden,
weil sie daraus gestaltet ist, sie ist das sekundäre Böse (deuteron
kakon); und den Seelen gebührt das Prädikat
böse nur, wenn sie sich der Materie hingeben. Freilich gehört
das Eingehen in die Materie zu den wesentlichsten Merkmalen der Seele selbst;
diese bildet eben diejenige Sphäre, durch welche
die Ausstrahlung der Gottheit in die Materie übergeht und das Teilnehmen
am Bösen ist deshalb für sie eine Naturnotwendigkeit, die als Fortsetzung
ihres eigenen Hervorgehens aus dem Geiste zu fassen ist.
Durch diese Unterscheidung der Sinnenwelt von der Materie vermochte
Plotin auch dem Positiven in den Erscheinungen gerecht zu werden. Denn
da die Urkraft durch Geist und Seele hindurch auf die
Materie wirkt, so ist hiernach alles, was in der Sinnenwelt wahrhaft
ist, offenbar selbst Seele und Geist. Hierin wurzelt die Spiritualisierung der
Körperwelt, die Vergeistigung des Universums, welche das Charakteristische
von Plotins Naturauflassung bildet. Das Materielle
ist nur die äußere Hülle, hinter der als das wahrhaft Wirkende
Seelen und Geister stecken. Der Körper ist
das Abbild oder der Schatten der Idee, die in ihm sich der Materie eingebildet
hat; sein wahres Wesen ist dies Geistige, welches in dem Sinnenbilde erscheint.
In solchem Durchleuchten aber der idealen Wesenhaftigkeit durch ihre sinnliche
Erscheinung besteht die Schönheit: vermöge dieses Einstrahlens
des geistigen Lichts in die Materie ist die ganze Sinnenwelt und ist in ihr
das einzelne, seinem Urbild nachgestaltete Ding schön. Hier begegnet
uns in Plotins Abhandlung über die Schönheit (Ennead.
I, 6) dieser Begriff zum erstenmal unter den Grundbegriffen der Weltanschauung:
es ist der erste Versuch einer metaphysischen Aesthetik. Bis hierher trat das
Schöne immer nur in Homonymie mit dem Guten und Vollkommenen auf, und die
leisen Anfänge einer Ablösung und Verselbständigung des Begriffs,
welche Platons Symposion enthielt, sind eben erst
von Plotin wieder aufgenommen worden: denn auch
die Theorie der Kunst, auf die sich später die ästhetische Wissenschaft
beschränkte, hat, wie es am deutlichsten in dem Bruchstück der aristotelischen
Poetik hervortritt, das Schöne wesentlich nach seinen ethischen Wirkungen
betrachtet (vgl. §13, 14). Es hat des ganzen
Ablaufs der antiken Lebensbewegung und jener Verinnerlichung, welche sie in
der religiösen Periode erfuhr, bedurft, um das wissenschaftliche Bewußtsein
von diesem feinsten und höchsten Gehalte des Griechentums herbeizuführen,
und der Begriff, worin dies geschieht, ist deshalb charakteristisch für
die Entwicklung, aus der er hervorbricht: die Schönheit, welche die Griechen
geschaffen und genossen hatten, - sie wird nun erkannt
als das sieghafte Walten des Geistes in der Veräußerlichung seiner
sinnlichen Erscheinungen. Auch dieser Begriff ist ein Triumph des Geistes,
der in der Entfaltung seiner Tätigkeiten zuletzt sein eigenes Wesen erfaßt
und als Weltprinzip begriffen hat.
Hinsichtlich der Erscheinungswelt steht also Plotin auf dem Standpunkte, den man als Andeutung der Seelenleben bezeichnen muß,
und so erweist sich Natur in, daß in Betreff dieser Gegensätze das
antike Denken seinen Lauf von einem Extrem zum andern beschrieben hat: die älteste
Wissenschaft kannte die Seele nur als eins neben
den vielen andern Naturprodukten, - dem Neuplatonismus
gilt die ganze Natur nur so weit als wirklich, als sie Seele
ist.
Indem aber dies idealistische Prinzip auf die Erklärung der einzelnen Dinge
und Vorgänge in der Sinnenwelt angewendet wird, hört alle Nüchternheit
und Klarheit der Naturforschung auf. An die Stelle gesetzmäßiger
Kausalzusammenhänge tritt das geheimnisvolle, traumhaft
unbewußte Weben der Weltseele, das Walten der Götter und Dämonen,
die geistige Sympathie aller Dinge, welche sich in wunderbaren Beziehungen
unter ihnen ausspricht. Alle Formen von Mantik, Astrologie, Wunderglaube fließen
von selbst in diese Naturbetrachtung ein, und der Mensch scheint in ihr von lauter höheren, geheimnisvollen Kräften umgeben: diese geistgezeugte, seelenvolle Welt umfängt ihn als ein magischer
Zauberkreis.
Der ganze Hervorgang der Welt aus der Gottheit
erscheint somit als eine zeitlose, ewige Notwendigkeit,
und wenn Plotin auch von einer
periodischen Wiederkehr derselben Einzelgestaltungen redet, so ist ihm
doch der Weltprozeß selbst anfangs- und endlos.
Wie es zum Wesen des Lichts gehört, ewig in die Finsternis
zu scheinen, so ist Gott nicht ohne die Ausstrahlung, mit der er aus der Materie
die Welt erzeugt.
In diesem allgemeinen Geistesleben verschwindet dann die individuelle Persönlichkeit als eine untergeordnete Sondererscheinung. Aus der Gesamtseele als eine ihrer zahllosen Entfaltungen
entlassen, ist sie wegen der schuldvollen Neigung
zum Nichtigen aus der reinen Präexistenz in
den Sinnenleib geworfen, und ihre Aufgabe ist, sich ihm und dem materiellen
Wesen überhaupt zu entfremden und sich von ihm wieder zu »reinigen«. Erst wenn ihr dies gelungen, kann sie hoffen,
rückwärts die Stufen zu durchlaufen, in denen
sie selbst aus der Gottheit hervorgegangen ist, und so zu dieser zurückzukehren. Der erste positive Schritt zu dieser Erhebung ist die bürgerliche
oder »politische« Tugend, durch welche
der Mensch sich als vernünftig gestaltende Kraft
in der Erscheinungswelt geltend macht; aber da diese sich nur in Beziehung
auf das sinnliche Objekt betätigt, so steht weit über ihr
(vgl. ARISTOTELES) die dianoëtische Tugend der Erkenntnis, mit der
sich die Seele in ihren eigenen geistigen Lebensgehalt versenkt: als anregende
Hilfe dazu feiert Plotin die Betrachtung des Schönen,
welche im Sinnending die Idee ahnt und in der Ueberwindung der Neigung zur Materie
von dem sinnlich Schönen zum geistig Schönen aufsteigt. Aber auch
diese dianoëtische Tugend, diese ästhetische theôria und Selbstanschauung
des Geistes ist nur die Vorstufe für jene ekstatische Verzückung,
in der das Individuum zu bewußtloser Einheit mit dem Weltgrunde eingeht (§ 18, 6). Das Heil
und die Seligkeit des Individuums ist sein Untergang in das All-Eine.
Die späteren Neuplatoniker, schon
Porphyrios, noch mehr aber Jamblichos und
Proklos betonen bei dieser Erhebung weit mehr als
Plotin die Hilfe, die das Individuum dazu in der
positiven Religion und in ihren Kultushandlungen finde. Da nämlich
diese Männer, ganz wie die ältere Akademie und die Stoa, die verschiedenen,
von ihnen noch stark vermehrten Stufen der Abfolge der Welt aus dem »Einen« durch allerlei mehr oder minder willkürliche
Allegorien mit den Göttergestalten der verschiedenen ethnischen Religionen
gleichsetzten, so lag es nahe, bei der Rückkehr der
Seele zu Gott welche ja in umgekehrter Reihenfolge dieselben Stufen bis zur
ekstatischen Vergottung zu durchlaufen haben sollte, die Unterstützung
dieser niederen Götter in Anspruch zu nehmen: und wie die Metaphysik
der Neuplatoniker in Mythologie, so artete ihre Ethik In theurgische Künste
aus.
8. Im ganzen folgt hiernach die
plotinische Ableitung der Welt aus Gott trotz
aller Verinnerlichung und Vergeistigung der Natur doch
dem physischen Schema des Geschehens. Diese Ausstrahlung
der Dinge aus der Urkraft ist eine ewige, im Wesen der letzteren begründete
Notwendigkeit, das Erzeugen ist bewußtlos und absichtslos zweckmäßiges
Wirken.
Zugleich aber spielt in diese Auffassung ein logisches Motiv hinein, welches
in dem altplatonischen Charakter der
Ideen als Gattungsbegriffe seinen Ursprung hat. Wie nämlich die
Idee zu den einzelnen Sinnendingen, so verhält sich zu den Ideen wieder
die Gottheit wie das Allgemeine zu dem Besonderen: Gott
ist das absolut Allgemeinste, und nach einem Gesetz der formalen Logik, wonach
die Begriffe an Inhalt um so ärmer werden, je mehr ihr Umfang wächst,
so daß dem Umfang ( der Inhalt 0 entsprechen muß, ist das absolut
Allgemeinste auch der inhaltlose Begriff des »Ersten«. Wenn
aber aus diesem Ersten zunächst die intelligible,
sodann die psychische, endlich die sinnliche Welt hervorgehen soll, so entspricht
dies metaphysische Verhältnis dem logischen Prozesse der Determination
oder der Partition. Danach sollte durchweg das Allgemeinere als die höhere,
metaphysisch ursprünglichere Wirklichkeit betrachtet werden: die syllogistisch-deduktive
Methode des Aristoteles (vgl. §12, 3) wurde
als das Wesen des realen Erzeugens und Entstehens
angesehen und in diesem Sinne alles Besondere auch
seiner metaphysischen Realität nach als ein Produkt
aus dem Allgemeineren abgeleitet. Diese Lehre ist unter den älteren
Neuplatonikern hauptsächlich von Porphyrios in seiner Exegese zu den Kategorien
des Aristoteles ausgesprochen worden, und ihr war
es vorbehalten, in der mittelalterlichen Philosophie als Hauptmotiv des »Realismus«
(vgl. unten § 23) eine bedeutende Rolle zu
spielen.
Indessen sah nun Proklos, der das logische Schema
der Emanation methodisch
durchzuführen unternahm, sich auch in der Notwendigkeit, für das logische
Hervorgehen des Besonderen aus dem Allgemeineren noch ein eigenes dialektisches
Prinzip in Anspruch zu nehmen. Einen solchen Schematismus fand der Systematiker
des Hellenismus in dem logisch-metaphysischen Verhältnis, welches Plotin
der Entwicklung der Welt aus der Gottheit zu Grunde gelegt hatte. Der Hervorgang
des Vielen aus dem Einen bringt es mit sich, daß einerseits das Besondere
dem Allgemeinen ähnlich ist und somit die Wirkung in der Ursache enthalten
bleibt und beharrt, anderseits dies Erzeugte als ein Neues, Selbständiges
dem Erzeugenden gegenübertritt und aus ihm heraustritt, endlich aber vermöge
eben dieses antithetischen Verhältnisses das einzelne wieder zu seinem
Grunde zurückstrebt. Somit sind Beharren, Heraustreten und Zurückkehren (monê, proodos, epistrophê) oder Identität,
Verschiedenheit und Verknüpfung des Unterschiedenen die drei Momente des
dialektischen Prozesses, und Proklos preßte
in diese Formel der emanatistischen Entwicklung, vermöge deren jeder Begriff
in sich - aus sich - in sich zurückkehrend gedacht werden sollte, die gesamte
metaphysisch-mythologische Konstruktion, womit er die begriffliche Determination
in einer immer dreigliedrig sich weiter spaltenden Stufenfolge ausführte.
Damit zugleich aber wußte er auch den Göttersystemen der verschiedenen
Religionen ihren Platz in dem mystisch-magischen Weltzusammenhange
anzuweisen.
9. Demgegenüber besteht nun
die Eigentümlichkeit der christliche Philosophie wesentlich darin, daß
sie in der Auffassung des Verhältnisses von Gott und Welt durchweg den
ethischen Gesichtspunkt des freien schöpferischen Tuns zur Geltung zu bringen
gesucht hat. Indem sie von ihrer religiösen Ueberzeugung her an dem Begriffe
der Persönlichkeit des Urwesens festhielt, faßte sie den Hervorgang
der Welt aus Gott nicht als physische oder logische Notwendigkeit der Wesensentfaltung,
sondern als einen Akt des Willens auf, und infolgedessen galt ihr die Weltschöpfung
nicht als ein ewiger Prozeß, sondern als eine einmalige, zeitliche Tatsache.
Der Begriff aber, in welchem sich diese Gedankenmotive konzentrierten, war der
der Willensfreiheit.
Der Begriff der letzteren hatte zuerst den Sinn gehabt, der endlichen, sittlich
handelnden Persönlichkeit des Menschen die Fähigkeit einer von äußerem
Einfluß und Zwang unabhängigen Entscheidung zwischen verschiedenen
gegebenen Möglichkeiten zuzuerkennen (ARISTOTELES);
er hatte sodann die metaphysische Bedeutung einer ursachlosen Tätigkeit
einzelner Wesen angenommen (EPIKUR): auf das Absolute
angewendet und als Eigenschaft Gottes betrachtet, wird er in der christlichen
Philosophie zu dem Gedanken der »Schöpfung
aus Nichts«, zu der Lehre einer ursachlosen Erzeugung der Welt
aus dem Willen Gottes umgebildet. Damit wird jeder Versuch einer Erklärung
der Welt abgelehnt: die Welt ist, weil Gott sie gewollt hat, und sie ist so,
wie sie ist, weil Gott sie so gewollt hat. An keinem Punkte ist der Gegensatz
zwischen Neuplatonismus und rechtgläubigem Christentum schärfer als
an diesem.
Indessen wird nun eben dasselbe Prinzip der Willensfreiheit
angewendet, um die Schwierigkeiten zu überwinden, welche sich aus
ihm selbst ergeben. Denn die schrankenlose Schöpferfreiheit
des allmächtigen Gottes treibt noch energischer als in den andern Weltanschauungen
das Problem der Theodizee
hervor, wie dabei mit seiner Allgüte die Realität des Bösen
in der Welt vereinbar sei. Der Optimismus der Weltschöpfungslehre und der
Pessimismus des Erlösungsbedürfnisses, das theoretische und das praktische,
das metaphysische und das ethische Moment der religiösen Ueberzeugung stoßen
hart aufeinander. Den Ausweg aber aus diesen Schwierigkeiten findet der von
dem Verantwortlichkeitsgefühl getragene Glaube in der Annahme, daß
Gott die Geister und Menschenseelen, die er schuf, mit einer der seinigen analogen
Freiheit ausgestattet habe und daß dann durch deren Schuld das Böse in die gute Welt gekommen sei.
Diese Schuld finden die kirchlichen Denker nicht eigentlich in der Neigung zur
Materie oder zum Sinnlichen: denn die Materie kann als von Gott geschaffen an
sich nicht böse sein. Die Sünde der freien Geister
besteht vielmehr in ihrer Empörung gegen den Willen Gottes, in ihrer
Sehnsucht nach eigener, schrankenloser Selbstbestimmung
und erst sekundär darin, daß sie ihre Liebe
statt auf Gott vielmehr auf seine Schöpfungen, auf die Welt gerichtet haben.
Inhaltlich waltet also auch hier im Begriff des Bösen
das negative Moment der Abkehr und des Abfalls von Gott vor; aber der
ganze Ernst des religiösen Bewußtseins macht sich darin geltend,
daß dieser Abfall nicht bloß als Abwesenheit
des Guten, sondern als ein positiver, verkehrter Willensakt aufgefaßt
wird.
Zwar zieht sich hiernach der Dualismus von
Gott und Welt und
damit derjenige von Geist und Materie auch tief
in die christliche Weltanschauung hinein:
Gott und das ewige Leben des Geistes, die Welt und das
vergängliche Leben des Fleisches, - sie stehen sich auch hier schroff genug
gegenüber; im Widerstreit gegen das göttliche
Pneuma ist die Sinnenwelt von »hylischen« Geistern, bösen Dämonen erfüllt, die den Menschen in ihr gottfeindliches
Treiben verstricken, die Stimme der allgemein-natürlichen Offenbarung in
ihm ersticken und dadurch die besondere Offenbarung notwendig machen; ohne die
Abkehr von ihnen und von dem sinnlichen Wesen ist auch für die
altchristliche Ethik keine Rettung der Seele möglich.
Allein seinem eigentlichen Wesen nach gilt doch dieser Dualismus hier weder
als notwendig noch als ursprünglich: es ist nicht der Gegensatz zwischen
Gott und der Materie, sondern derjenige zwischen Gott
und den gefallenen Geistern, es ist der rein innerliche
Antagonismus des unendlichen und des endlichen Willens. In dieser Richtung
hat die christliche Philosophie durch Origenes die metaphysische Vergeistigung und Verinnerlichung der Sinnenwelt vollzogen.
In ihr erscheint die Körperwelt ebenso von geistigen Funktionen durchsetzt
und getragen, ja ebenso in geistige Funktionen aufgelöst wie bei Plotin;
aber das Wesentliche dieser Funktionen sind hier die Verhältnisse
des Willens. Wie der Uebergang Gottes in die Welt
nicht physische Notwendigkeit, sondern ethische Freiheit ist, so ist
die materielle Welt nicht eine letzte
Ausstrahlung von Geist und Seele, sondern eine Schöpfung
Gottes zur Strafe und zur Ueberwindung der Sünde.
Freilich hat Origenes in die Entwicklung dieser
Gedanken ein dem Neuplatonismus verwandtes Motiv
aufgenommen, das ihn schließlich mit der Vorstellungsweise der Gemeinde
in Konflikt brachte. So sehr er nämlich an dem Begriffe
der göttlichen Persönlichkeit und an dem der Schöpfung als freier
Tat göttlicher Güte festhielt, so war doch das wissenschaftliche
Denken, welches die Handlung im Wesen begründet sehen will, in ihm zu mächtig,
als daß er diese Schöpfung als einen einmaligen, zeitlichen, ursachlosen
Akt hätte ansehen können. Das ewige, unveränderliche
Wesen Gottes verlangt vielmehr, daß er von Ewigkeit her bis in alle Ewigkeit
Schöpfer ist, daß er niemals ohne Schöpfung sein kann, daß er zeitlos schafft. Aber diese Schöpfung des ewigen
Willens ist deshalb auch nur eine solche, welche sich auf das ewige
Sein, auf die geistige Welt (ousia)
bezieht. In dieser ewigen Weise zeugt Gott - so
lehrt Origenes - den ewigen
Sohn, den Logos als den Inbegriff seiner Weltgedanken
(idea ideôn) und durch ihn
das Reich der freien Geister, das, in sich begrenzt,
als ewig lebendiges Kleid die Gottheit umgibt. Diejenigen
nun von den Geistern, welche in der Erkenntnis und Liebe des Schöpfers
verharren, bleiben in unveränderter Seligkeit bei ihm: diejenigen aber,
welche müde und nachlässig werden und sich in Hochmut und Aufgeblasenheit
von ihm abwenden, werden zur Strafe in die zu diesem Zwecke geschaffene Materie
geworfen. So entsteht die Sinnenwelt, die also nichts Selbständiges, sondern
eine symbolische Veräußerlichung der geistigen
Funktionen ist. Denn was in ihr als real
gelten darf, das sind nicht die einzelnen Körper,
sondern vielmehr die geistigen Ideen, die in ihnen verknüpft und wechselnd
an ihnen vorhanden sind.
So vereinigt sich bei Origenes der Platonismus
mit der Theorie des schöpferischen Willens. Die ewige Welt der Geister ist das ewige Erzeugnis des wandellosen göttlichen
Willens. Das Prinzip der Zeitlichkeit aber
und der Sinnlichkeit (genesis)
ist der wechselnde Wille der Geister: um ihrer
Sünde willen entsteht die Körperlichkeit, und mit ihrer Besserung
und Reinigung wird sie wieder verschwinden. Damit ist als der letzte
und tiefste Sinn aller Wirklichkeit das Wollen und das Verhältnis
der Persönlichkeiten zueinander, insbesondere dasjenige der endlichen zu
der unendlichen Persönlichkeit erkannt.
Das Problem der Weltgeschichte
(§21)
Mit diesem durch das Christentum besiegelten Triumph der religiösen Ethik
über die kosmologische Metaphysik hängt nun das Auftauchen eines weiteren
Problems zusammen, das sogleich eine Reihe bedeutsamer Lösungsversuche
gefunden hat: des geschichts-philosophischen.
1. Hierin tritt der griechischen
Weltanschauung gegenüber etwas prinzipiell Neues zu Tage. Denn deren Fragestellung
war von Anfang an auf die physis, auf
das bleibende Wesen gerichtet
(vgl. S. 27, 60, 77 und 97), und diese aus dem Bedürfnis der Naturauffassung
hervorgegangene Fragestellung hatte den Fortgang der Begriffsbildungen so stark
beeinflußt, daß der zeitliche Ablauf des Geschehens immer nur als
etwas Sekundäres behandelt wurde, dem kein eigenes metaphysisches Interesse
sich zuwendete. Dabei betrachtete die griechische Wissenschaft nicht nur den
einzelnen Menschen, sondern auch das ganze Menschengeschlecht mit allen seinen
Geschicken, Taten und Leiden doch schließlich nur als eine Episode, als
eine vorübergehende Sondergestaltung des ewig nach
gleichen Gesetzen sich wiederholenden Weltprozesses.
Das spricht sich mit schlichter Großartigkeit in den kosmologischen Anfängen
des griechischen Denkens aus, und auch nachdem in der Philosophie die anthropologische
Richtung zur Herrschaft gelangt war, blieb doch als theoretischer Hintergrund
für jeden Entwurf der Lebenskunst stets der Gedanke lebendig, daß das Menschenleben, wie es aus dem immer gleichen Naturprozeß hervorgequollen, so auch in ihn wieder einmünden müsse (STOA).
Wohl wurde nach einem letzten Zweck des Erdenlebens gefragt
(PLATON) und auch die gesetzmäßige Reihenfolge der Gestaltungen
des politischen Lebens untersucht (ARISTOTELES) wohl erschien dabei die Herstellung des vernünftigen Weltstaates als eine
Aufgabe des Menschengeschlechtes (STOA, CICERO).
Aber die Frage nach einem Gesamtsinn der Menschengeschichte,
nach einem planvollen Zusammenhange der historischen Entwicklung war
niemals als solche aufgeworfen worden, und noch weniger war es einem der alten
Denker eingefallen, darin das eigentliche Wesen der Welt zu sehen.
Am charakteristischsten aber verfährt gerade in dieser Hinsicht der Neuplatonismus.
Auch seine Metaphysik folgt ja dem religiösen Leitmotive; aber er wendet
es echt hellenisch, wenn er den Hervorgang des Unvollkommenen
aus dem Vollkommenen als einen ewigen, naturnotwendigen Prozeß
betrachtet, in welchem auch das menschliche Einzelwesen
seine Stelle findet und sich darauf angewiesen sieht, für sich allein durch
Rückkehr zum unendlichen sein Heil zu suchen.
2. Das Christentum aber fand von
vornherein das Wesen des ganzen Weltgetriebes in den Erlebnissen
der Persönlichkeiten: ihm war die äußere
Natur nur ein Schauplatz, auf dem sich das Verhältnis von Person
zu Person und vor allem dasjenige des endlichen Geistes
zur Gottheit abspielte. Dazu traten als weiterhin bestimmende Mächte
das Prinzip der Liebe, das Bewußtsein von der Solidarität des Menschengeschlechtes,
die tiefe Ueberzeugung von der allgemeinen Sündhaftigkeit und der Glaube
an eine gemeinsame Erlösung. Dies alles führte dazu, daß die Geschichte des Sündenfalls und der Erlösung als der wahre metaphysische
Inhalt der Weltwirklichkeit betrachtet wurde, und daß statt eines ewigen Naturprozesses das Drama der Weltgeschichte als
eines zeitlichen Ablaufs freier Willenstätigkeiten zum Inhalt der christlichen
Metaphysik wurde.
Es gibt vielleicht keinen besseren Beweis für die Gewaltigkeit
des Eindrucks, den die Persönlichkeit, Jesu
von Nazareth hinterlassen hatte, als die Tatsache, daß alle Lehren
des Christentums, so weit sie sonst philosophisch oder mythisch auseinander
gehen mögen, doch darin einig sind, in ihm und seinem Erscheinen den Mittelpunkt
der Weltgeschichte zu suchen. Durch ihn wird der Kampf
zwischen Gutem und Bösem, zwischen Licht und Finsternis entschieden.
Dies Siegesbewußtsein, mit dem das Christentum an seinen Heiland glaubte,
hatte aber noch eine andere Seite: zu dem Bösen, das durch ihn überwunden
war, gehörten nicht zum wenigsten auch die andern Religionen. Denn die
christliche Vorstellung jener Tage war weit davon entfernt, die Realität
der heidnischen Götter zu leugnen; sie sah vielmehr in ihnen böse
Dämonen, gefallene Geister, welche den Menschen, um ihn an der Heimkehr
zu dem wahren Gotte zu hindern, verführt und zu ihrer Verehrung überredet
haben.
Dadurch gewinnt der Kampf der Religionen, der sich
in der alexandrinischen Periode abspielte, in den
Augen der christlichen Denker selbst metaphysische Bedeutung: die Mächte,
deren Ringen die Weltgeschichte bildet, sind die Götter der verschiedenen
Religionen, und der Ausdruck dieses Kampfes ist der innerste Sinn aller Wirklichkeit.
Indem dann aber jeder einzelne Mensch mit seiner sittlichen Lebensarbeit in
diesen großen Zusammenhang verflochten ist, hebt sich die Bedeutung der
Persönlichkeit weit über das Sinnenleben hinaus in die Sphäre
metaphysischer Realität.
3. Diesen Zusammenhängen
gemäß erscheint bei fast allen christlichen Denkern die Weltgeschichte
als einmaliger Ablauf innerer Begebenheiten, welche
die Entstehung und das Schicksal der Sinnenwelt nach sich
ziehen: es ist im wesentlichen nur Origenes,
der an dem Grundcharakter der griechischen Wissenschaft insofern festhielt,
als er die Ewigkeit des Weltprozesses lehrte; dieser
fand zwischen beiden Motiven den Ausweg, daß er aus der
ewigen Geisterwelt, die er als unmittelbare Schöpfung Gottes ansah, eine
Succession zeitlicher Welten hervorgehen ließ, die je mit dem Abfall und
Sturz einer Anzahl freier Geister ihren Anfang nehmen und mit deren Erlösung
und Restitution (apokatastasis) ihr Ende
finden sollten.
Der Grundzug des christlichen Denkens dagegen geht darauf, das weltgeschichtliche
Drama von Sündenfall und Erlösung als einen einmaligen Zusammenhang
von Begebenheiten zu schildern, die mit einer freien Entscheidung
niederer Geister zur Sünde beginnt und ihren Wendepunkt in der erlösenden Offenbarung, dem Entschluß göttlicher
Freiheit, hat. Die Geschichte wird - den naturalistischen Auffassungen
des Griechentums gegenüber - als das Reich einmaliger
freier Handlungen der Persönlichkeiten erfaßt, und der Charakter
dieser Handlungen ist dem gesamten Zeitbewußtsein gemäß von
wesentlich religiöser Bedeutung.
4. Höchst interessant ist
es nun, wie in den mythisch-metaphysischen Dichtungen der Gnostiker sich das eigentümliche Verhältnis des Christentums
zum Judentum im kosmogonischen Gewande zum Ausdruck bringt. In den gnostischen
Kreisen überwiegt die sog. heidenchristliche
Tendenz, welche die neue Religion möglichst scharf gegen das Judentum abgrenzen
will, und diese Tendenz wächst gerade durch die hellenistische Philosophie
bis zu offenster Feindschaft gegen das Judentum an.
Die mythologische Form dafür ist die, daß der
Gott des alten Testaments, der das mosaische Gesetz gegeben, als der Bildner
der Sinnenwelt - meist unter dem platonischen Namen
des Demiurgen - betrachtet wird und in der Hierarchie
der kosmischen Gestalten (Aeonen) wie in der Geschichte des Universums denjenigen Platz angewiesen erhält,
der ihm nach dieser Funktion gebührt.
Anfänglich ist dies Verhältnis noch kein ausgesprochener Gegensatz.
Schon ein gewisser Kerinthos
(um 115) unterschied von dem obersten Gotte, der
durch keine Berührung mit der Materie befleckt werden sollte, den Judengott
als Demiurgen und lehrte, daß dem von diesem gegebenen »Gesetz« gegenüber Jesus die Offenbarung
des höchsten Gottes gebracht habe. Ebenso erscheint der
Judengott bei Saturninus als das Haupt der
sieben Planetengeister, welche, als niedrigste Emanation
des Geisterreiches, in dem Gelüst nach Selbstherrschaft ein Stück
der Materie an sich reißen, um daraus die Sinnenwelt zu bilden und als
deren Wächter den Menschen einzusetzen Daraus entspinnt sich aber
der Weltkampf, indem Satanas, um jenes Stück
seines Reiches zurückzuerobern, dem Demiurgen und seinem Anhang seine eignen Dämonen und das niedere, »hylische«
Geschlecht der Menschen entgegenschickt. In
diesem Kampfe erweisen sich die Propheten des Demiurgen als machtlos, bis der
höchste Gott den Aeon nous
als Heiland sendet, damit er die
pneumatischen Menschen und zugleich auch den Demiurgen und seine Geister aus
der Macht des Satans befreie. Auch Basileides läßt die Erlösung selbst dem Judengott zu teil werden: hier wird Jahve unter dem
Namen des »großen Archon« als Ausfluß des göttlichen Weltsamens und als das abgefallene
Haupt der Sinnenwelt eingeführt; die Heilsbotschaft,
die Jesus von dem höchsten Gotte bringt, erschüttert
auch diesen »Archon« und fahrt ihn
reumütig aus seiner Ueberhebung zum Gehorsam zurück. In ähnlicher
Weise gehört der Gott des alten Testaments
bei Karpokrates zu
den gefallenen Engeln, welche, mit der
Weltbildung beauftragt, sie nach eigener Willkür vollziehen und
gesonderte Reiche gründen, in denen sie von den untergeordneten Geistern
und den Menschen sich selbst verehren lassen: während aber diese besonderen
Religionen sich gegenseitig befehden wie ihre Götter, hat die höchste Gottheit in Jesus, wie schon
vorher in den großen Erziehern der Menschheit,
einem Pythagoras und Platon,
die Eine, wahre, universale Religion offenbart,
die ihn selbst zum Gegenstande hat.
In entschiedener Polemik gegen das Judentum hatte ferner der Syrer Kerdon
den Gott des alten Testaments von dem des neuen unterschieden der durch
Moses und die Propheten Verkündete sei als der zwecktätige
Weltbildner und als der Gott der Gerechtigkeit auch der natürlichen Erkenntnis zugänglich (der
stoische Begriff); der durch Jesus Offenbarte
sei der unerkennbare, der gute Gott (der
philonische Begriff). In scharfer Zuspitzung werden dieselben Bestimmungen
bei Marcion (um 150) dazu
verwendet, um das christliche, stark asketisch aufgefaßte Leben als einen Kampf gegen den Demiurgen und für den höchsten, durch Jesus
offenbarten Gott zu betrachten, und sein Schüler
Apelles behandelt den Judengott gar als den Lucifer,
der in die Sinnenwelt, welche von dem guten »Demiurgen«,
dem obersten Engel, gebildet worden ist, die fleischliche
Sünde gebracht habe, so daß auf die Bitte des Demiurgen der höchste
Gott ihm den Erlöser entgegensenden mußte.
5. Demgegenüber wird nicht
allein ausdrücklich von den dem Clemens Romanus
zugeschriebenen Rekognitionen (entstanden etwa 150 n.
Chr.), sondern in der gesamten orthodoxen Entwicklung der christlichen
Lehre daran festgehalten, daß der höchste Gott
und der Weltschöpfer, daß der Gott des neuen und der des alten Testaments
derselbe sei; zugleich aber wird eine planvolle
erzieherische Entwicklung in der Offenbarung dieses einen wahren Gottes angenommen
und in dieser zeitlichen Entwicklung die Heilsgeschichte, d.h. die innere Geschichte
der Welt gesucht. Nach den Anregungen der paulinischen Briefe haben diesen
Standpunkt Justinus und vor allem
Irenaeus eingenommen: erst in dieser geschichtsphilosophischen Ausgestaltung
vollendet sich ihre Theorie der Offenbarung (vgl. § 18, 5).
Denn die einerseits in der jüdischen Prophetie,
anderseits in der hellenischen Philosophie auftauchenden
Antezipationen der christlichen Offenbarung gelten
unter diesem Gesichtspunkte als pädagogische Vorbereitungen für die
letztere. Und da nun die Erlösung des sündigen Menschen nach christlicher
Anschauung den einzigen Sinn und Wertinhalt der Weltgeschichte
und damit der gesamten außergöttlichen Wirklichkeit ausmacht, so erscheint die planvolle Reihenfolge der Offenbarungstaten
Gottes als das Wesentliche in dem ganzen Ablauf der Weltbegebenheiten.
Dabei werden, der Lehre von der Offenbarung gemäß, in der Hauptsache drei Stufen dieser göttlichen Heilswirksamkeit unterschieden. Dem
Inhalte nach erscheint
erstens die allgemein-menschliche
Offenbarung, welche objektiv durch die Zweckmäßigkeit der
Natur, subjektiv durch die vernünftige Anlage des Geistes gegeben ist,
-
zweitens die besondere,
dem hebräischen Volke zuteilgewordene Vorbereitung durch das mosaische
Gesetz und die Verheißungen der Propheten, -
drittens die
volle Entfaltung und Bezeugung der Heilswahrheit durch Jesus:
der Zeit nach entsprechen diesen Stufen die drei Perioden von Adam bis
Moses, von Moses bis Christus, von Christus bis zum Weltende.
Diese Dreiteilung lag dem alten Christentum um so näher, je stärker
in ihm der Glaube lebte, daß die mit dem Erscheinen
des Heilandes begonnene Schlußperiode der Welterlösung in kürzester
Zeit beendet sein würde. Die eschatologischen Hoffnungen sind ein
wesentlicher Bestandteil der altchristlichen Metaphysik: denn die Geschichtsphilosophie,
welche den Heiland zum Wendepunkt der Weltgeschichte
machte, beruhte nicht zum wenigsten auf der Erwartung,
daß der Gekreuzigte wiederkehren würde, um die Welt zu richten und
den Sieg des Lichtes über die Finsternis zu vollenden. Freilich
gestalten sich diese Vorstellungen mit der Zeit und mit der Enttäuschung
der ersten Hoffnungen sehr verschieden, und namentlich macht sich dabei der
Gegensatz des Dualismus und des Monismus geltend, indem das Weltgericht
entweder als definitive Trennung des Guten und des Bösen oder als volle
Ueberwindung des letzteren durch das erstere (apokatastasis
pantôn bei Origenes) aufgefasst
wurde. Aber so vielfach auch hierin materiellere und geistigere
Ansicht von Seligkeit und Unseligkeit, von Himmel und Hölle durcheinander
schillern, - immer bildet doch das Weltgericht
den Abschluß des Erlösungswerkes und damit das Endglied des göttlichen
Heilsplanes.
6. So sind es zwar ausschließlich religiöse Gesichtspunkte, unter denen die
Weltgeschichte von den christlichen Denkern betrachtet wird; aber es
kommt in ihnen das allgemeine Prinzip einer historischen Teleologie zum Durchbruch.
Wenn die griechische Philosophie sich in die Betrachtung der Zweckmäßigkeit
der Natur mit einer Energie vertieft hatte, welche das religiöse Denken
nicht überbieten konnte, so geht hier der völlig
neue Gedanke auf, daß auch der zeitliche
Ablauf der Begebenheiten des Menschenlebens einen zweckvollen Gesamtsinn
habe. Ueber der Teleologie der Natur erhebt sich
diejenige der Geschichte, und so wenig noch zwischen
beiden ein sachlicher und begrifflicher Zusammenhang gedacht wird, so finden
sich doch schon Andeutungen, wonach die erstere als die
Vorstufe der letzteren angesehen werden soll.
Eine solche Konzeption war nur möglich für eine Zeit, die von einem
reifen Resultat her auf die lebendige Erinnerung an eine große geschichtliche
Entwicklung zurücksah. Der Weltkultur des Römerreichs dämmerte
in dem Selbstbewußtsein ihrer Verinnerlichung die
Ahnung eines zweckvollen Ineinandergreifens der Völkergeschicke auf, wodurch
sie selbst zustande gekommen war, und die Vorstellung dieses gewaltigen Prozesses
ergab sich vor allem durch die ein Jahrtausend umspannende kontinuierliche Tradition
der griechischen Literatur. Die religiöse Weltanschauung, die sich
aus dieser antiken Gesamtkultur entwickelt hatte, gab jenem Gedanken die Form,
daß der Sinn der historischen Bewegung in den Veranstaltungen
Gottes zum Heile des Menschen zu suchen sei und da die alten Kulturvölker
selbst die Zeit ihres Wirkens erfüllt fühlten, so ist es begreiflich,
daß sie das Ende der Geschichte unmittelbar vor sich da zu sehen glaubten,
wo die Sonne ihres Tages sich senkte.
Hand in Hand aber mit dieser Idee einer planvollen Einheit
der menschlichen Geschichte geht deshalb auch der Gedanke
einer über Raum und Zeit erhabenen Einheitlichkeit des Menschengeschlechtes. Das die nationalen Schranken durchbrechende Bewusstsein
der gemeinsamen Kultur vollendet sich in dem Glauben an eine gemeinsame Offenbarung
und Erlösung für alle Menschen. Indem das Heil des ganzen Geschlechts
zum Inhalt des göttlichen Weltplans gemacht wird, erscheint als die vornehmste
unter den dazu gehörige Veranstaltungen jene Lebensgemeinschaft (ekklêsia), zu der alle Glieder des Geschlechts durch die
gläubige Teilnahme an demselben Erlösungswerke berufen sind. In diesem
Zusammenhange mit der religiösen Geschichtsphilosophie steht der aus dem
Leben der christlichen Gemeinden heraus gebildete Begriff der Kirche, unter
dessen konstitutiven Merkmalen somit die Allgemeinheit (Katholizität) eines der wichtigsten ist.
7. Auf diese Weise wird nun aber
der Mensch und sein Geschick zum Mittelpunkte des Universums.
Dieser anthropozentrische Charakter unterscheidet die christliche
Weltansicht wesentlich von der neuplatonischen.
Wohl wies auch diese dem menschlichen Individuum, dessen seelisch-geistiges
Wesen sie ja der Vergottung fähig hielt, eine hohe metaphysische
Stellung an, wohl beachtete sie die zweckvollen Zusammenhänge der Natur
auch unter dem (stoischen) Gesichtspunkte ihrer Zuträglichkeit für
den Menschen, - aber niemals würde der Neuplatonismus
sich dazu verstanden haben, den Menschen, der ihm als eine Teilerscheinung
der göttlichen Wirksamkeit galt, für den
Zweck des Ganzen zu erklären.
Gerade dies aber ist in der Patristik der Fall.
Nach Irenaeus (Ref. V, 29,1.
p. 767 St.) ist der Mensch Ziel und Zweck der Schöpfung:
er als erkennendes Wesen ist es, dem Gott sich offenbaren wollte, und um seinetwillen
ist das übrige, ist die ganze Natur geschaffen; er ist es auch, der durch
den Mißbrauch der ihm verliehenen Freiheit die weitere Offenbarung und
die Erlösung nötig gemacht hat, der darum auch den Zweckinhalt der
gesamten Geschichte bildet. Der Mensch ist, wie Gregor
von Nyssa (Conf. I, 50-60.
Mor.) lehrt, als höchste Entfaltung des Sinnenlebens
die Krone der Schöpfung, ihr Herrscher und König: sie ist bestimmt,
von ihm angeschaut und in ihre ursprüngliche Geistigkeit zurückgenommen
zu werden.
Aber auch bei Origenes sind gerade die Menschen
jene gefallenen Geister, die zur Strafe und Besserung mit der Sinnenwelt bekleidet
werden: nur um ihrer
Sünde willen besteht die Natur, und sie hört wieder auf, wenn der
historische Prozeß durch die Rückkehr aller Geister zum Guten sein
Ende erreicht hat.
So hat der Anthropologismus, der zunächst nur als eine Verschiebung des
Interesses, als eine Veränderung der Problemstellung in die griechische
Wissenschaft eindrang, während der hellenistisch-römischen Zeit sich
mehr und mehr auch zum sachlichen Prinzip der Weltbetrachtung entwickelt und
zuletzt im Bunde mit dem religiösen Bedürfnis von der Metaphysik Besitz
ergriffen. Das Menschengeschlecht hat das Bewußtsein
der Einheit seines historischen Zusammenhanges gewonnen und betrachtet seine
Heilsgeschichte als das Maß aller endlichen Dinge.
Was in Raum und Zeit entsteht und vergeht, hat seine wahre
Bedeutung nur insofern, als es in die Beziehung des Menschen zu seinem Gotte
aufgenommen ist.
Um Sein und Werden fragt die alte Philosophie
an ihrem Anfange: ihre Schlußbegriffe
sind Gott und das Menschengeschlecht.
S.472ff.
Aus: Wilhelm Windelband: Lehrbuch der Geschichte der
Philosophie . Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie von Platon bis Nietzsche
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages
der Directmedia Publishing GmbH, Berlin