Richard Wilhelm (1873 – 1930)

 

Deutscher Sinologe, der von 1899 -1921 Missionar und Pfarrer in Tsingtau (China) war. Seine Übersetzungen aus der klassischen chinesischen Literatur, die von ihm hierzu mit großer Sachkenntnis und tiefem Einfühlungsvermögen in die chinesische Mentalität verfassten Kommentare sowie sein Wirken an dem von ihm eingerichteten China-Institut in Frankfurt a. M. , wo er eine Professur innehatte, machten weite Kreise Deutschlands mit dem chinesischen Gedanken- und Kulturgut bekannt. Zu seinen bekanntesten Übersetzungen zählen seine Texte und Kommentare zu Laotse: »Tao te king«, Kungfutse: »Lun Yü« (Gespräche) und »Gia Yü« (Schulgespräche), »Tai I Gin Hua Dsung Dschi« (Geheimnis der goldenen Blüte), Liä Dsi: »Das wahre Buch vom quellenden Urgrund«, Dschuang Dsi: »Das wahre Buch vom südlichen Blütenland« und »I Ging« (Buch der Wandlungen).

Siehe auch Wikipedia, Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg

Inhaltsverzeichnis

Weisheit des Ostens
Licht aus dem Osten
Tod und Erneuerung

Tao te king
Das wahre Buch vom quellenden Urgrund
Das wahre Buch vom südlichen Blumenland
  Das Geheimnis der goldenen Blüte
Herkunft des Werkes
Die psychologischen und kosmologischen Voraussetzungen des Werkes
Das himmlische Bewusstsein (Herz)

Der ursprüngliche Geist und der bewusste Geist

Licht aus dem Osten
Während in den letzten Jahrhunderten die ostasiatische Kulturwelt in ihren einzelnen Gebieten im wesentlichen auf sich selber beruhte, vom zudringenden Abendland sich behutsam abschließend, und auf verschiedene Weise innerlich und selbst äußerlich eine energische Abwehrstellung gegen die Kulturart des Westens einnahm, zeigt sich bei uns in immer steigendem Maße eine Hinkehr zum Osten, eine bewusste Übernahme orientalischer religiöser und kultureller Motive, die so weit geht, daß viele sich unbefriedigt von der eigenen Vergangenheit abwenden, alles Heil im Osten suchend, und dass diese östliche Flutwelle sich in unserem gesamten Geistesleben bemerkbar macht.

Es verlohnt sich wohl, zu fragen, was die Gründe für diese Erscheinung sind; ob es sich hier nur, wie manche meinen, um eine vorübergehende Modetorheit handelt, die, des Hergebrachten satt, nach Neuem dürstet, und nachdem im Verlauf weniger Jahrzehnte erst die eigene Vergangenheit in ihren verschiedenen Perioden nachahmend wiederholt worden ist, nunmehr das ganz andere sucht, das in den stillen Hainen Ostasiens lebt und dessen vollständiger Gegensatz zu der Hast und Hitze des modernen Europäertums für den Augenblick nur einen pikanten Reiz mehr bedeutet, oder ob es sich um etwas handelt, das
ernstgenommen werden muss.

Nun ist ohne Zweifel das Bedürfnis nach Neuem einer der Gründe, die zu der Hinneigung zum Osten geführt haben. Allein bei näherem Zusehen ergibt sich, dass es sich doch um mehr dabei handelt, denn diese Bewegung ist nicht von heut und gestern, sondern sie geht, wenn auch teilweise unterhalb der Schwelle des öffentlichen Bewusstseins, schon sehr lange weiter, so dass man in gewissem Sinne sie vergleichen kann mit den großen befruchtenden Flutwellen, wie sie zur hellenistischen Zeit aus dem persisch-christlich-jüdischen Orient und dann später wieder zur Zeit der Kreuzzüge aus der arabischen Kultur von Asien zu uns herübergekommen sind. Schon von Leibniz und der Zeit der jesuitischen Missionare an beginnt China, zunächst besonders die konfuzianische Seite, im europäischen Bewusstsein aufzutauchen. Mit dem Zurücktreten des Rationalismus begann Indien mit seinen Upanishaden und dem Zaubergesang des Buddhismus seinen Einfluss auszuüben. Als vorübergehende Episode mag es dann auch noch verzeichnet werden, wie die japanische populäre Holzschnittkunst und das japanische Kleinhandwerk auf das Kunstleben Europas gewirkt haben.


Heute stehen wir am Beginne einer neuen Aufnahmezeit: aus Indien kommen nicht mehr bloß allgemein theoretische Lehren, sondern ganz konkrete Methoden des psychischen Trainings, und hinter der japanischen Kunst tauchen wie Eisgipfel hinter einem Mittelgebirge die chinesischen Malereien der Sungzeit auf, die die Quellen waren des Tiefsten, das Japan uns zu bieten hatte, und die in den besten japanischen Sammlungen ihre Heimat fanden, während japanische Kunstbilderbogen zu guten Preisen nach Europa abgestoßen wurden. Gleichzeitig damit gewinnt auch das alte chinesische Geistesleben die körperliche Deutlichkeit, die es befreit von dem Schleier nörgelhafter Sonderbarkeit, der, aus der Rokokozeit stammend, alles Chinesische bisher als etwas mehr oder weniger Groteskes und Spielerisches hatte erscheinen lassen. Wenn wir diese Bewegung in ihrem größeren Zusammenhang überblicken, so sehen wir, daß es sich
um mehr handelt als bloße Mode. Gewiss, Mode ist dabei, und was Mode ist, wird wieder verschwinden, aber es wird etwas bleiben, das nicht verschwinden wird und mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.

Man kann es beobachten, dass immer, wenn der vorwiegend aktive europäische Geist auf einem kriegerisch militaristischen Höhepunkt angelangt war und der Umschlag einzusetzen begann, vom Osten her eine Geistesrichtung kam, die beruhigend, verinnerlichend und dadurch bereichernd wirkte. So kamen in die Starrheit des römischen Imperiums das Christentum und andere vorderasiatische Kulte, aus denen die Kirche sich gestaltete. So tauchte — freilich unter ganz anderen äußeren Erscheinungen — im Höhepunkt des Rittertums mit der expansiven Kreuzzugsidee zugleich jene mystische Sehnsucht nach Osten auf, die, befruchtet von dem Geist des äußerlich bekämpften Islam, der Gotik zur Entstehung verhalf. Und es scheint, dass wir heute an einem ähnlichen Zeitpunkte stehen, da nach dem Weltkrieg der materialistisch expansive europäische Geist trotz aller Fortdauer kriegerischer Entladungen vor einer entscheidenden Richtungsänderung steht, und diesmal ist es der ferne Osten, der seine ergänzenden und befruchtenden Ströme zu uns herüberzusenden beginnt.

Nun dürfen wir uns nicht darüber täuschen, dass trotz aller Bereitschaft zur Aufnahme der östlichen Einflüsse eine tiefe Kluft zwischen den beiden Kulturkreisen vorhanden ist, die sich vielleicht nie wird ganz überbrücken lassen. Gar vieles vom Osten, das heute Mode in Europa ist, verdankt seine Popularität einem prinzipiellen Missverständnis; so herrschen z. B. in der Allgemeinheit über den Buddhismus ganz falsche Vorstellungen, sonst würde man nicht ästhetisch über ihn schwärmen.

Ehe wir daher auf die Anregungen eingehen, die uns, der Osten bringen kann, verlohnt es sich wohl, einen Blick auf die Unterschiede der westlichen und östlichen Geistesart zu werfen, um daraufhin uns zu besinnen, was unter den vorhandenen Umständen sich tun lässt.


Unser europäisches Geistesleben ist gekennzeichnet durch den Drang nach außen. Daher kommt seine hauptsächliche Beschäftigung mit der Welt der Objekte. Hier Umgestaltungen, Beherrschungen vorzunehmen, ist das Ziel. Objekte werden beherrscht durch Gewalt, indem man die kausalen Gesetze kennenlernt, denen sie unterworfen sind. Denn das Geschehen auf diesem Gebiet kann am besten mechanisch begriffen werden unter Voraussetzung einer atomistischen Struktur der Materie.

Diesen Voraussetzungen entspricht nun auch tatsächlich die moderne europäische Kultur, und soweit das Anwendungsgebiet dieser Prämissen geht, verdankt sie ihnen ihre ungeheuren Fortschritte auf dem Gebiet der mathematisch-mechanischen Wissenschaften und der Technik im weitesten Sinn. Es liegt in der Natur solcher Voraussetzungen, dass, je größer die erzielten Erfolge sind, desto einseitiger die Anschauungen auch auf die Gebiete angewandt werden, für die sie nicht geeignet sind. So erklärt sich das Versagen des europäischen Geistes auf dem Gebiet der persönlichen Kultur und der gesellschaftlichen Organisation.

Europa hat aus seinen Menschen lauter Fachleute gemacht, deren Stärke eine immer weitergehende Spezialisierung war.
Fachleute sind aber immer auf allen nicht zu ihrem Fach gehörigen Gebieten Atommenschen und also Massenmenschen. So allein erklärt sich z. B. die vollkommene Hilflosigkeit selbst unserer bedeu¬tendsten Gelehrten und Kirchengrößen, als der Weltkrieg ausbrach, und der betrübende Zusammenbruch der Organisation der Wissenschaft und der Religion als übernationaler Größen. Das führte aber noch weiter, indem auch für das Zusammenleben der Menschen schließlich die Gewalt als letzte Instanz betrachtet wurde. Das Ziel der europäischen Gesellschaftsorganisation war der Imperialismus. Imperialismus ist Gewaltpolitik, und indem nun dieses Ziel von annähernd gleich starken Mächtegruppen verfolgt wurde, mußte als Resultat mit Notwendigkeit der Weltkrieg sich ergeben, durch den die Gewaltpolitik praktisch ad absurdum geführt ist. Es handelt sich hierbei um eine ganz einheitliche Eigentümlichkeit des modernen europäischen Geistes.

Die Gefühle der Abneigung und des Hasses, die zwischen den verschiedenen Gliedern dieses Kulturkreises herrschen und die uns Angehörigen der Einzelstaaten den Blick für die wesentliche Einheit verbauen, ändern an dieser Tatsache so wenig, wie feindliche Brüder ihre Familienähnlichkeit jemals loswerden können. Wer von außen her die gegenwärtigen Verhältnisse in Europa überblickt, dem muss dieser Tatbestand mit überwältigender Deutlichkeit aufgehen und alle Erörterungen über die Kriegsschuld, die in Europa vielfach noch in vollem Ernst geführt werden, erinnern ihn an die gegenseitigen Beschuldigungen in der Kinderstube, daß der andere angefangen hat. Sehr bezeichnend waren in dieser Hinsicht die Ausführungen
Rabindranath Tagores in Darmstadt, da er dieser wesentlichen Einheit des europäischen Geistes sehr starken Ausdruck verlieh vom Standpunkt des Inders aus und da er den Standpunkt der gegenwärtigen europäischen Gewaltpolitik verglich mit den Versuchen der Natur, in den vorsintflutlichen Ungeheuern immer stärkere Angriffs- und Abwehrmassen einander gegenüberzustellen, bis schließlich diese ganze Linie als ungeeignet verlassen wurde und der gänzlich nackte Mensch ohne Homer und Zähne die Weltherrschaft antrat.

Stellen wir nun dem europäischen Geist den asiatischen gegenüber, so finden wir, dass auch er eine Einheit ist trotz der sehr ausgeprägten Nuancen, wie sie sich z. B. zwischen Indien und China finden. Der östliche Geist ist vorwiegend nach innen gewandt und daher mehr intensiv als expansiv. Für ihn ist der Mensch der wichtigste Gegenstand der Beschäftigung. Dadurch aber kommt er auf andere konstruktive Grundlagen. Europäisch ausgedrückt: statt von der Anschauung der Atome als letzter Einheiten, die durch mechanisch wirkende Kausalität bewirkt werden, geht er von der Anschauung der Zellen aus, die von übergreifenden Gesetzen organischer Zusammenhänge aus zur Reaktion gebracht werden.

Hierbei besteht nun freilich der Unterschied zwischen Indien und China, dass in Indien wohl die Methoden der immer weitergehenden Verfeinerung und Steigerung des Einzelnen hin zu den Tiefen des Weltenselbsts aufs raffinierteste ausgebildet, die Organisation der Gesellschaft aber, die ja nur als unwirklicher Schein aufgefasst wurde, fast vollkommen vernachlässigt wurde — Indien kennt keine Geschichte und keine einheimische Staatenbildung großen Stils —, dagegen in China neben der Ausbildung des Einzelnen als der Zelle der Gesellschaft seine Einordnung in den Gesamt-Organismus als wesentliches Ziel betrachtet wird. Und in diesem Gebiet der Menschheitsorganisation auf kulturell-ethischer Grundlage ist in China etwas geleistet worden, das sich so großartig nirgends sonst in der Geschichte wiederfindet und dem höchstens die katholische Kirche gegenübergestellt werden könnte, wenn wir sie unter dem Gesichtspunkt einer sozialen Organisation betrachten wollten; und selbst die Kirche war im Verlauf der Geschichte den Ketzern gegenüber vielfach hilfloser und darum intoleranter als der chinesische Weltstaat.

Es war vielleicht providentiell, dass die beiden Hälften der Kulturmenschheit sich verhältnismäßig unabhängig voneinander in ihren Sonderarten entwickeln konnten, die innerhalb des Menschheitskörpers, bildlich gesprochen sieh zueinander verhalten wie die rechte und die linke Seite. Aber insofern der einzelne Mensch in sich wenigstens der Möglichkeit nach Anteil an allem wesentlich Menschlichen sich anbilden muß, ist es gerade im jetzigen Zeitpunkt, da die bisherigen Schranken immer mehr fallen, von Wichtigkeit, dass ebenso, wie tiefgreifende Anregungen von der europäischen Kultur nach Osten zu ausgehen, auch östliche Anregungen bewußt zur Bereicherung der westlichen Seele aufgenommen werden. Gewiss, ein Rechtshänder soll und braucht sich nicht zum Linkshänder ninzuentwickeln, aber er soll dafür sorgen, dass seine linke Körperhälfte nicht durch vollkommene Ausschaltung der Verkümmerung und Rückbildung anheimfällt. Und um etwas Ähnliches handelt es sich gegenwärtig für uns auf seelischen Gebiet in unserem Verhältnis zum Osten.

Wenn wir Umschau halten, was uns der Osten hierzu Brauchbares zu bringen hat, um Menschen von heute, denen nicht quietistische Untätigkeit mystischer Innenschau zum Heil verhelfen kann, sondern die in ihrem Wesen bestimmt sind von dem Trieb zur Aktivität, so geht es uns im Blick auf manche östliche Erscheinung wie dem Menschen der Paradiessage, als Adonai Elohim die Fülle des Lebendigen an ihm vorüberführte: nicht vieles findet sich darunter, das Fleisch von unserem Fleisch und Bein von unserem Bein wäre. Darum gilt es, sich von der Fülle der Erscheinungen nicht ermüden zu lassen, sondern ruhig zu warten, bis das Hilfreiche, das Ergänzende emportaucht aus den Tiefen der Geschichte.

Zwei Richtungen sind es nun, die sich im chinesischen Geistesleben finden und die — richtig verstanden — Anregung bieten können für eine Auswertung in der europäischen Psyche.

Die eine Richtung beschäftigt sich mit der Bildung der Persönlichkeit. Während in Europa die Persönlichkeit häufig individualistisch geschieden wird von ihrer Umgebung und während andererseits von Herbart bis in die neueste Zeit immer wieder versucht wird, die einzelnen Elemente der Psyche als Atome nach Belieben umzuschichten und kausal zu beeinflussen, so geht der chinesische Bildungsgedanke hier andere Wege. Nicht äußere Ziele und Zwecke sind es, die als Antrieb für die Kraftentfaltung der Persönlichkeit dienen sollen, sondern die Ziele wachsen organisch aus dem eigenen Innern hervor. Ebenso ist auch nicht die individualistisch isolierte Persönlichkeit der Gegenstand der Bildungsarbeit, sondern die Persönlichkeit wird geschaut in ihrem Zusammenhang mit der Gesellschaft nach oben hin ebenso wie mit den noch ursprünglicheren organischen Einheiten, aus denen sie sich aufbaut wie der Körper aus Blut und Zellen.

Hier ist nun ein wesentlicher Unterschied zu konstatieren zwischen Lau Dsi
(Laotse)und Kung Dsi (Konfuzius). Für Lau Dsi handelt es sich letzten Endes wie für Rousseau einfach um Rückkehr zur Natur und Auswirkenlassen des Tao, das sich als Gesetz des Weltenlaufs ebenso dokumentiert wie als Sinn des persönlichen Lebens. Worauf es Lau Dsi ankommt, ist nur, dass man alle Willkür, alles Machen meidet. Denn Willkürlichkeit und Selbstmachen verdecken immer den großen Sinn des Weltlaufs mit kleinen und zufälligen Menschengedanken und bringen dadurch nur Unruhe und Not in Gesellschaft und Menschenherz. Und das umso schlimmer, je moralischer der Schein ist, den sich diese unruhvolle Vielgeschäftigkeit als Deckmantel umlegt. Nur keine Hintergedanken haben, keine Ziele und Zwecke: höchstes Leben macht nichts und hat keine Zwecke, niederes Leben »macht und hat Zwecke«, und am schlimmsten ist dabei die Moral, die nicht nur Zwecke hat für das eigene Handeln, sondern als Sitte und Ordnung auch noch ihre Zwecke den anderen aufnötigen will und sich damit als etwas durchaus Äußerliches erweist. Für den Weisen gilt es, das Leben gewähren zu lassen, sich gleichsam als Zuschauer selber in die Loge zu setzen, gespannt darauf, wie die Erlebnisse und Ereignisse sich entfalten werden aus den Tiefen des Unterbewu
sstseins heraus. Aber ebenso wie das Handeln meidet Lau Dsi auch das denkende Erkennen, alles Logische und Bewusste. Hier gilt nur Offenbarung aus den Tiefen des Weltsinnes und innere Schau der Wahrheit. Wie man sich zu dieser inneren Schau erzieht, dafür kennt der spätere Taoismus ein ausgeführtes Yogasystem, das dem indischen in nichts nachsteht.

Anders Kung Dsi und die Seinen! Obwohl auch er von den überrationalen Kräften, denen man Spielraum lassen muss, ebenso überzeugt ist wie Lau Dsi, so ist er doch andererseits der Meinung, dass die höhere Bildung etwas ist, das bewu
sst in die Hand genommen werden muss und das nach ganz bestimmten, aus der Sache selbst sich ergebenden Gesetzen sich auswirken soll. Das Büchlein von der höheren Bildung, »Die große Wissenschaft«, das sicher in der Nähe von Kung Dsi entstanden ist, faßss das folgendermaßen zusammen: »Der Weg der höheren Bildung führt zu der Entfaltung der ursprünglich guten Anlagen, zur Liebe zur Menschheit und dazu, dass man sich die höchste Tüchtigkeit zum Ziel setzt. Wenn man sein Ziel kennt, so gibt das Festigkeit des Entschlusses. Ein fester Entschluss allein führt zur Ruhe des Gemüts. Die Ruhe des Gemüts allein führt zum Frieden der Seele. Der Friede der Seele allein ermöglicht ernstes und besonnenes Nachdenken. Ernstes und besonnenes Nachdenken allein führt zum Gelingen.«

Ganz deutlich zeigt sich hier, wie erst ein Motiv aufgestellt wird, das auf den Willen wirken soll, so dass willensgesättigtes Nachdenken entsteht, das allein die plastische Kraft besitzt, etwas Wirkliches herauszuarbeiten. Das Motiv aber, welches das Triebwerk des Willens in Bewegung zu setzen bestimmt ist, soll kein äußerliches, dem Individuum heteronom Entgegentretendes sein, sondern es ist rein immanent. Nicht Umgestaltung, Umschichtung, »Bekehrung« ist das Ziel, sondern Läuterung des eigenen Wesens, in dem das Gute keimhaft in der Anlage schon enthalten ist. Und daneben die Liebe zur Menschheit, um auf diese Weise gleich den andern Brennpunkt für die Ellipse der Lebensgestaltung zu setzen: auch sie eine spontane Betätigung von Kräften, die im eigenen Innern schon von Anfang an latent vorhanden sind und nur ins Bewußtsein gehoben zu werden brauchen, um als motorische Kraft auf den Willen zu wirken. Das dritte Motiv endlich, die Zielsetzung der höchsten Tüchtigkeit, ist nicht ein besonderer Willensimpuls neben den anderen Motiven, sondern weist nur auf den dauernden Fortschritt hin, damit man nicht im Äußeren und Unvollkommenen irgendwie steckenbleiben solle. Was durch diese Zielsetzung erstrebt wird, ist die Befreiung aus dem bänglichen Schwanken, das immer da die Bewegung hindert, wo verschiedene Kräfte und Motive auf den Willen einwirken und ihn als Furcht und Hoffnung, jene größten Menschenfeinde, hin- und herzerren. So ist der erste Schritt zur höheren Bildung, daß man wollen lernt, indem man etwas zu wollen sich vorsetzt, das man wirklich wollen kann, in dem man fortmachen kann, ohne an ein Ende zu kommen, da das Ziel in der höchsten Tüchtigkeit liegt.

Durch diese Vereinheitlichung der Willensrichtung, die alle seelischen Kräfte sammelt und gefa
sst macht, wird nun die Kraft frei zu einem ernsten und besonnenen Nachdenken, das — nicht getrübt von unsachlichen Erwägungen — die Dinge so nimmt, wie sie sind, sie klar erkennt, beim rechten Namen nennt und dadurch nun die Elemente der Seele, die Gedanken und den Charakter, so bildet, daß dadurch die Persönlichkeit erzogen, gebildet wird.

Aber das Ziel der Bildung hört bei der Persönlichkeit nicht auf. Denn wie die Gedanken die Zellen sind, aus denen die Psyche sich aufbaut, so ist auf der anderen Seite die Persönlichkeit die Zelle, die in größeren organischen Zusammenhängen — im alten China waren es: Familie, Staat, Menschheit — notwendig mit anderen zusammengefasst werden muss und nur in diesen Zusammenhängen zur Wirkung kommen kann.

Hier kommen wir nun zu dem Problem der
Weltverbesserung, dem der Konfuzianismus durchaus positiv gegenübersteht. Gerade weil er die Welt in ihrer Vielheit von Einzelwesen nicht als trügerischen Schein auffasst, sondern als einen Organismus, der dem großen Gesetz des Organismus unterliegt:

»Kein Lebendiges ist eines,
Immer ist‘s ein Vieles.«


kann er eine Gegenleistung sehr wohl annehmen. Nur unterscheidet er sich prinzipiell von modernen Weltverbesserungstheorien, die durch eine Majorität von Einzelnen neue Einrichtungen beschließen wollen, von denen sie das Heil erwarten. Konfuzianismus erwartet nichts von Einrichtungen als solchen, aber alles von den Persönlichkeiten, die hinter den Einrichtungen stehen und sie mit der Kraft ihres Geistes beseelen. Die besten Einrichtungen, wenn sie nicht mächtig gemacht werden durch das lebendige Wirken einer Persönlichkeit, das durch sie spricht, sind tot und verursachen nur Schiebungen, Übertretungen, Betrug.

Wie aber kann die Persönlichkeit so Großes bewirken, da sie doch in der Menge der zahllosen Individuen verschwindet? Wie vermag sie Einfluss auszuüben, es sei denn durch die Suggestivkräfte von Furcht und Hoffnung, mit denen sie eine Partei an sich fesselt, die nun ihrerseits die Grundlage ihrer Gewalt ist, durch die sie ihren Willen einer größeren oder kleineren Gemeinschaft aufzuzwingen imstande ist? Der Konfuzianismus gibt darauf eine andre Antwort: Der Einzelne wirkt dadurch, da
ss er sich zur Führerpersönlichkeit entwickelt, aus der Nähe in die Ferne. Nicht nur durch das, was wir die Macht des Beispiels nennen, sondern durch überindividuelle, organische Kräfte. Durch seine klare, in einheitlichem Wollen zusammengefasste Persönlichkeit wird er zunächst im engen Kreis seiner Angehörigen und Freunde ganz unwillkürlich einen Einfluss ausüben, durch das Schwergewicht seiner Persönlichkeit, das die andern in seine Kreise zwingt. Und indem nun die engen Kreise vom Rhythmus seines Lebens erfasst werden, überträgt sich die Bewegung organisch von Stufe zu Stufe.

Das Medium dieser Übertragung sind feste Sitten, die sich unter dem Einfluss von Führerpersönlichkeiten bilden. Denn die Sitte unterscheidet sich von den Gewaltmaßregeln dadurch, dass sie ohne äußeren Zwang und darum ohne Widerspruch von der Menge befolgt wird, wenn sie ihr durch irgendeinen Umstand befolgenswert erscheint. Der Nachahmungstrieb der Menschen ist groß, wie sich ja auch in Europa zeigt in allen Dingen, die sich auf die Mode beziehen. Aber während in Europa die Mode auf Äußerlichkeiten der Kleidung und des Benehmens sich beschränkt, wird in China derselbe Zug der suggestiven Beeinflussbarkeit der Menschen ausgenutzt, um sie auf ein höheres Niveau des inneren Anstandes zu heben, zu veranlassen, dass es Sitte wird, das Rechte zu tun, weil es sich so gehört und weil man »das Gesicht« verlieren würde, wenn man von dem abwiche, was anständig ist und für den Gentleman zum Selbstverständlichen gehört.

Freilich haben die Massen in der Schaffung derartiger Sitten kaum irgendwelche Initiative. Der Mensch ist nach konfuzianischer Anschauung wohl gut in seinem eigentlichen Wesenskern, aber der zeigt sich nicht, wenn man sich einfach gehen lä
sst und den Stimmungen und Neigungen folgt, sondern nur durch innere Straffheit und Anspannung, wie sie Führernaturen in sich zu erzeugen fähig sind, die dann derartigen Richtungen auch die Spannkraft verleihen können, dass sie mit suggestiver Überzeugungskraft sich durchsetzen.

Aber wenn so die konfuzianische Gesellschaftsanschauung auf der einen Seite streng aristokratisch ist und nur der Beste, der »Edle« imstande ist zu leiten, so ist sie doch andererseits nichts weniger als autokratisch. Nicht eine stumpfe, unterworfene Masse, von wenigen Herrenmenschen geknechtet, ist das Ziel, sondern ein einheitlicher Organismus, der vom selben Blut durchströmt wird. Denn nur wenn die Führerpersönlichkeit im Volkskörper wurzelt, wenn sie mit dem Volke fühlt und denkt, wenn sie populär ist im höchsten Sinne des Worts, nur dann vermag sie durch ihre Anregungen zu wirken. Daher die Ehrfurcht vor dem Volk, vor den armen niedrigen Massen, in deren Instinkten die Stimme des Himmels sieh äußert. Man kann nichts gegen das Volk, sondern muss in Fühlung mit ihm sein, um zu wirken. Dieses Gefühl der Solidarität war denn auch in China in allen Blütezeiten sehr stark, und dies Gefühl, das darauf beruht, dass China trotz eines dauernden Auf- und Absteigens der Einzelnen und Familien doch ein einheitlich geschichtetes Bauernvolk geblieben ist, war der Grund für die ungeheure Dauer dieser in sich gefestigten Menschenkultur.

Wenn wir nun die Augen auf Europa und die heutige Lage richten, so ergibt sich natürlich eine ungeheure Fülle und Kompliziertheit der Verhältnisse, die es verhindert, dass solche Grundsätze im ganzen einfach übernommen werden können. Aber das Heil wird auch für Europa darin bestehen, da
ss die Selbstbesinnung, die wir brauchen, bewirkt, dass neben der Außenwelt, den Dingen, der Technik, den Institutionen wieder die Innenwelt, die Menschen, die Lebenskunst, die Organisierung in den Blickpunkt des Bewusstseins treten. Das ist Licht aus Osten, dessen wir bedürfen. S.3-18
Aus: Richard Wilhelm, Weisheit des Ostens, Deutsche Reihe, Band 155, Eugen Diederich Verlag Düsseldorf/Köln


Tod und Erneuerung
Nach der chinesischen Weltauffassung sind es zwei polare Gegensätze, die alles erscheinende Dasein bedingen, die Gegensätze des Lichten und des Schattigen, Positiven und Negativen, Yang und Yin. Sie gehen auch in das Metaphysische hinüber und geben uns da die Gegensätze von Leben und Tod. Es ist nicht Zufall, dass in einer der ältesten chinesischen Urkunden unter dem Glück, das dem Menschen verheißen ist, auch das steht, dass er einen Tod findet, der das Leben krönt, seinen Tod, und dass unter dem Unglück, das den Menschen bedroht, das schlimmste ein unzeitiger Tod ist, ein Tod, der das Leben zerreisst, statt es zu vollenden. So sehen wir, dass gerade diese dunkle Seite, die das Licht begleitet, nicht nur etwas Negatives ist, das dem Leben gegenübersteht, sondern dass von ihrem Vorhandensein und von ihrer Gestaltung zugleich das Lichte der Lebensseite bestimmt wird. Es ist nicht nur Vorsicht oder Aberglaube, dass die Alten niemand vor seinem Tode glücklich preisen wollten, sondern es ist tatsächlich so, dass bis auf einen gewissen Grad das Leben seinen Sinn bekommt eben durch das, was außerhalb des Lebens steht, durch dieses dunkle Etwas, dem wir entgegengehen.

Wenn wir diese Seite ins Auge fassen wollen, so bedarf es dazu eines gewissen Mutes, denn es hat eigentlich niemand ein Recht, vom Tode zu reden, der den Tod noch fürchtet, und wir müssen uns daran gewöhnen, diese Furchtlosigkeit in uns zu erziehen, die bereit ist, alles, was uns begegnet, ins Auge zu fassen und mit allem, was die Zukunft bringt, sich auseinanderzusetzen.

Fragen wir nun: Was hat uns China zu diesem Problem des Todes zu sagen? Das Problem ist von Anfang an etwas anders gestellt als in Europa. Früher wurden in Europa Leben und Tod einander gegenübergestellt als zwei Abschnitte der Zeit von ungleicher Länge: ein ziemlich kurzes Leben, das 70, 80 oder auch 100 Jahre währte, das einmal einen Anfang in der Zeit nahm und das trotz seiner Kürze doch von prinzipieller Bedeutung war, denn von ihm hing es ab, ob man für alle Ewigkeit, d. h. eine Zeit ohne Aufhören, entweder in den Himmel oder in die Hölle kommen sollte. Diese Auffassung, die wohl ursprünglich persischem Glauben entspringt und dann gleichzeitig mit gewissen platonischen Einflüssen auch im Christentum Aufnahme gefunden hat, wird in Europa heute allgemein als unbefriedigend empfunden, ohne daß wir im allgemeinen etwas anderes an ihre Stelle zu setzen hätten. Man bejaht die eine Hälfte, nämlich das kurze Leben auf dieser Erde, als Wirklichkeit und steht der anderen Hälfte, nämlich dem, was nachher kommt, zweifelnd gegenüber. Im Osten nun ist der Begriff der Wirklichkeit etwas anders auf diese beiden Hälften verteilt. Die eine Hälfte, die uns so wichtig erscheint, das Leben, ist im Osten gleichsam ihres grellen Sonnenlichtes beraubt. Sie ist nicht so real wie bei uns. Denn Wirklichkeit bedeutet im Osten letzten Endes doch nur Erscheinung, nur eine Wirklichkeit innerhalb der polaren Entzweiung, die oben erwähnt wurde. Und wenn auf der einen Seite das Leben nicht so massiv ist, so ist auf der anderen Seite auch die schattenhafte Welt des Todes nicht etwas so rein Negatives, sondern die Nacht ist hineinbezogen in den großen Zusammenhang von Leben und Tod. Das geht so weit, daß Leben und Tod im gleichen Maße zur Welt der Erscheinung gehören und das Wesen jenseits von beiden ist.

Es ist natürlich im Osten die Annahme ganz allgemein, daß das, was einen Anfang hat, auch ein Ende nehmen muß. Das Leben, das in der Zeit begonnen hat, wird auch in der Zeit wieder enden. Aber ebenso wird, was ein Ende hat, auch wieder einen Anfang nehmen. Das Leben, das in der Zeit endigt, wird auch in der Zeit wiederbeginnen. Es ist hier der Gedanke des Kreislaufs ausgesprochen, dieses Kreislaufs, der so, wie er Tag und Nacht in gleichem Maße umfängt, auch Tod und Leben in sich faßt. Dieser Kreislauf ist uns ja auch in der ganzen organischen Natur geläufig. Wenn wir im Herbst die Blätter fallen sehen und die Säfte sich zurückziehen aus den Endigungen der Zweige, so wissen wir gewiß: es ist das ein Ende, dem ein neuer Anfang folgen muß; wenn die Sonne zurückkehrt, wenn der Frühling wieder kommt, so werden die Säfte wieder emporsteigen, und neue Blätter werden hervorsprießen an der Stelle, wo die alten gefallen sind.

Wenn wir diese allgemeine Anschauung von Tod und Leben, die dem fernen Osten geläufig ist, zugrunde legen, so kommen wir nun auf verschiedene Lösungsversuche zu sprechen, die dem menschlichen Leben einen Sinn geben sollen. Zuerst die konfuzianische Auffassung: Konfuzius selbst hat natürlich über diese Dinge auch nachgedacht, aber er hat sich gehütet, viel darüber zu reden. Als ein Jünger ihn über den Tod fragte, sagte er:

»Du kennst das Leben noch nicht, wie willst du den Tod kennenernen? Warte, bis du tot bist, so wirst du es von selbst erfahren.«


Ein anderes Mal sagte er, als ein Jünger ihn fragte, ob die Toten Bewußtsein haben:

»Wollte ich sagen, die Toten haben Bewußtsein, so wäre zu fürchten, daß ehrfürchtige Söhne und gehorsame Enkel die Lebenden zu kurz kommen ließen um der Bestattung der Toten willen. Wollte ich sagen, die Toten haben kein Bewußtsein, so wäre zu fürchten, daß ungeratene Söhne ihre Eltern unbestattet liegen ließen.«

Darum ist der Standpunkt des Konfuzius, daß man das Volk in diesen Dingen im Zweifel, in der Spannung läßt, damit nicht dogmatische Glaubensvorstellungen das Verhalten bestimmen, sondern die persönliche Würde, der innere Imperativ es ist, der die Handlungen der Menschen zum Rechten lenkt. So sehen wir, daß Konfuzius diese Fragen im allgemeinen ablehnte. Er wollte kein Dogma aufstellen, sondern er wollte die sittliche Handlungsweise des Menschen ganz frei gestalten, sie loslösen von den beiden großen Menschenfeinden: Furcht und Hoffnung.

Dennoch kann man nicht sagen, daß im Konfuzianismus keine Anschauung über den Tod vorhanden gewesen wäre, sondern es finden sich ganz deutliche Vorstellungen davon, und es ist nur Unkenntnis, wenn man lange Jahrhunderte geneigt war, an Konfuzius nur den Rationalisten zu erkennen, der mit einer gut bürgerlichen, etwas hausbackenen Moral die Millionen der Chinesen durch die Jahrtausende geführt habe. Immer wieder taucht dieses Bild des Konfuzius auf, es ist beinahe unzerstörbar. Das kommt wohl davon her, daß in der Zeit der Aufklärung Konfuzius falsch verstanden nach Europa importiert wurde und daß dieses falsche Bild, das seinerzeit sehr hoch geehrt wurde, mit den veränderten Zeiten auch gering geachtet wird.

Was sind nun die Anschauungen des Konfuzianismus über den Tod? Wir finden sie in den Anhängen zum Buch der Wandlungen, die auf Konfuzius und seine Schule zurückgehen. Hier finden wir die Vorstellung, daß es innerhalb der Welt der Erscheinungen ein Polares gibt, man könnte es bezeichnen mit Himmel und Erde oder mit Licht und Dunkel. Von diesen beiden Prinzipien heißt es:

»Den Blick nach oben gerichtet im Betrachten der Figuren am Himmel, den Blick nach unten gerichtet im Erforschen der Linien der Erde: so erkennt man die Verhältnisse der dunkeln und der lichten Welt. Indem man dem nachgeht, wie die Anfänge zum Ende zurückführen, erkennt man die Prinzipien von Tod und Leben. Indem Same und Kraft zusammentreten, bilden sich belebte Wesen, indem der Animus entschwebt (und die Anima zur Tiefe sinkt), entsteht der Verfall (des Lebens) : Daraus erkennt man die Umstände der Geister und Dämonen.«

Das Zusammentreten von Samen (dem Bildhaft-Ideenmäßigen) und Kraft (dem Stoffhaft-Gestaltgebenden) bewirkt die Entstehung belebter Substanz. Auf der anderen Seite haben wir etwas davon Verschiedenes, es ist das entstehende Bewußtsein (Animus, Hun), und dieses entstehende Bewußtsein enthält gleichsam präformiert ein Urbild dessen, was der Mensch ist. Und indem nun dieses präformierte Bewußtsein, dieses Geistige, sich mit der Natur (Kraft) vereint — nicht so, daß sie sich mischen würden, sondern daß sich eine polare Spannung bildet, die eine Art Rotation hervorruft —, entsteht das seelische Leben. Das seelische Leben bewegt sich also dauernd um diese beiden Pole, um den Pol des Bewußtseinhaften und um den Pol des Krafthaften. Und diese Bewegung zieht die Elemente an sich heran und gestaltet sie zu einer Form, die diesem Wesen entspricht. Charakteristisch ist nun, daß dem ganzen Leben diese Doppelheit zugrunde liegt. In dem Moment, heißt es einmal, wo das Kind den ersten Schrei tut, da trennen sich die beiden Prinzipien, die vorher im Mutterleib noch vereint schlummerten, und finden sich das ganze Leben nie wieder.

Das Bewußtsein ist von da an das Sehende, das Wissende. Es ist auch weiter abwärts das Empfindende und in der tiefsten Tiefe das Fühlende. Von da aus reicht es in das untere Gebiet hinein, in das Kraftgebiet des Organischen. Aber das Organische ist dem Bewußtsein nur indirekt zugänglich, es ist keineswegs ein willfähriges Werkzeug, sondern es ist ein Werkzeug, mit dem der Geist, der zwar das höhere ist, aber das Machtlosere, zu kämpfen hat. Von hier aus erkennen wir deutlich, wie wir es zu verstehen haben, daß das Bewußtsein und die Kraft sich wieder trennen. »Der Animus entschwebt, und die Anima sinkt zur Tiefe.« Das ist der Tod. Und im Moment des Todes, da nehmen die beiden Prinzipien einen anderen Aspekt an. Während des Lebens führen sie eine täuschende Einheit im Leibe: das, was wir Person nennen (persona, eigentlich die Maske), das ist im Chinesischen der Leib. Der Leib ist das Einheitsband der verschiedenen seelischen Kräfte, die im Menschen tätig sind. Aber innerhalb dieses Bandes sind sie immer als verschiedene Kräfte tätig, und nur dem Weisen gelingt es, die Harmonie dadurch herzustellen, daß er seinen Standpunkt im Zentrum dieser Bewegung nimmt.

Beim Tode zerfällt der Leib, und damit hört auch die Täuschung der Einheit auf. Es heißt einmal im Buch der Urkunden vom Tode eines Fürsten: »Emporschweben und Hinabsinken«. Die beiden Prinzipien sind so beschaffen, daß das eine, die Körperseele, die anima (Po), hinabsinkt und das andere, das Geistnahe, der animus (Hun) hinaufsteigt. Beide Elemente trennen sich, und was herabsinkt, das gerät in den Zustand der Auflösung. Mit dem Körper löst sich auch die anima auf. Aber diese Auflösung bedeutet nicht einfach Vernichtung, sondern ebenso wie die körperlichen Bestandteile in der Verwesung zwar Umschichtungen unterliegen, aber nicht verschwinden, ja wie sie vielleicht sogar noch organische Verbindungen bilden, die dann wieder von neuem Organischem aufgenommen werden, ehe sie ganz abgebaut sind, so nimmt diese Anschauung an, daß dieses Körperseelische auch aus Einheiten anderer Art bestehe, die nicht ganz abgebaut werden, sondern zwar auch hinuntersinken mit den Stoffen, in denen sie einst gewaltet haben, und dann natürlich keine Persönlichkeit mehr sind, aber doch noch irgendwie als Fähigkeiten, als Tendenzen oder als Kräfte gedacht werden können. Freilich, mit den körperlichen Elementen zerstreuen sich auch diese psychischen Elemente und sind bereit, zu neuem Werden zusammenzutreten. Dieses Werden ist sehr einfach zu denken:

Der Kreislauf des Lebens nährt sich von den abgebauten Resten des Todes, und auf diese Weise gehen die organischen Bestandteile in neues Leben wieder über. Das bringt nun mit sich, daß in China die Vorstellung herrscht, daß die Seele des Landes es ist, die die Menschen durchdringt. In diesen Lebensbestandteilen, die in die Erde gehen und aus der Erde wieder hervorkommen, sind Kräfte, die auch die Bildung der Menschen beeinflussen. Es ist wie ein Lebensreservoir, das dem Ganzen eine deutlich bestimmte Atmosphäre verleiht, so stark, daß die Gestaltungskraft des Gestorbenen, aber organisch noch nicht ganz Abgebauten, sogar die Kraft der Rasse im europäischen Sinne noch übertrifft.

Es wird selbstverständich auch in China die Erbmasse von den Eltern her mit in Betracht gezogen. Aber die Erbmasse wird immer wieder verknüpft mit dem großen Bestand der uralten Ahnen, die in diesem väterlichen Boden ruhen. Daher auch der Aberglaube, daß der Chinese in seiner Heimat beerdigt werden will. Wo er herstammt, nicht nur in seiner körperlichen Gestaltung, sondern auch in seinem psychischen Aufbau, dahin will er wieder zurückkehren. Und so sehen wir, daß selbst solche Chinesen, die alles Chinesentum abgestreift haben und im Ausland Dienste tun, ihren letzten Groschen ersparen, damit ihre Leiche in die alte Heimat zurückgebracht werden kann. Daher auch das oft krankhafte Heimweh, wenn der Chinese von der Heimat fern ist, wenn er losgelöst ist von dem mütterlichen Boden, der ihn hält und trägt, daher auch die ekstatische Freude, wenn er wieder zurückkehrt. Ich war mit dem Dichter Hsü Tsemou einmal in China zusammen, als er von einem jahrelangen Aufenthalt in Europa wieder in seine Heimat zurückkehrte, und werde nie vergessen, wie er in die Worte ausbrach: »Hier diese Erde, hier diese Flüsse, hier diese Bäume, das ist mein Fleisch und Blut, davon bin ich genommen, davon lebe ich, und jetzt bin ich wieder daheim!« Man sieht, wie hier Tod, Verwesung und Leben einen Kreislauf bilden, der nicht theoretisch gelehrt, sondern unmittelbar empfunden wird.

Nun aber ist außer dieser vegetativen Seele, diesem körperlich Lebenden, noch eine andere Seele da, die ich mit animus bezeichne; ich will nicht sagen das Höhere, denn damit bekommt die Sache schon eine Wertung, sondern das Intellektuelle, das Geistige oder noch deutlicher: das der Aufnahme des Geistes Fähige. Denn Geist ist an sich etwas, das der Mensch nicht aus sich produziert, sondern das er erst erwerben muß im Laufe des Lebens. Und vielleicht ist das Leben eben dazu da, daß es vergeistigt wird. Dieses Etwas enthält nach konfuzianischer Anschauung nach dem Tode zunächst noch eine Art von Bewußstsein.

Es ist nicht so, daß beim Eintritt des Todes nun alles aus wäre, sondern, wie der Körper sich nicht sofort auflöst, sondern zunächst seine Form behält, so auch das Psychische. Die beiden Elemente trennen sich: das eine bleibt beim Körperlichen, und das andere löst sich vom Körperlichen los, ist aber noch irgendwie mit dem Körperlichen verbunden, so daß es selbst noch eine gewisse Art von Wahrnehmung hat, daß der Tote z. B. noch hört, was man in seiner Anwesenheit spricht — weshalb es in China üblich ist, in einem Totenzimmer nicht üble Worte zu reden, sondern alles so zu reden, daß es gleichsam in Gegenwart des Toten geschieht, daß er ruhig sein kann und Zeit gewinnt, um diese Loslösung vom Körperlichen zu vollziehen.

Es ist eine dynamische Auffassung allgemein in China üblich. In China unterscheidet man überhaupt nicht so massiv »Substanz«, sondern das, was wir Substanz nennen, ist in China viel eher ein Energiezustand.

Indem also der Geist nicht etwas ist, das substantiell besteht, aber auch nicht etwas, das nicht besteht, sondern sozusagen eine Bewußtseinstendenz, so hat er natürlich ein etwas prekäres Dasein, wenn er nicht im Laufe des Lebens sieh so konzentriert hat, daß er gleichsam um sich herum einen feinen Leib gebaut hat, einen Leib aus Gedanken und Werken, einen Leib geistiger Art, der ihm nun einen Rückhalt gibt, wenn er sich von dem Körper, der bisher sein Gehilfe war, loslösen muß, weil er hier keine Herberge mehr findet. Dieses Psychische ist zunächst etwas sehr Zartes, und nur bei höchsten Weisen hat es in sich selbst einen Halt über den Tod hinaus.

Bei den gewöhnlichen Menschen muß von den Hinterbliebenen dafür gesorgt werden. Hierin liegt der Sinn der Ahnenopfer. Das Opfer, das den Ahnen dargebracht wird, hat eben die Bedeutung, daß man durch frommes Gedenken dieses Psychische des Verstorbenen gleichsam in Lebendigem wohnen läßt Jeder gute Gedanke, der an den Hingegangenen entsandt wird, gibt ihm eine Kraft und bewahrt ihn vor dem Zerflattern ins Nichts.*
* Es ist das ein Gedanke, der z. B. bei Fechner sich in ganz ähnlicher Weise findet, der ja die ganze Unsterblichkeit darauf aufbaut, daß, wenn der primäre Leib zerfallen ist, der Leib der Unsterblichkeit eben in den Gedanken der Menschen, die an den Verstorbenen denken, sich bildet und so gleichsam ein Leib höherer Ordnung entsteht, in dem der Verstorbene fortleben kann.

Man nimmt in der Regel nicht an, daß dieses Leben, obwohl es mit dem Tode nicht zu Ende ist, ein ewiges Leben wäre, sondern es gibt ein allmähliches Verdämmern, einen zweiten Tod. Denn die Nachkommen gedenken ihrer Ahnen nur so lange, als noch eine lebendige Tradition von ihnen unter den Hinterbliebenen vorhanden ist. Darum werden in den vornehmeren Geschlechtern mehr Generationen Ahnenopfer dargebracht als bei dem gewöhnlichen Volk, das sein Gedenken über etwa vier oder fünf Generationen selten hinausführt. hier mag wohl noch ein anderer Gedanke mit hereinspielen, daß nämlich die Ahnen, nachdem sie eine Zeitlang im Jenseits gelebt haben, wieder hereinkommen in die Welt. Und zwar scheint in ältester Zeit eine Generationenfolge in der Weise angenommen worden zu sein, daß sich eine Generation jeweils in der übernächsten wieder verkörpert: der Großvater also z. B. im Enkel wieder erscheint. Selbstverständlich ist das nicht mechanisch aufzufassen, daß also der Enkel nun wirklich der Großvater in Person sei, sondern es ist sozusagen serienhaft zu verstehen, daß im Enkel etwas von der Generation des Großvaters lebt, etwas von der Art des Großvaters, aber allerdings nicht nur so, daß er ihm zufällig ähnlich ist, sondern daß wirklich von den Lebenskräften des Großvaters etwas in ihm wieder hervortritt. Daher kommt es, daß die Ahnen, wenn eine gewisse Zeit vergangen ist, gleichsam in das allgemeine geistige Reservoir zurückkehren und von da aus früher oder später wieder als Anregungen und Impulse des Lebens sich mit entstehenden Menschenleibern und Körperseelen vereinigen.

Das ungefähr ist die Vorstellung des Konfuzianismus. Eine Ausnahme ist nur darin gegeben, daß man die Menschen nicht als in gleicher Weise unsterblich betrachtet. Wer sein Sein harmonisiert bat und wer dieses Dasein so weit gemacht hat in seinen Wirkungen, daß von ihm Kräfte ausgehen - wir können sie magische Wesenskräfte nennen —, die umgestaltend, schöpferisch wirken, der wird im Tode nicht ein Zurückkehrender, ein Gui, sondern ein Schen, d. i. ein Wirkender, Göttlicher; er wird zum Heros, der mit dem Kulturganzen als solchem verbunden ist und der, solange die Kultur besteht, auch besteht, weil er gleichsam im Pantheon dieser Kultur ein dauerndes Leben führt. So ist z. B. Konfuzius immer noch als gegenwärtig gedacht, und nicht nur er, sondern auch andere Große, wie z. B. ein Yüo Fe, der treue Ritter ohne Furcht und Tadel. Aber das sind nur die höchsten Menschen, denen es gelungen ist, die Entelechie, die in ihnen angelegt ist, in eine dauernde Rotation zu versetzen dadurch, daß sie im Kulturzusammenhang schöpferisch verwurzelt bleiben.*
Auch Goethe hat übrigens diesen Gedanken einmal ausgesprochen, indem er sagt, daß er überzeugt sei, daß wir nicht in gleicher Weise unsterblich seien.

Von hier aus einen Schritt weiter kommen wir, wenn wir den Taoismus uns vergegenwärtigen. Der Taoismus sieht im Menschen nichts, das vom übrigen Leben wesentlich verschieden wäre. Er sieht nur eine besondere Spezies des Lebens im Menschen, eine vielleicht etwas lästige Spezies, weil sie mit dem zweifelhaften Geschenk des Bewußtseins begabt ist und daher die Fähigkeit hat, Torheiten zu machen, während andere Wesen nur naturgemäß von selbst leben und sterben. Für den Taoismus ist das Problem ein etwas anderes. Für ihn ist der Lebensrhythmus einfach das Heraustreten und das Hineingehen: Heraustreten ist das geborenwerden, Hineingehen ist das Sterben. Aber dieser Rhythmus des Heraustretens und des Hineingehens vollzieht sich dauernd, und so sagt Lau Dsi:

»Alle Wesen treten mit Macht hervor. Ich sehe ihnen zu und schaue, wie sie wieder zurückkehren zur Wurzel.«

Diese Wurzel, die zugleich Samen ist, ist das Ewige, ist das Leben. Und wenn es heißt:

»Der Geist der Tiefe stirbt nicht, das ist das ewig Mütterliche das ewig Weibliche. Endlos drängt sichs und ist doch wie beharrend,«

so ist damit eben dieser Wasserfall des Lebens gemeint, der in der Sonne stäubt, aus immer neuen Tropfen sich zusammensetzt und doch in seiner Form beharrend ist, nicht weil die Tropfen beharrend wären, sondern weil die Bedingungen, durch die die Tropfen in ihre Bahn geleitet werden, dieselben bleiben. Und so ist die Seele des Menschen wie das Wasser, das vom Himmel kommt und zum Himmel steigt und geformt wird vom Tao. Das ist das Schicksal des Menschen.

Von hier aus erscheint das übermäßige Wichtignehmen von Leben und Tod eigentlich nur noch als Mißverständnis; so finden wir denn auch bei Dschuang Dsi, wie er dem Tode mit leichtem Herzen entgegensieht (Dschuang Dsi, Buch XXVII, Kap. 20). Und wir finden auch sonst bei den Taoisten, wie sie den Tod einfach als einen leichten Abschied betrachten. Denn wenn auch das Bewußtsein im Tode schwindet, so ist ja das Bewußtsein ihnen nicht das Höchste, sondern im Gegenteil: es ist die schwärende Wunde, an der man das ganze Leben über leidet, und wenn das Bewußtsein mit dem Tode aufhört, so ist es, wie wenn man einen an den Füßen Aufgehängten von seinen Banden löst. Dazu ist freilich eine Übertragung des Ichgefühls nötig. Solange ich mich mit dem vergänglichen Körper identifiziere, werde ich mit dem Vergänglichen dieses Körpers leiden. Denn ich stehe dann in dem Irrtum, daß ich im Tode vergehe, während nur die Bestandteile, die mich umgeben, sich wieder trennen. Darum ist für Lau Dsi und überhaupt im Taoismus das Problem das, daß man aus dem Vergänglichen heraus sein Ich erweitert auf immer weitere Kreise, auf die Familie, auf das Volk, auf die Menschheit, auf die Welt. Und schließlich: wer mit Sonne und Mond zusammenwandeln kann, der hat ein Dasein, das so lange dauert wie Sonne und Mond, und wer über alles Werden hinaus ist, der lebt ewig.

Es ist hier derselbe Aspekt wie im Konfuzianismus, nur losgelöst von den menschlichen Verhältnissen, übertragen auf das Gesamtleben der Natur.

Der Buddhismus geht noch einen Schritt weiter, indem er das Leben mit dem Leiden identifiziert. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, den südlichen Buddhismus darzustellen, der ja auch in Europa längst bekannt ist, sondern es soll nur der Rhythmus des Geschehens gegeben werden, wie er im nördlichen chinesischen Buddhismus sich findet.

Wenn der Mensch geboren wird, ist er nicht eine Substanz, sondern eine Zusammenfassung von Zuständen bewegter Materie. Es ist ungefähr wie ein Windwirbel, der Staub aufwirbelt. Der Staubwirbel scheint etwas zu sein, was im Raume besteht. Aber er ist in Wirklichkeit nichts, es ist nur die Beschaffenheit des Luftdrucks, die immer neue Wirbel verursacht. Und solange der neue Wind in den Wirbel hereinkommt, wird er auch neue Staubkörner aufwirbeln, und der Staubwirbel wird den Anschein eines dauernden Daseins erwecken. So ist der Mensch, solange er lebt. Er ist eine Wirbelbewegung, die zusammentritt aus den verschiedensten Ursachen körperlicher und psychischer Art und die, ohne daß sie Substanz ist, doch Dauer hat, weil eines das andere immer notwendig nach sich zieht: die Geburt zieht notwendig nach sich das Aufblühen, der Mensch nimmt Nahrung zu sich, er wächst, er wird erwachsen, es kommt die Liebe, dann kommt die Krankheit, es kommt das Alter, es kommt der Tod. Aber hier hört der Kreislauf nicht auf. Solange die Ursachen nicht erschöpft sind, die diesen Bewegungszyklus bewirken, wird er sich immer wiederholen, wenn er in die Sichtbarkeit eintritt, ebenso wie ein Wirbelwind wohl unsichtbar wird, wenn er an staublose Stellen kommt, aber neuen Staub aufwirbelt, wenn er wieder in staubige Gebiete eintritt.

Man nennt das Seelenwanderung oder Kreislauf der Geburten. Aber beide Ausdrücke sind nicht ganz genau. Im Tibetanischen herrscht die Auffassung, daß die Seele nach dem Tode nacheinander in drei verschiedene Zustände übergeht. Daher das seltsam Verklärte auf allen Totenmasken, wenigstens auf allen, die ruhig gestorben sind, nicht in Entsetzen und Erschütterung. Der Friede, den der Tod über nun Antlitz breitet, kommt daher, dass der Schein für einen Augenblick verschwindet und jenes Nichts, das doch jenseits von Etwas und Nichts ist, für einen Moment in den Gesichtskreis eintritt. Wenn es in diesem Moment nun dem Verstorbenen gelingt, dabei zu verharren, dann hat er das Nirwana erreicht. Aber das ist nur wenigen möglich.

Die meisten sinken dann eine Stufe tiefer, und da kommen Bewußtseinsbilder, wie Träume zunächst die guten: es erscheinen Gottheiten. Diese Gottheiten sind, wie ganz deutlich erklärt wird, nicht etwas, das für sich besteht, sondern diese guten Gottheiten sind nur Emanationen des eigenen Herzens, die nun geschaut werden, als wären sie außerhalb. Und nach den guten Gottheiten — es ist sehr interessant, wie der psychische Abbau sich vollzieht — kommen die schrecklichen Gottheiten. Aber diese schrecklichen Gottheiten sind auch nichts, das zu fürchten wäre. Es sind dieselben Kräfte wie die guten Gottheiten, nur unter anderem Aspekt gesehen. Wie jene Emanationen des Herzens, so sind sie Produkte des Gehirns. Beide sind Produkte des eigenen Innern und sind daher weder zu lieben noch zu fürchten, sondern sie sind eigentlich nur Versuchungen, die an den Menschen herantreten, um ihn wieder hereinzulocken in die Welt des Scheins. Dann kommt die zweite Stufe, da der Abbau weiter geht. Der Mensch wendet sich vom Vergangenen ab. Es kommt nun zu einer Auswirkung der Lebenstaten, zunächst auf psychischem Gebiet. Das sind die Hüllen und die Himmel. Es sind Zwischenstufen. Ewige Höllenstrafen kennt nur das Christentum, das hierin seinem Stifter am schrecklichsten untreu geworden ist.

Aber auch diese psychischen Wirkungen der Taten bauen sich allmählich ab. Die Seele verdämmert nun immer mehr und verliert immer mehr das Bewußtsein.

Aber selbstverständlich bleibt dieser Wirbel zunächst noch erhalten, nur wird er gleichsam nicht mehr genährt, es ist ein Luftwirbel ohne Staub; und das erregt in der Seele das Gefühl der Unseligkeit. Wer nicht den Eingang zur Rettung gefunden hat, kommt nun in den Zustand des Hungerns und Dürstens nach Existenz. Er fühlt sich aufgelöst, alles Körperliche ist verfallen, es hat sich eine Schicht um die andere von ihm gelöst, und doch hat der Durst nach Leben nicht aufgehört. So drängt er wieder nach neuer Existenz und naht sich wieder der realen Welt. Es kommen Wunschbilder.

Und wo ein Kind auf Erden gezeugt wird, da drängen sich diese hungrigen Seelen herbei und suchen den Eingang wieder durch den Mutterleib zu neuer Geburt. Denn wenn auch zur Geburt die Vereinigung des männlichen und weiblichen Pols im Körperlichen nötig ist, so gibt sie allein doch noch keinen Menschen, sondern es kommt im Moment der Vereinigung eine dieser existenzdurstigen Seelen dazu, die immer bereit sind, ins Leben wieder hereinzudrängen. Das ist auch der Grund, warum so viele unerwünschte Kinder kommen: die Kinder kommen nicht nach dem Willen der Eltern, sondern sie kommen nach dem Willen dieser unglücklichen Seelen, die hereinzudrängen bestrebt sind zu neuem Dasein, in wildem Wahn; denn es ist ja Wahn, was sie treibt.

Man kann oft in Europa hören, die Seelenwanderungslehre sei doch ungemein beruhigend, weil sie die Überzeugung verleihe, daß man später wieder auf die Welt komme. Das ist ein ganz unorientalischer Gedanke. Die Seelenwanderungslehre ist die große Last, unter der der Orient leidet. Denn nicht sowohl das Leben und das Glück des Lebens ist es, was in den Blickpunkt tritt, sondern der Tod. Sobald man wieder in dieses Leben hereintritt, steht am Ende wieder der Tod. Man wird also wiedergeboren zu immer neuen Toden, zu immer neuem Gräßlichem, Fürchterlichem, das man erdulden muß — bis endlich wieder die Lösung eintritt. Hier tritt nun die Karma-Idee hinzu, die darin besteht, daß diese Seelenwirbel sich naturgemäß die werdenden Leiber aussuchen, die ihnen am meisten gemäß sind. Der wiederverkörperte Mensch (der also nicht einfach eine Wiederholung des vergangenen ist, da das Körperliche sich aus ganz anderen Elementen und Formen zusammensetzt und nur die Impulse noch vorhanden sind) wird sich solche körperliche Fähigkeiten aussuchen, durch die er seine zentrale Richtung am besten verwirklichen kann. Daher kommt einer, der in diesem Leben Juwelen gestohlen hat, im künftigen Leben dazu, Juwelier zu werden, oder einer, der grausam war, wird im künftigen Leben vielleicht ein Löwe. Es ist das keineswegs so, wie wir uns das zu denken gewöhnt haben, daß es sich hier um Strafen handle. Das Karma ist in letzter Linie keine ethische Lehre, sondern es ist die Lehre, daß jede Tendenz gesetzmäßig sich zu steigern sucht und daß diese Steigerung sogar über das einzelne Dasein hinaus fortdauert, bis sie an den Punkt gelangt ist, wo die große Umkehr kommt. Dann erst wird sie erlöst, und dann erst hört der Wahn auf. Und wo der Wahn zu Ende ist, da kommt das Nirwana, da kommt der große Friede. Nirwana ist daher nicht etwas rein Negatives, sondern es ist nur ein Zustand, der höher ist als der Zustand innerhalb der polaren Spannung, der Einheitszustand, der eben deswegen von den Menschen, die ihr Wesen innerhalb des polaren Gegensatzes haben, sehr schwer oder gar nicht verstanden werden kann.

Diese Auffassung des Lebens als einer Bewegungstendenz, die vom Tode immer wieder unterbrochen wird, ist entschieden ein Problem von wissenschaftlich höchstem Interesse. Aber das Problem gewinnt einen ganz anderen Anblick durch die besondere Erscheinung, daß es sich hier nicht uni einen Vorgang handelt, den wir nur an Pflanzen und Tieren beobachten können, der nur in der Außenwelt oder auch innerhalb der psychologischen Erfahrung sich vollzieht, sondern daß das Leben und die Vorstellung des Todes mit ganz besonderen psychischen Akzenten verknüpft sind, die daher ihre besondere Bedeutung gewinnen, daß ich es bin, der lebt, daß ich es bin, der sich den Tod seines Lebens vorstellt. Und dieses Ich-Bewußtsein, das ist es, was der Frage nun die eigenartige Spannung verleiht. Denn es ist ohne weiteres klar, daß das Leben wie jede wirkende Kraft so beschaffen ist, daß in ihm selbst kein zureichender Grund für sein Aufhören vorhanden ist. Daher die Liebe zum Leben, die allem Lebendigen ganz natürlich innewohnt. Die Kraft, die das Leben zum Aufhören bringt, ist eine dem Leben widrige. Es ist ganz klar, daß das Leben sozusagen instinktiv sich vor seinem Aufhören fürchten und erschrecken muß, solange es eben Leben ist. Und nun ist der Mensch so organisiert, daß mit einem gewissen Umkreis dieser psychischen Erscheinung, die wir Leben nennen, nicht nur Bewußtsein verbunden ist, d.h sozusagen eine Spiegelung dessen, was in der Gehirnrinde und vielleicht auch noch in anderen Gegenden des Körpers vor sich geht, auf einer anderen unkörperlichen Ebene, die wir Bewußtsein nennen, sondern daß dieses Bewußtsein gerade mein Bewußtsein ist, daß wir Selbstbewußtsein haben.

Was ist das Ich? Es ist das größte Rätsel.
Wir können es vergleichen mit einem in der Zeit nicht ausgedehnten, aber in der Zeit sich vorwärtsbewegenden lichten Punkt. Was es ist, läßt sich nicht erklären, sondern nur erleben. Wir alle wissen, was das Ich-Erleben von allem anderen Erleben unterscheidet. Und dieses Ich ist nun geknüpft an einen Komplex von Lebensvorgängen und identifiziert sich mit ihnen. Ich bin mein Leib, ich bin die Summe oder die Harmonie — oder wie ich es bezeichnen will — der Vorgänge, die in meinem Leib als Lebensvorgänge in mein Bewußtsein eintreten. So ist die Liebe zum Leben nicht nur eine anonyme Kraft, sondern es ist meine Liebe zu meinem Leben, die das Problem von einer ganz neuen Seite beleuchtet, es ist meine Furcht, mein Widerwille gegen das Aufhören dieses Lebens, was nach einer Lösung sucht.

Wir wollen dabei möglichst kühl und strenge sein. Es handelt sich nicht darum, daß wir angesichts des Todes etwa große und gefühlsmäßig stark betonte Gedanken bekommen. Die helfen erfahrungsgemäß sehr wenig, denn das stark Gefühlsbetonte ist schließlich nicht notwendig etwas, das mit der Wirklichkeit übereinstimmen muß. Wir haben häufig die allerstärksten Gefühle, die mit der Realität in gar keiner Verknüpfung sind. Und es gibt vielleicht auch Menschen, die einen wunderschönen Tod gestorben sind, gleichsam auf Flügeln des Hochgefühls aus dem Bewußtsein ins Unbewußte hinüberschwebten und die darum den Sieg noch lange nicht gewonnen haben. Es handelt sich einfach um die Frage: Wie ist es mit dem Leben, wie ist es mit dem Tode? Haben wir eine Möglichkeit, den Tod zu überwinden? Und wenn wir eine solche Möglichkeit haben, welches sind die Wege, die uns in Wirklichkeit zu dieser Möglichkeit führen?

Um diese Fragen zu beantworten, ist eines vor allem klar: wir müssen die moderne Einstellung zum leiblichen Leben durchaus billigen. Die mittelalterliche Einstellung, die die Erde nur als Jammertal zu schauen gewohnt war und die sich aus dem Leben hinwegsehnte, war eine Art von Selbstbetrug, der sich natürlich nur dadurch aufrechterhalten ließ, daß an die Seite dieses Selbstbetrugs eine Phantasievorstellung von zukünftigen Himmeln trat, in die man aus diesem irdischen Jammertal zu schweben hoffte. Aber wir wissen heute, daß das, was wir sozusagen als Kapital in der Hand haben, eben unser körperliches Leben ist. Ein zweites, ein weiteres, haben wir nicht zur Verfügung. Wir wissen auch, daß in allen echten Religionen dieses Leben im Leibe, dieses Seelischleibliche, völlig Einheitliche eine große Rolle spielt. Es ist nicht etwa so, daß das nur ein moderner materialistischer Gedanke wäre; sondern auch vom ursprünglichen Christentum wissen wir, daß Gewicht auf dieses leibliche Leben gelegt wird auch für das Schicksal des Menschen nach dem Tode.

Auch im Buddhismus, der ja sein ganzes Ziel darauf abgestellt hat, daß man loskommt von allem, was Leben heißt, weil alles Leben nur Qual ist, ist die einzige Waffe in dem Kampfe, die dem Menschen zur Verfügung steht, eben auch nur dieses leibliche Leben. Es ergibt sich daraus eine Konsequenz, die im Osten auch immer gezogen worden ist, nämlich, daß wir das leibliche Leben zu schätzen, zu würdigen und zu pflegen haben. Es mag wohl sein, daß die Widersinnigkeit des Sterbens, die ja im Leben keinen Grund hat, in ältester Zeit und vielleicht nicht nur in ältester Zeit, sondern immer wieder dazu geführt hat, daß man einen Versuch anstellte, ob sich denn das Sterben nicht überhaupt abschaffen lasse, ob sich das Leben nicht einfach in infinitum fortsetzen lasse.

Diese Versuche, obwohl sie zum großen Teil rein logisch nicht widerlegt werden können, interessieren uns insofern nicht sehr, weil wir faktisch doch bis jetzt immer erlebt haben, daß alle, die diese Versuche machten, von den ältesten Zeiten her bis auf die modernste Zeit, doch schließlich den faux pas begangen haben, den »Unsinn des Sterbens« an ihrem eigenen Leibe erfahren zu müssen. Aber den Versuchen haftet doch etwas an, das sie vielleicht nicht ganz bedeutungslos erscheinen läßt. Wenn wir noch nicht so weit sind, daß wir uns mit klarer Rechenschaft gegenüber dem Tode des Bewußtseins rühmen können, daß wir das Sterben schon gelernt haben, daß wir schon so weit sind, daß wir sozusagen nicht schlampig, sondern sachgemäß sterben — ich sage: wenn wir noch nicht so weit sind, so müssen wir dafür sorgen, dass uns so viel Zeit wird, wie wir brauchen, um diese Etappe in unserem Lebenskreislauf zu erlangen.

Denn, wenn wir vorzeitig hinweggerafft werden, ist der Tod kein rechter Tod, und was darauf kommt, kann natürlich auch unmöglich etwas Richtiges sein. So sehen wir denn, daß in verschiedenen chinesischen Richtungen, im Buddhismus, im Taoismus und auch im Konfuzianismus der Sung-Dynastie Bestrebungen im Gange sind, das menschliche Leben zu verlängern, und zwar nicht nur über 70 oder 80 Jahre hinaus, sondern ganz bedeutend zu verlängern. Diese Bestrebungen gehen davon aus, daß eine genaue Beobachtung durch Introspektion an¬gestellt wird über die Vorgänge des Lebens und darüber, was das Leben fördert und was es hemmt. Und es scheint, daß dabei das Blutleben, das Leben im Blut, eine große Rolle spielt. Es heißt immer wieder, daß das Wasser für die Seele von Bedeutung sei und daß das Feuer des Geistes in dieses Wasser eindringen müsse, damit das Leben verlängert werde. »Wasser und Feuer bekämpfen einander nicht,« das ist ein alter magischer Spruch aus dem Buch der Wandlungen, der das Geheimnis des Lebens enthält.

Und es ist letzten Endes kein anderer Gedanke als der Gedanke der Taufe, die einerseits Wassertaufe ist und andererseits Taufe mit dem heiligen Geist und mit Feuer. So finden wir in den orientalischen Geheimreligionen eine Methode, die darauf gerichtet ist, das Leben dadurch zu verlängern, daß das Blut gesund gemacht wird, daß es von seinen Schlacken befreit wird und Stockungen und Hemmungen überwindet, so daß es ungehindert und dauernd fließt und eben durch den dauernden Fluß hinter der Zeit nie zurückbleibt. Denn das Blut ist für diese Vorstellung nicht bloß ein Gemenge chemischer Stoffe, sondern in diesem Blute ist eben das Seelische: »Blut ist ein ganz besondrer Saft.« Und wie dieses Blut, wenn es nach außen sieh vergeudet, die Seele mitreißt und wie, auch ohne daß das körperliche Blut sich nach außen ergießt, schon die innere Vergeudung dieses Lebensstoffes dazu beiträgt, die Seele zu zerstreuen und das Leben aufzuzehren, so ist dieses selbe Blut, dieser ganz besondere Saft, wenn er im Innern seinen ungehemmten Kreislauf vollzieht, eben das, was Kraft auf Kraft wirkt und was für den Menschen das Substrat der Seele, das Substrat des Lebens im Leibe ist.

Welche Methoden werden nun angewandt, durch Reinigung, durch Heiligung, durch Erneuerung des Blutes im Menschen das Leben zu verlängern?

Es gibt in China gewisse Meditationsübungen, die sehr interessant sind, wenn wir sie im Lichte neuerer Forschung betrachten. Die äußere Form, in der ihre Anweisungen enthalten sind, erinnert vielfach an alchemistische Rezepte. Es werden Mittel angegeben um die Perle des Lebens, die Goldperle, den Stein der Weisen, oder wie wir dieses Elixier nennen wollen, zu schmelzen. Aber wir dürfen uns unter dieser chinesischen Alchemie (auch wenn sie gelegentlich Arzneistoffe präparierte und diese Stoffe, soweit sie wirksam waren, keineswegs verschmäht wurden) nicht eine chemische Wissenschaft vorstellen, sondern es ist eine psychische Technik. Und zwar handelt es sich darum, gewisse psychische Zentren, die im gewöhnlichen Leben ruhen und eben durch ihr Nichtfunktionieren das Aufhören des Lebens bewirken, zu aktivieren dadurch, daß sich die Aufmerksamkeit darauf konzentriert. Was heißt nun »Konzentration der Aufmerksamkeit«?

Hier kommen wir auf ein Geheimnis der ganzen Praxis. Wir wissen, daß die Aufmerksamkeit unserem Willen unterworfen ist. Wir haben es in unserer Hand, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt zu richten, auf den wir sie richten wollen. Aber wir wissen auch, daß durch einen solchen Willensakt auf der anderen Seite wieder so unendlich viele Kräfte aufgebraucht werden, daß mehr als eine Hinlenkung kaum möglich ist. Die Aufmerksamkeit zu fixieren ist etwas, das in unserem Willen nicht liegt. Das heißt, wir können es vielleicht erzwingen, aber es wird dann eine unproduktive Aufmerksamkeit werden, und was dabei herauskommt, ist gleich null. Vielmehr ist zur Fixierung der Aufmerksamkeit eine von unserem Vorsatz unabhängige Führung notwendig. Denn, solange die Aufmerksamkeit nicht gerichtet wird, bedeutet sie keine Kraft. Nur eine gerichtete, eine gleichsam zusammengefaßte, konzentrierte Aufmerksamkeit bedeutet im psychischen Leben tatsächlich etwas Schöpferisches, eine Kraft. Und eine solche Aufmerksamkeit muß auf die Lebenszentren, auf dieses System von Aktivitäten, das das Blut im Gange erhält, gerichtet werden, damit sie aufwachen, sich in Bewegung setzen und so bewirken, daß das Leben aufs neue in Fluß kommt.

Hier ist nun der Punkt, an dem die magische Kraft des Bildes in der Praxis eingesetzt wird. Die Aufmerksamkeit läßt sich zwar nicht durch den Willen festhalten, aber sie läßt sich dadurch festhalten, daß ein Aufmerksamkeit heischendes Bild geformt wird. Dieses Bild kann verschiedener Art sein, es kann entweder eine Vorstellungssumme sein, ein in der Phantasie vorgestelltes visuelles Bild oder unter Umständen auch ein Lautbild, oder es kann eine Wortfolge sein, die nicht lautartig, sondern visuell geschaut wird; es gibt da verschiedene Möglichkeiten.

Auf alle Fälle ist aber für ein derartiges, Aufmerksamkeit erregende Bild notwendig, daß es Anziehungskräfte besitzt. Das ist die Magie der Meditation.


Und so versucht nun die Meditation, solche aktiven Bilder aufzubauen. Diese Bilder müssen von dem Meditierenden natürlich selbst aufgebaut werden, denn nur dann entsprechen sie seinem Wesen und nur dann besitzen sie, aus seiner Seele selbst genommen, die Kraft, seine Aufmerksamkeit festzuhalten. Sie müssen aber gleichsam nach einem bestimmten Grundriß entworfen sein, sie müssen in einer bestimmten Richtung gehen, und sehr viele dieser Bilder sind so allgemein, daß sie die meisten Menschen, oder zum mindesten Menschen eines Kulturkreises, ohne weiteres brauchen können. Durch solche Bilder, die Anziehungskraft auf das Bewußtsein ausüben, wirkt dann die Aufmerksamkeit konzentriert, und die Bilder werden so gelagert, daß sie mit diesen Lebenszentren in Verbindung treten, so daß die Aufmerksamkeit, auf dieses Bild gerichtet, sogar eine Wirkung auf das körperliche Leben ausübt und durch diese Wirkung dann Säfte produziert werden, die im Blute kreisen und die das Blut, das etwa stocken wollte, wieder mit neuer Lebensenergie versehen und auf diese Weise einen neuen Blutkreislauf erzeugen. Diese Übung ist mit Atemübungen verknüpft. Das alles sind aber rein technische Fragen, die uns hier nicht interessieren. Jedenfalls sehen wir, daß es sich im Prinzip darum handelt, durch Selbstanalyse, die sich nicht des Nachdenkens über sich selbst bedient, sondern des Zuwartens, das, was aus der Seele, aus dem Blut, emporsteigt, ganz subtil und allmählich zu schauen und dann die Kraftzentren seelischer Art zu bilden, die auf dieses Seelische zu wirken geeignet sind, und durch diese Suggestivkraft dann eine innere Erneuerung des Blutes zu bewirken.

Aber es kommt dazu ein anderes. Es scheint, daß in der Natur, im Kreislauf des Tages, im Kreislauf des Jahres gewisse Kräfte vorhanden sind, die nicht immer in derselben Stärke, doch von Zeit zu Zeit wie Flutwellen die Welt umkreisen. Es wird von dem Philosophen Mong Dsi z. B. gesagt, daß solche lebenerneuernden Kräfte in der Zeit vor dem Anbrechen des Tages besonders stark sind und daß sie besonders dann wirken, wenn der Mensch in einen ruhigen, tiefen Schlaf verfallen ist. Denn wenn er nicht diesen Tiefschlaf hat, so ist er nicht gelöst genug, um die kosmischen Kräfte in sich aufzunehmen. Aber diese Gelöstheit ist etwas, das nur durch die richtige Übung errungen werden kann, und indem der Mensch diese Gelöstheit hat, wird er fähig, die kosmischen Lebenskräfte aufzunehmen, gleichsam jede Nacht wieder die Schlacken des Tages hinwegzuspülen und neu erfrischt und gestärkt dem neuen Lebenstag entgegenzutreten. Und diese Technik geht noch einen Schritt weiter, indem man sich bewußt in den Zeitstrom hineinbegibt, nicht am Ufer steht und sich über die Vergangenheit und über die Zukunft besinnt, wobei Furcht und Hoffnung die Seele beunruhigen, sondern indem die Seele ihr ganzes Leben auf das Jetzt konzentriert, auf das Hier und Jetzt, indem man schwinden läßt, was schwindet, und kommen läßt, was kommt, so daß das Herz wie ein Spiegel ist, der frei von Staub ist, in dem die Dinge sich abspiegeln, wie sie kommen und gehen, und auf diese Weise immer die richtige Reaktion hervorrufen, ohne Nachbilder hervorzurufen. Es ist also das Bestreben, daß nichts von den psychischen Erlebniskomplexen verdrängt wird, sondern daß allen die Gelegenheit sofort gegeben wird, die nötige Reaktion hervorzutreiben, damit die giftigen Kräfte solcher Eindrücke ausgeschaltet werden.

So wird die Ruhe der Seele, die hier als Lebensstärke wirkt, bei Mong Dsi auf verschiedene Weise als möglich dargestellt. Es kommt auf die Menschen an. Aber wenn nach Mong Dsi diese Seelenruhe auch auf niedrigen Stufen möglich ist, so ist all diesen verschiedenen Arten das eine gemeinsam, daß man keine Aufspeicherungen des Psychischen unangenehmer Art duldet, sondern daß immer alles möglichst rasch wieder ausgeglichen wird. Denn unausgeglichene Spannungen bilden Verdrängungen, die im Unterbewußtsein hemmend wirken, so daß die Seele nicht zu dem freien Atemzug der dauern¬den Erneuerung aus den in der Natur vorhandenen Kraftquellen gelangen kann.

Das ist die Art, wie im Chinesischen das Leben verlängert werden soll. Es kommen dann noch gewisse Regeln hinzu, die sich mit der Trainierung auch des Körpers beschäftigen, die wir in unserem modernen Sport erfüllt sehen könnten, wenn im Chinesischen nicht eine wesentlich andere Art, die Sache zu betrachten, herrschen würde. Denn diese körperlichen Übungen dienen in China nicht dazu, einen Rekord aufzustellen. Diese Auffassung der körperlichen Übung würde in China im Gegenteil als lebenverwüstend betrachtet werden, weil auf dieses äußerliche Ziel, das nicht im Körper begründet ist, sondern in einer vagen Meinung der Leute, nicht nur körperliche, sondern auch seelische Kräfte in unverhältnismäßiger Menge verwendet werden. Aber davon abgesehen ist die körperliche Übung etwas, das auch in China gepflegt wurde, nur immer so, daß es nicht auf das materielle Was ankam, sondern auf das Wie. Die Harmonie war das Höchste auch bei diesen Körperübungen, nicht der Maßstab maß die Leistungen; ein Pfeil, der das Zentrum traf, war gut, auch wenn er die Lederscheibe nicht durchdrang, denn beim Schießen kommt es aufs Treffen an und nicht auf das Durchdringen den Fells, wie Konfuzius sagt. So sind körperliche Übungen mit einbezogen in diese Bestrebungen, das Leben zu verlängern, nur aber in dem Sinne, daß sie als harmonische Trainierung des Körpers zu seinen ihm innewohnenden Zwecken aufgefaßt werden. Was auf diese Weise erreicht werden kann, ist aber nur, den vorzeitigen Tod zu vermeiden, nicht früher zu sterben, als eben in der angelegten Lebenskraft begründet ist. Also sterben müssen wir so oder so.

Es besteht eine Vorstellung im Chinesischen, dass das Leben eine naturgemäße Grenze hat. Das sind die »himmlischen Jahre«, die zu erreichen dem Menschen vergönnt ist, wenn er das Leben nicht hemmt. Das Leben ist also aufgefaßt als eine in der Zeit ausgebreitete Größe mit einem Anfang und einem Ende. Man kann nicht sagen: dieses Leben ist vorbestimmt. Aber die Fülle, die Dauer des Lebens und auch der Rhythmus des Lebens ist angelegt vom ersten Moment an, wie etwa eine Kurve sich von den ersten drei Punkten an ihrem ganzen Verlaufe nach berechnen läßt. So wird dieses körperliche Leben auch als etwas durchaus Einheitliches aufgefaßt. Es ist nicht Zufall, wann der Tod eintritt, sondern jedes Leben hat eine von Natur gesetzte Schranke, die der Vitalität und der Rhythmik dieses einmal in die Zeit wie in den Raum eintretenden Lebens entspricht. Das ist weder ein Glück noch ein Unglück, sondern eine Tatsache, wie etwa die Tatsache der dreidimensionalen Ausdehnung unseres räumlichen Lebens, die von uns auch einfach hingenommen wird.

Vielleicht gibt es Menschen, die sind traurig, daß sie nicht einen Zoll größer sind, und einige möchten schlanker sein; aber das sind Unbequemlichkeiten, mit denen man sich abfindet, ohne daß sie zu einem Problem werden. Und so ist auch die Zeitdauer dieses körperlichen Lebens an sich gar kein Problem, wenn man sie richtig auffaßt. Aber hier kommt nun eben der Punkt, der zum Problem wird: daß ich Unendlichkeit will. Der Leib ist endlich, der Leib empfindet seine Endlichkeit nicht unangenehm, sondern er stirbt, wenn es Zeit ist. Aber der Leib hat sozusagen eine Innenseite, er hat Bewußtsein und stellt sich den Tod vorher vor, ehe er eintritt. Und diese Vorstellung des Todes ist es, die den Menschen seit uralten Zeiten immer wieder beschäftigt hat, die vielleicht eine der allerstärksten historischen Kräfte geworden ist. Wenn wir uns ausmalen, was alles aus diesem Gedanken an den Tod produziert worden ist, so ist es geradezu ungeheuerlich. Nicht nur die Pyramiden, nicht nur ganze Religionssysteme, nicht nur ganze politische Verfassungen der Menschen, nicht nur — und das ist das allermerkwürdigste — Kriege und Schlachten mit Vernichtung von Millionen von Leben sind die Folge dieser Vorstellung, sondern die Sache geht so weit, daß wir gerade bei diesem Gedanken fast in geologische Größen hineinkommen, wenn wir uns denken, wie z. B. die Pyramiden und ähnliche Dinge Wirkungen dieses Gedankens an den Tod und dieses Widerstrebens gegen das Vergängliche sind.

Was ist hier zu tun? Im Chinesischen gibt es eine Tradition, die ganz kühn die Psyche sozusagen auseinandernimmt und nun sieht, was zu tun ist. Ein Dschuang Dsi hat die Philosophie, daß er sich gleichsam abseits stellt und dem Wandel der Dinge zuschaut, sein Ich nicht mehr auf seinen Körper beschränkt, sondern sein Ich erweitert.

Aber damit ist die Sache doch noch nicht erschöpft, sondern es ist dazu, wenn es sich nicht bloß um Übersteigerung des Gefühls handeln soll, sondern um Sicherheit einer Position, noch ein anderes notwendig, nämlich eine Ablösung des Ich vom Körperlichen. Hier haben wir den Punkt, in dem auch alle Religionen einig sind. Das Leben wird vom Ich gewollt; aber wer sein Leben behalten will, der wird es verlieren. Das Haften des Ich am Leben ist eben der Weg dazu, daß dieses Leben auf eine Weise endigt, daß es dem Ich sich entzieht. Das Problem ist nun im Chinesischen, einen neuen Leib zu bilden innerhalb des irdischen Leibes. Das ist das Problem einer Wiedergeburt, wie sie ja auch im Christentum in den esoterischen Überlieferungen der ersten Jahrhunderte, von denen wir zum mindesten in der evangelischen Kirche heute gar nichts mehr wissen, sich findet.

Die Wiedergeburt ist nicht nur eine fromme Phrase, und wenn Paulus kämpft und ringt, daß er überkleidet werden möchte und nicht entkleidet, so ist es nicht eine Phantasievorstellung von irgendeinem neuen Fleischesleib, der ihm als Mantel umgehängt werden soll, sondern er hat da ganz reale Dinge im Auge. Und so sehen wir auch im Chinesischen den Versuch, einen neuen Ich-Leib zu bilden. Aber das ist eine sehr schwierige Sache, die sehr genau durchmeditiert werden muß. Dieser neue Leib ist nicht ein grob stofflicher Leib, sondern er ist sozusagen ein Energieleib. Es wird versucht, durch Konzentrations- und Meditationsübungen diese Energien gleichsam loszulösen und die Entelechie, dieses Samenhafte, das latent vorhanden ist, mit diesen Energien zu umgeben. Es ist also letzten Endes nichts anderes als, auf das physische Gebiet übertragen, die Formung des Samenkorns. Denn was ist ein Samenkorn anderes als die Entelechie des Baumes ins Unsichtbare konzentriert und doch nicht körperlos, denn die Möglichkeit zum Körperlichen ist immer da. Diese Konzentration ist eine latente Kraftspannung, die durch den Vorgang der Verwesung, wenn das Samenkorn in die Erde fällt, angeregt wird zu einem neuen rechtläufigen Gange. Es ist also eine rückläufige Bewegung, die in letzter Konzentration gleichsam eine Auslösung ermöglicht. Diese Auslösung geschieht durch die Verwesung der den Keim umgebenden Stoffe. Etwas Ähnliches wird im Chinesischen auf psychischen Gebiete erstrebt dadurch, daß ein seelisches Samenkorn gebildet, dieses Samenkorn mit Energien des Körperlichen umhüllt wird und so eine konzentrierte latente Kraft entsteht, die nun auf einen Punkt kommt, da es sich von der primären, d. h. vergänglichen Zeit loslöst.

Das wird in China in verschiedenen Bildern ausgedrückt. Man sieht etwa einen in tiefer Meditation versunkenen Heiligen, in dessen Herzen ein kleines Kind sich bildet. Dieses kleine Kind wird dann genährt und schwebt schließlich aus der Schädelhöhle in die Höhe. Das ist etwas, das im Leben den Vorgang des Sterbens reproduzieren soll. Dieses Hinausgehen der höheren Kräfte durch die oberen Körperöffnungen bedeutet, in unsere moderne Sprache übertragen, nichts anderes, als daß wir hier von einer Zeit zweiter Ordnung aus, wenn wir das ganze Leben vor uns liegen sehen, uns von diesem Leben mit unserem Bewußtsein loslösen und dennoch energiemäßig mit diesem materiellen Dasein verbunden bleiben, daß wir dieses Leben reflektieren können, aber reflektieren nicht im gewöhnlichen Sinne, sondern in einem ganz eminent starken, meditativ gesättigten Sinne. Dieser Vorgang kann sich sogar stufenartig steigern. Wir leben ja nicht in einer Zeit, sondern gleichsam in einer ganzen Zwiebel von verschiedenen Zeitschalen. Ich bin mir z. B. bewußt, diesen Stuhl zu sehen. Nun kann ich mein Subjekt eine Schicht dahinter verlegen und dieses stuhlsehende Subjekt als Objekt nehmen; ich sehe mir sozusagen zu, wie ich den Stuhl betrachte. Ich kann dann sogar noch einen Schritt weiter gehen und sehen, wie ich mir zusehe, wie ich den Stuhl betrachte. Ja, es geht das ins Unendliche; es kommt einfach auf die psychische Kraft, auf die Konzentrationsfähigkeit der einzelnen Menschen an, wie weit sie diesen Prozeß nach oben verlängern können.

Im Chinesischen finden sich Meditationsübungen, die diese Potenzierung des Subjekts im Anschluß an die Bewußtmachung der in der Ichmonade vorhandenen Sinnesdominanten sehr weit führen. Dieser Vorgang wird bildlich so dargestellt, als ob aus dem meditierenden Menschen zunächst das überzeitliche Ich sich ablöse, das dann fünf Emanationen entsendet, die ihrerseits wieder je weitere fünf menschliche Spiegelungen aus sich entlassen. Ein solches Bild sieht als Bild sehr merkwürdig aus, aber was damit gemeint ist, ist der serienhaft in der Zeit sich vollziehende Loslösungsprozeß des Ich von dem zunächst allein bestehenden materiellen Leibe.

Es ist eine sehr ernste und strenge Denkarbeit, die hier nötig ist. Aber dieses Denken dürfen wir uns nicht so vorstellen, wie man im Westen das Denken zu verstehen pflegt, daß es einfach ein rein intellektueller Hergang wäre. Wir sprechen von Denken und Sein als zwei unversöhnlichen Gegensätzen. Dieses chinesische Denken ist aber als aktives Denken gedacht, als ein Denken, das so konzentriert ist, daß durch dieses Denken etwas in der Welt des Seins bewirkt wird. Das Zeichen »Denken« wird im Chinesischen geschrieben als ein Feld und darunter das Herz, das Bewußtsein, also ein Feld, in dem das Bewußtsein sich betätigt. Das Bild für »Gedanken« sind Klänge, die im Bewusstsein entstehen. Es sind sozusagen Klangbilder, die aus dem bewußt bearbeiteten Felde hervordringen. Wir kommen natürlich hier auf Begriffe und Vorstellungen, die nur mit Mühe das anzudeuten suchen, was mit ihnen gemeint ist. Wie ja unsere philosophischen Begriffe auch nur sehr übertragen und sehr ungenau sind. Es handelt sich hier also um eine ganz reale Arbeit während des Lebens die Unabhängigkeit von diesem Leben zu erreichen, und zwar eine Unabhängigkeit, die nicht rein theoretisch, sondern die praktisch ist, indem sich ähnlich wie in einem Samenkorn das formt, was wir mit Goethe eine Entelechie nennen können, d. h. eine Kraft von einem ganz bestimmten Rhythmus, von einer ganz bestimmten Richtung — und, was dazu gehört, die in sich geschlossen ist. Eine Entelechie in diesem Sinne ist gleichsam ein in sich geschlossenes kleines Weltsystem. Und das ist im ganzen chinesischen Denken, im Konfuzianismus ebenso wie im Taoismus oder im Buddhismus, vorhanden, dass man in Laufe des Lebens nun das zur Harmonie bildet, was von seelischen und körperlichen Anlagen man als Kapital mitbekommen hat, indem man es vereinheitlicht und von einem Zentrum aus gestaltet.

Das bedeutet natürlich eine ungeheuer starke Kraft, wenn es gelingt. Ob es aber gelingt, das ist die Frage. Es besteht die Möglichkeit, daß es vielleicht einem Menschen nicht gelingt, die in ihm vereinten Seelenwesen beisammenzuhalten, sondern daß das eine oder andere dieser Seelenwesen gelegentlich entwischt und auf eigene Faust seine Spaziergänge in der Traumwelt macht. Aber solche Dinge, die den Menschen in Beziehung bringen können mit abgeschiedenen Geistern oder mit Geistern von nicht menschlichem Wesen, bilden im Chinesischen eigentlich weniger einen Glaubensgegenstand als den Stoff vielfältiger Unterhaltung in Märchen.

Aber solche Vorkommnisse sind nur gelegentliche Erscheinungen, das Ziel ist eine Vereinheitlichung der Seele durch konsequente Übung. Die Voraussetzung ist die, daß diese in sich gefaßte Entelechie ein Zustand ist, der wohl potentiell ein höherer Zustand ist — es ist ein Zustand des Schauens nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch der Zukunft, etwas Intuitives, das also dem Intellekt als solchem überlegen ist —, aber daß dieser höhere Zustand sozusagen in unserem gegenwärtigen Entwicklungsstadium noch unentwickelt ist. Es ist das ein sehr merkwürdiger Gedanke, daß Höhere, Intuitive, er¬zogen und gebildet werden muß vom Bewußtsein, das an sich doch ihm gegenüber etwas Niedrigeres ist, also daß das Göttliche — wenn wir diesen Ausdruck hier gebrauchen wollen — im Menschen etwas ist, das erst der Leitung des Menschlichen bedarf, damit es sich entwickelt. Das Höhere muß durch die Leitung des Bewußtseins erst unterrichtet und gebildet werden. Das wird im Chinesischen sehr wichtig genommen. Das Unwillkürliche, das aus dem Unbewußten Hervorsprudelnde und Herausbrodelnde, das in Europa häufig oder wenigstens zeitweise für besonders genial gehalten wird, ist nicht etwas, das man in China besonders schätzt; sondern das sind vergeudete Kräfte, unentwickelte Geburten ewigen Lebens, die eben, weil sie an sich nicht konzentriert sind, dann doch schließlich wieder zerflattern.

Es handelt sich also darum, während man im Leben ist, einige Bekanntschaft mit dem Zustand nach dem Tode zu machen, und wir haben Gelegenheit dazu im Schlaf. Ja, im Schlaf wandert der Geist, sagt Dschuang Dsi, im Schlaf wohnt die Seele in der Leber. Er meint damit: nicht im Gehirn, nicht im Bewußtsein, sondern im Vegetativen. Und der Tiefschlaf, die völlige Abwesenheit des Bewußtseins, ist ein Zustand, der dem Zustand nach dem Tode sehr verwandt ist. Es gilt nun, daß man seine Träume erzieht; denn durch Erziehung der Träume erzieht man sich für das Leben nach dem Tode. Der Weise träumt nicht mehr, der Weise ist diesen Bildern, die sich chaotisch, visuell oder akustisch in der Phantasie bilden, nicht mehr unterworfen; sondern er ist so im Einklang mit dem Weltgeschehen während des Schlafes oder im Tiefschlaf, daß diese schüchternen Reste des Bewußtseins von ihm abfallen. Und wie ein ganz klares Wasser kein Bild mehr zeigt, sondern bis zum Grunde alles klar sehen läßt, so ist auch sein Schlaf etwas ganz Reines, Klares.

Hier haben wir nun das geistige, das dritte und höchste Ich neben dem leiblichen und dem seelischen Ich. Daß das seelische Ich sich so weit entwickeln kann, das ist möglich eben durch dieses dritte und höchste Ich, das im Unterschied zu dem individuellen, seelischen Ich ganz allgemein ist. Dieses Ich ist nicht körpergebunden, ist auch nicht psychegebunden, sondern es ist das große Menschheits-Ich, das Welt-Ich. Und indem die eigene psychische Entelechie mit dem Rhythmus dieses Ich zusammenschwingt, indem also das Ich-Erlebnis dahin transponiert wird, und zwar nicht nur für Momente, sondern für eine tiefe, starke Ruhezeit, dadurch gelingt es, den Zustand nach dem Tode auf eine Weise zu erleben, die nicht mehr furchterregend ist.

So ist es die Aufgabe des Lebens, sich für den Tod vorzubereiten, nicht in dem Sinne, daß man buchführungsmäßig eine bestimmte Anzahl von guten Taten tut, damit man nachher in den Himmel komme, sondern in der Weise, daß man in sich einen Zustand erzeugt, der losgelöst von der Endlichkeit das Unendliche repräsentiert, und daß man in diesem unendlichen und ewigen Zustand sein Ich zentriert. Das ist sozusagen ein Weltflug. Es ist natürlich da ein Punkt, wo dieses Ich sich loslösen muss, das ist ein Sterben. Und dieses Sterben ist es, das mit dem Neuwerden verknüpft ist, das dann vor dem Weitersterben schützt. Es ist hier ein ähnlicher Punkt wie bei der Geburt.

Ja, die Geburt ist die große Revolution, da Himmel und Erde sich für den Menschen verdrängen, da Himmel und Erde die Plätze tauschen. So ist die Neugeburt wieder eine Umzentrierung geistiger Art, da Himmel und Erde die Plätze vertauschen, da unten wird, was früher oben war, und oben wird, was früher unten war, wodurch nun eine neue Daseinsform ermöglicht wird, die ewig ist. Der Mensch, der diesen Standpunkt erreicht hat, wird sich nicht mehr vor dem Tode fürchten, sondern er betrachtet ihn wie den Schlaf, als einen physiologischen Vorgang, der allen Menschen gemeinsam ist und um so leichter erledigt wird, je weniger wichtig man ihn als Prozeß nimmt. Und er wird nun auch im Leben eben dadurch, daß er gleichsam ein Wiedergeborener ist, eine wesentlich andere Stellung bekommen. Er wird einen Ernst bekommen den Dingen der Ewigkeit gegenüber, und er wird das zeitlich Fließende leicht nehmen; das kann ihn nicht mehr zutiefst beschäftigen. Das bedeutet für den Taoisten eine ironische, humorvolle Haltung, die des ganzen irdischen Betriebes lacht. Für den Konfuzianer aber bedeutet es die souveräne Erhabenheit, die sich darin zeigt, daß er aus den höchsten Hohen herunterkommt an den Platz, an dem er steht, und das sachgemäß erfüllt, was mit diesem Platz an Pflichten verbunden ist, nicht aus besonderer Tugend oder aus dem Bedürfnis, dadurch sich Verdienste zu erwerben, sondern einfach, weil das die jetzt ihm entsprechende Art ist, sich im Leben zu betätigen.

Denn, wo er steht, das ist für ihn jetzt bedeutungslos geworden. Er braucht nicht mehr ins Jenseits hinüber, denn sein Leben ist, während er im Diesseits ist, schon im Jenseits. Dieses Jenseits aber ist weder zeitlich noch räumlich vom Diesseits getrennt, sondern es ist das Tao, es ist der Sinn, der alles Sein und Werden gleichmäßig durchdringt; es ist der Ernst, der heilige, das, was den Tod nicht mehr ab etwas Fürchterliches erscheinen läßt, und dasjenige, was das Leben zur Ewigkeit macht
. S. 19-59
Aus: Richard Wilhelm, Weisheit des Ostens, Deutsche Reihe, Band 155, Eugen Diederich Verlag Düsseldorf/Köln

TAI I GIN HUA DSUNG DSCHI
Schulprinzipien der Goldenen Blüte
Ursprung und Inhalt des Buches
I. Herkunft des Werkes
Das Buch stammt aus einem esoterischen Kreis in China. Es war lange mündlich, dann handschriftlich überliefert; der erste Druck stammt aus der Kiän-Lung-Zeit (18.Jahrhundert). Zuletzt ist es im Jahr 1920 zusammen mit dem Hui Ming Ging in Peking in tausend Exemplaren neu gedruckt und an einen kleinen Kreis von Menschen verteilt worden, bei denen der Verfasser Verständnis für die in ihm erörterten Fragen voraussetzte. Auf diese Weise gelang es mir, ein Exemplar zu bekommen. Der Neudruck und die Verbreitung des Büchleins hat seinen Grund in einem Neuerwachen religiöser Strömungen anläßlich der Not der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in China. Eine Reihe von Geheimsekten hat sich gebildet, deren Bestreben es ist, in praktischer Übung der Geheimüberlieferungen aus alter Zeit einen Seelenzustand zu erreichen, der über alle Misere des Lebens hinausführt. Als Methoden werden neben den in China sehr verbreiteten mediumistischen Sitzungen, durch die man in direkte Verbindung mit der Planchette tritt (dem fliegenden Geisterstift, wie der chinesische Ausdruck lautet), Schriftmagie, Gebet, Opfer usw. angewandt. Daneben geht aber eine esoterische Richtung einher, die sich sehr energisch der psychologischen Methode, der Meditation bzw. Yogapraxis, zugewandt hat. Ihre Anhänger erreichen auch das zentrale Erlebnis — im Unterschied von denjenigen europäischen »Yogin«, bei denen diese östlichen Übungen nur Sport sind — fast ausnahmslos, so daß man sagen kann, daß es sich hier für den chinesischen Seelenzustand (der, wie C. G. Jung sehr richtig zeigt, vom europäischen in einigen grundlegenden Beziehungen — zum mindesten bis in die neueste Zeit — sehr wesentlich verschieden war) um eine vollkommen gesicherte Methode zur Erreichung bestimmter seelischer Erlebnisse handelt. Neben der Loslösung aus den Fesseln der wahnvollen Außenwelt sind es bei den verschiedenen Sekten noch mancherlei andere Ziele, die sie erstreben: Die höchste Stufe erstrebt durch diese Loslösung auf meditativer Grundlage entweder das buddhistische Nirvana oder, wie z.B. die vorliegende Schrift, durch Verbindung des geistigen Prinzips im Menschen mit zugeordneten psychogenen Kräften, die Möglichkeit des Weiterlebens nach dem Tode, nicht nur als der Auflösung verfallenes Schattenwesen, sondern als bewußter Geist vorzubereiten. Daneben und oft damit verbunden gibt es Richtungen, die durch diese Meditation eine psychische Einwirkung auf gewisse vegetativ-animalische Lebensprozesse (wir würden auf europäisch hier von Vorgängen des endoktrinen Drüsensystems reden) suchen, durch die eine Stärkung, Verjüngung und Normalisierung des Lebensprozesses bewirkt werden soll, durch die auch der Tod in der Weise überwunden wird, daß er sich als harmonischer Abschluß vom Lebensprozeß einfügt: Der irdische Leib wird von dem (zu selbständigem Weiterleben in dem aus seinem Kraftsystem erzeugten Geisterleib befähigten) geistigen Prinzip verlassen und bleibt als austrocknende Schale zurück wie die Schale einer ausgeschlüpften Zikade. In niedrigeren Regionen dieser Sekten erstrebt man, Zauberkräfte auf diese Weise zu erlangen, die Fähigkeit, böse Geister und Krankheiten zu bannen, wobei dann auch Talismane, Wort- und Schriftzauber ihre Rolle spielen. Dabei kann es dann auch zu gelegentlichen Massenpsychosen kommen, die in religiösen oder politisch-religiösen Unruhen (wie z.B. die Boxerbewegung eine war) ihre Auflösung finden. Neuerdings zeigt sich die ohnehin vorhandene synkretistische Neigung des Taoismus darin, daß in solchen Gründungen Angehörige aller fünf Weltregionen (Konfuzianismus, Taoismus, Buddhismus, Islam, Christentum; gelegentlich wird auch noch das Judentum besonders erwähnt) aufgenommen werden, ohne daß sie aus ihren Religionsgemeinschaften auszuscheiden brauchen.

Wenn wir auf diese Weise die Hintergründe kurz gezeichnet haben, aus denen in unseren Tagen solche Bewegungen hervortreten, so bleibt noch ein kurzes Wort zu sagen über die Quellen, aus denen die Lehren des vorliegenden Buches stammen. Dabei machen wir nun sehr merkwürdige Entdeckungen. Diese Lehren sind viel älter als ihre schriftliche Fixierung. Wenn das Tai I Gin Hua Dsung Dschi sich als Holzplattendruck bis ins siebzehnte Jahrhundert zurückverfolgen läßt — der Verfasser beschreibt, wie er ein nicht ganz vollständiges Exemplar aus dieser Zeit in der Liu Li Tschang, der alten Buchhändler- und Antiquitätenhändler-Straße Pekings, gefunden hat, das er später aus dem Buch eines Freundes ergänzte — so geht die mündliche Überlieferung zurück auf die
Religion des Goldenen Lebenselixiers (Gin Dan Giau), die in der Tangzeit im achten Jahrhundert entstanden ist. Als Stifter wird der bekannte taoistische Adept Lü Yen (Lü Dung Bin) genannt, den die Volkssage später unter die acht Unsterblichen eingereiht und um den sich im Laufe der Zeit ein reicher Mythenkranz gesammelt hat. Diese Gemeinde hatte in der Tangzeit, als alle Religionen, einheimische und fremde Duldung und Pflege fanden, eine große Verbreitung, erlitt aber im Laufe der Zeit, da man ihre Mitglieder im Verdacht geheimer politischer Umtriebe hatte (sie war von Anfang an eine esoterische Geheimreligion), immer wieder von seiten einer feindlichen Regierung Verfolgungen, zuletzt noch auf äußerst grausame Weise von der Mandschu-Regierung kurz vor ihrem eigenen Sturz. Viele ihrer Anhänger haben sich der christlichen Religion zugewandt. Alle, auch soweit sie nicht direkt in die Kirche eintraten, sind ihr sehr freundlich gesinnt.

Über die Lehren der Gin Dan Giau gibt unser Buch die beste Auskunft. Die Aussprüche werden auf Lü Yen (der mit seiner anderen Bezeichnung Lü Dung Bin, d.h. Lü der Höhlengast, heißt) zurückgeführt. Im Buch wird er als Patriarch Lü, Lü Dsu, eingeführt. Er lebte um die Wende des achten und neunten Jahrhunderts und ist im Jahre 755 nach Christi geboren. Seinen Worten ist ein späterer Kommentar beigefügt, der aber derselben Überlieferung entstammt.

Woher hatte Lü seine esoterischen Geheimlehren? Er selbst führt ihren Ursprung zurück auf Guan Yin Hi, den Meister Yin Hi vom Pass (Guan, d.h. Han-Gu-Paß), für den der Sage nach Laotse seinen Taoteking aufgeschrieben hatte. Und in der Tat finden sich eine Menge Gedanken in dem System, die den im Taoteking esoterisch verborgenen mystischen Lehren entstammen (man vergleiche z. B. die Götter im Tal, die mit dem Talgeist des Laotse identisch sind, u. a.). Während aber der Taoismus in der Hanzeit immer mehr in ein äußerliches Zauberwesen ausartete, da die Hofmagier taoistischer Provenienz durch die Mittel der Alchimie der Goldpille (Stein der Weisen) suchten, die Gold aus unedlen Metallen erzeugen und dem Menschen physische Unsterblichkeit verleihen sollte, handelt es sich bei der Gründung des Lü Yen um eine Reform. Die alchimistischen Bezeichnungen werden zu Symbolen psychologischer Vorgänge. Hierin kommt er den ursprünglichen Gedanken des Laotse wieder näher. Aber während Laotse ein ganz freier Denker war und sein Nachfolger Dschuang Dsi gelegentlich allen Hokuspokus der Yogapraxis, der Naturheiler, der Lebenselixiersucher verhöhnte — obwohl er selbst natürlich auch Meditation getrieben hat, die ihm zur Einheitsschau verhalf, auf der sein nachträglich gedankenmäßig ausgebautes System beruht —, so findet sich in Lü Yen eine gewisse Gläubigkeit, ein religiöser Zug, der zwar - durch den Buddhismus angeregt — vom Wahn aller Äußerlichkeiten überzeugt ist, aber doch in einer Weise, die sich deutlich vom Buddhismus unterscheidet. Er sucht mit aller Kraft nach dem ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht, wo dem Adepten ewiges Leben zuteil wird, ein Gedanke, der dem Buddhismus, der jedes substantielle Ich leugnet, vollkommen fremd ist. Dennoch darf man die Einflüsse des Mahayanabuddhismus‘, der damals machtvoll China beherrschte, nicht unterschätzen. Buddhistische Sutren werden wiederholt zitiert. Ja, in unserm Text ist dieser Einfluß noch größer als in der Gin Dan Giau im allgemeinen angenommen werden darf. In der zweiten Hälfte des dritten Abschnitts wird ausdrücklich auf die Methode der »fixierenden Kontemplation« (Dschi Guan) hingewiesen. Das ist eine rein buddhistische Methode, die in der Tien-Tai-Schule des Dschi Kai ausgeübt wurde. Von da an läßt sich ein gewisser Bruch in der Darstellung in unserer Schrift verfolgen. Auf der einen Seite wird die Pflege der »Goldblume« weiterhin beschrieben, auf der andern Seite aber treten rein buddhistische Gedanken hervor, die das Ziel in weltabgewandter Weise sehr stark in die Nähe des Nirvana verschieben. Es folgen dann noch einige Abschnitte, die, was die geistige Höhenlage und die Straffheit des Zusammenhangs anlangt, höchstens den Wert einer Nachlese beanspruchen können. Außerdem wird die Arbeit an der inneren Neugeburt durch den Kreislauf des Lichts und die Erzeugung des göttlichen Samenkorns nur in ihren ersten Stadien geschildert, obwohl als Ziel die weiteren Stadien genannt sind, wie sie z.B. in dem Sü Ming Fang des Liu Hua Yang näher ausgeführt werden. Wir können darum die Vermutung nicht von der Hand weisen, daß tatsächlich ein Teil der Schriften verloren gegangen und aus anderen Quellen ersetzt worden ist. Das würde den genannten Bruch und das Absinken des Niveaus in den nicht übersetzten Partien erklären.

Aber bei der unbefangenen Lektüre fällt auf, dass die beiden Quellen für den Gedankeninhalt noch nicht genügen. Auch der Konfuzianismus, in seiner auf dem I Ging begründeten Richtung, ist mit benützt. Die acht Grundzeichen des I Ging (Ba Gua) werden an verschiedenen Stellen als Symbole für gewisse innere Vorgänge herbeigezogen, und wir werden weiter unten noch zu erklären versuchen, welchen Einfluss diese Verwendung der Symbole bewirkt hat. Übrigens hat ja der Konfuzianismus eine breite Basis mit dem Taoismus gemeinsam, so dass durch diese Gedankenvereinigung keine Störung des Zusammenhangs erfolgte.

Merkwürdig berührt es vielleicht manchen europäischen Leser, dass Wendungen im Text vorkommen, die ihm aus der christlichen Lehre bekannt sind, während andererseits gerade diese ganz bekannten Dinge, die in Europa vielfach fast nur noch als kultische Phrasen aufgefasst werden, eine ganz andere Perspektive gewinnen durch die psychologischen Zusammenhänge, in die sie hineingestellt sind. Wir finden Anschauungen und Begriffe wie folgende (um nur einige beliebige herauszugreifen, die besonders auffallend sind): Das Licht ist das Leben der Menschen. Das Auge ist des Leibes Licht. Die geistige Wiedergeburt des Menschen aus Wasser und Feuer, zu der die Gedankenerde (Geist) als Mutterschoß oder Ackerfeld hinzukommen muß. Man vergleiche dazu die johanneischen Anschauungen: »Ich taufe euch mit Wasser; nach mir wird einer kommen, der wird euch mit heiligem Geist und Feuer taufen« oder: »Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht ins Himmelreich kommen.« Wie plastisch wird namentlich der Gedanke des »Wassers« als Samensubstanz in unserem Text und wie deutlich der Unterschied der nach außen strömenden Tätigkeit, die sich im Zeugen erschöpft (Was vom Fleisch geboren wird, ist Fleisch), und der »rückläufigen« Bewegung . Auch das Bad spielt bei dieser Wiedergeburt eine Rolle, ebenso wie bei der johanneischen (und christlichen) Taufe. Aber selbst die mystische Hochzeit, die in der christlichen Parabolik eine so große Rolle spielt, kommt verschiedene Male vor; auch das Kind, der Knabe (puer aeternus, der Christus, der in uns geboren werden muss und der andrerseits der Bräutigam der Seele ist) im eigenen Innern, ebenso wie die Braut, werden genannt. Und was vielleicht am auffallendsten ist: Selbst ein scheinbar so nebensächlicher Zug, daß man Öl in den Lampen haben muß, damit sie hell brennen, gewinnt eine neue und fast massive psychologische Bedeutung durch unsern Text. Es verdient auch noch erwähnt zu werden, daß der Ausdruck Goldblume (Gin Hua) in esoterischer Hinsicht auch den Ausdruck »Licht« enthält. Wenn man die zwei Zeichen nämlich so untereinander schreibt, daß sie sich berühren, so bildet der untere Teil des oberen und der obere Teil des unteren das Zeichen »Licht« (Guang). Offenbar ist dieses Geheimzeichen in einer Verfolgungszeit erfunden worden, die dann auch bewirkt haben mag, dass die Weitergabe der Lehre nur unter dem Schleier tiefsten Geheimnisses stattfand, um jede Gefahr nach Möglichkeit zu vermeiden. Das war dann wieder der Grund, daß die Lehren immer auf geheime Kreise beschränkt blieben. Immerhin ist ihr Anhang auch heute noch größer, als nach außen hervortritt.

Wenn wir nun fragen, wohin diese
Lichtreligion weist, so können wir in erster Linie an Persien denken, da ja in der Tangzeit persische Tempel in China an vielen Orten vorhanden waren. Aber wenn auch einiges mit der Zarathustra-Religion und namentlich mit der persischen Mystik übereinstimmt, so sind andrerseits doch wieder sehr starke Divergenzen vorhanden. Ein anderer Gedanke ist, daß ein direkter christlicher Einfluß stattgefunden hat. Zur Tangzeit stand die christlich-nestorianische Religion, die die Religion der mit dem Kaiser verbündeten Uiguren war, in hohem Ansehen, wie das bekannte nestorianische Monument in Sianfu, das im Jahr 781 errichtet wurde, mit seiner chinesischen und syrischen Inschrift beweist. So sind Beziehungen zwischen den Nestorianern und der Gin Dan Giau sehr wohl möglich. Th. Richard ging so weit, in der Gin Dan Giau einfach die Reste der alten Nestorianer zu sehen. Gewisse Übereinstimmungen im Ritual und gewisse Traditionen der Gin-Dan-Giau-Mitglieder, die sehr nahe an Christliches herankommen, bestimmten ihn dazu. Neuerdings hat P. Y. Saeki diese Theorie wieder aufgenommen und an Hand der von Peliot in Dun Huang gefundenen nestorianischen Liturgien eine Reihe weiterer Parallelen festgestellt. Ja, er geht so weit, Lü Yen, den Stifter der Gin Dan Giau, mit Adam, dem Aufzeichner des Texts der Nestorianergedenktafel, der sich mit dem chinesischen Namen Lü Siu Yen unterzeichnet, zu identifizieren. Danach wäre also Lü Yen, der Stifter der Gin Dan Giau, ein Christ nestorianischen Bekenntnisses gewesen! Saeki geht in seiner ldentifizierungsfreude entschieden zu weit; seine Beweise sind alle beinahe überzeugend, aber immer fehlt der springende Punkt, der den Beweis schlüssig macht. Aus vielen halben Beweisen wird aber kein ganzer. Aber so weit werden wir ihm zustimmen müssen, daß in der Gin Dan Giau ein sehr starker Zustrom nestorianischer Gedanken stattgefunden hat, der sich auch in der vorliegenden Schrift noch geltend macht. Diese Gedanken nehmen sich in dem fremden Gewand z.T. seltsam aus, z. T. erhalten sie eine merkwürdige Art neuer Lebendigkeit. So sehen wir auch hier einen der Punkte, die es immer wieder beweisen: »Orient und Occident sind nicht mehr zu trennen.«

II. Die psychologischen und kosmologischen Voraussetzungen des Werkes
Zum Verständnis der nachfolgenden Übersetzung ist es von Wert, daß noch einige Worte über die Grundlagen der Weltanschauung gesagt werden, auf denen die Methode beruht. Diese Weltanschauung ist bis auf einen gewissen Grad das gemeinsame Eigentum aller chinesischen philosophischen Richtungen. Sie baut sich auf von der Voraussetzung aus, daß Kosmos und Mensch im Grunde gemeinsamen Gesetzen gehorchen, daß der Mensch ein Kosmos im kleinen und von dem großen Kosmos nicht durch feste Schranken geschieden ist. Dieselben Gesetze herrschen hier wie dort, und vom einen Zustand aus eröffnet sich der Zugang zum andern. Psyche und Kosmos verhalten sich wie Innenwelt und Umwelt. Der Mensch partizipiert daher naturhaft an allem kosmischen Geschehen und ist innerlich wie äußerlich mit ihm verwoben.

Das Tao, der Weltsinn, Weg, beherrscht daher den Menschen ebenso wie die unsichtbare und sichtbare Natur (Himmel und Erde). Das Zeichen Tao in seiner ursprünglichen Form besteht aus einem Kopf, der wohl als »Anfang« gedeutet werden muß, dann dem Zeichen für »Gehen«, und zwar in seiner Doppelform, in der es auch »Geleise« bedeutet, und darunter dann noch das Zeichen »stehen bleiben«, das in der späteren Schreibweise weggelassen wird. Die ursprüngliche Bedeutung ist also: »ein Geleise, das — selber feststehend — von einem Anfang aus direkt zum Ziel führt.« Es liegt also der Gedanke zugrunde, daß es, selber unbewegt, alle Bewegungen vermittelt und ihr das Gesetz gibt. Himmelsbahnen sind die Bahnen, auf denen sich die Gestirne bewegen; die Bahn des Menschen ist der Weg, auf dem er wandeln soll. Dieses Wort hat Laotse in metaphysischem Sinne gebraucht, als das letzte Weltprinzip, als den »Sinn« vor aller Verwirklichung, noch nicht durch das polare Auseinandertreten der Gegensätze getrennt, an das alle Verwirklichung gebunden ist. Die Terminologie ist im vorliegenden Buch vorausgesetzt. Im Konfuzianismus findet sich ein gewisser Unterschied. Das Wort Tao hat hier einen innerweltlichen Sinn = der rechte Weg, einerseits der Weg des Himmels, andrerseits der Weg des Menschen. Das letzte Prinzip der zweitlosen Einheit ist für den Konfuzianismus das Tai Ci (der große Firstbalken, der große Pol). Der Ausdruck Pol kommt gelegentlich in unserer Schrift auch vor und ist dann identisch mit Tao.

Aus dem Tao bzw. Tai Ci entstehen nun die Prinzipien der Wirklichkeit, das polare Lichte (Yang) und das polare Dunkle oder Schattige (Yin). Man hat im Kreis europäischer Forscher dabei in erster Linie an Sexualbeziehungen gedacht. Allein die Zeichen beziehen sich auf Naturerscheinungen. Yin ist Schatten, daher die Nordseite eines Berges und die Südseite eines Flusses (weil die Sonne tagsüber so steht, daß er von Süden aus dunkel erscheint). Yang zeigt in seiner ursprünglichen Form flatternde Wimpel und ist dem Zeichen Yin entsprechend — die Südseite des Berges und die Nordseite des Flusses. Erst von dieser Bedeutung »Licht« und »Dunkel« wird dann das Prinzip auf alle polaren Gegensätze, auch die sexuellen, ausgedehnt. Da aber beide nur innerhalb des Gebietes der Erscheinung tätig sind und ihren gemeinsamen Ursprung im zweitlosen Einen haben, wobei Yang als das aktive Prinzip bedingend und Yin als das passive Prinzip abgeleitet und bedingt erscheint, ist es ganz klar, daß diesen Gedanken nicht ein metaphysischer Dualismus zu Grunde liegt. Weniger abstrakt als Yin und Yang sind die Begriffe des Schöpferischen und des Empfangenden (Kien und Kun), die dem Buch der Wandlungen entstammen und sich in Himmel und Erde symbolisieren. Durch die Verbindung von Himmel und Erde und durch die Wirksamkeit der dualen Urkräfte innerhalb dieses Schauplatzes (nach dem Einen Tao) entstehen die zehntausend Dinge, d.h. die äußere Welt.

Unter diesen Dingen befindet sich — äußerlich betrachtet — auch der Mensch in seiner körperlichen Erscheinung, die in allen Stücken ein kleines Weltall (Siao Tien Di) ist. So stammt auch das Innere des Menschen vom Himmel ab — wie die Konfuzianer sagen — oder ist eine Erscheinungsform des Tao, wie die Taoisten es ausdrücken. Der Mensch entfaltet sich seiner Erscheinung nach in eine Vielheit von Individuen, in deren jedem die zentrale Eins als Lebensprinzip eingeschlossen ist; nur daß sie sofort - noch vor der Geburt im Moment der Empfängnis — polar-dual auseinandertritt in Wesen und Leben (Sing und Ming). Das Zeichen für Wesen (Sing) setzt sich zusammen aus Herz (Sin) und Entstehen, Geborenwerden (Scheng). Das Herz (Sin) ist nach chinesischer Auffassung der Sitz des emotionellen Bewußtseins, das durch gefühlsmäßige Reaktion auf Eindrücke aus der Außenwelt durch die fünf Sinne geweckt wird. Das, was als Substrat übrig bleibt, wenn keine Gefühle sich äußern, was also noch sozusagen im jenseitigen — überbewußten — Zustand weilt: ist das Wesen (Sing). Je nach der genaueren Definition, die man diesem Begriff gibt, ist es ursprünglich gut, wenn man es unter dem Gesichtspunkt der ewigen Idee betrachtet (Meng Dsi) oder ursprünglich böse oder zum mindesten neutral, so daß es erst durch eine lange Entwicklung der Sitte gut gemacht werden muß, wenn man es unter dem Gesichtspunkt der empirisch-historischen Entwicklung betrachtet (Sün Kuang). Das Wesen (Sing), das auf alle Fälle dem Logos nahesteht, tritt nun, wenn es in die Erscheinung eingeht, eng verbunden mit dem Leben (Ming) auf. Das Zeichen Ming (Leben) bedeutet eigentlich einen königlichen Befehl, dann Bestimmung, Verhängnis, das einem Menschen bestimmte Schicksal, also auch die Dauer der Lebenszeit, das Maß der zur Verfügung stehenden Vitalkraft, so daß also Ming (Leben) dem Eros nahesteht. Beide Prinzipien sind sozusagen überindividuell. Das Wesen (Sing) ist das, was den Menschen als Geisteswesen zum Menschen macht. Der einzelne Mensch hat es, aber es greift über das Individuum weit hinaus. Das Leben (Ming) ist insofern auch überindividuell, als der Mensch sein Verhängnis, das nicht seinem bewußten Willen entspringt, einfach hinnehmen muß. Der Konfuzianismus sieht in ihm ein Gesetz des Himmels, dem man sich fügen muß; der Taoismus sieht in ihm das bunte Spiel der Natur, das zwar die Gesetze des Tao nicht umgehen kann, das als solches aber schlechthin »Zufall« ist; der Buddhismus in China sieht darin Karmaauswirkung innerhalb der Welt des Wahns.

Diesen Dualpaaren entsprechen nun im körperlich-persönlichen Menschen folgende polare Spannungen. Der Körper wird belebt durch das Zusammenspiel von zwei seelischen Gebilden:

1. Hun, das ich, da es dem Yangprinzip gehört, mit Animus übersetzt habe, und

2. Po, das dem Yingprinzip zugehört und mit Anima wiedergegeben wurde.


Beides sind Vorstellungen, die aus der Beobachtung des Hergangs des Todes entstammen, daher sie auch beide das Klassenzeichen des Dämons, des Abgeschiedenen (Gui), haben. Man dachte sich die Anima als vorzugsweise an die körperlichen Prozesse geknüpft; sie sinkt beim Tod mit in die Erde und verwest. Der Animus dagegen ist die höhere Seele; sie steigt nach dem Tode nach oben in die Luft, wo sie zunächst noch eine Zeitlang sich betätigt und dann sich im Himmelsraum verflüchtigt bzw. in das allgemeine Lebensreservoir zurückströmt. Im lebenden Menschen entsprechen die beiden bis auf einen gewissen Grad dem Cerebral- und dem Solarsystem. Der Animus wohnt in den Augen, die Anima wohnt im Unterleib. Der Animus ist licht und beweglich, die Anima ist dunkel und erdgebunden. Das Zeichen für Hun, Animus, setzt sich zusammen aus Dämon und Wolke, das Zeichen für Po, Anima, aus Dämon und weiß. Daraus ließe sich etwa auf ähnliche Gedanken schließen, wie wir sie anderswo als Schattenseele und Körperseele wiederfinden. Zweifellos ist etwas Ähnliches auch in der chinesischen Auffassung enthalten. Immerhin müssen wir in der Ableitung vorsichtig sein, da die älteste Schreibweise das Klassenzeichen für Dämon noch nicht hat und es sich möglicherweise um Ursymbole, die nicht weiter ableitbar sind, handeln könnte. Auf alle Fälle ist Animus — Hun die lichte Yang-Seele, während Anima — Po die dunkle Yinseele ist.

Der gewöhnlich »rechtsläufige« d.h. fallende Lebensprozeß ist nun der, daß die beiden Seelen in Beziehung zueinander treten als intellektueller und animalischer Faktor, wobei es denn in der Regel der Fall sein wird, daß die Anima, der dumpfe Wille, von den Leidenschaften gestachelt, den Animus oder Intellekt in ihren Dienst zwingt. Zum mindesten soweit, daß er sich nach außen wendet, wodurch die Kräfte von Animus und Anima verrinnen und das Leben sich aufzehrt. Als positiver Erfolg geschieht die Zeugung von neuen Wesen, in denen sich das Leben fortsetzt, während das ursprüngliche Wesen sich »veräußert« und schließlich »von den Dingen zum Ding gemacht wird«. Der Endpunkt ist der Tod. Die Anima sinkt, der Animus steigt, und das Ich bleibt nun, seiner Kraft beraubt, in zweifelhaftem Zustand. Hat es die »Veräußerung« bejaht, so folgt es der Schwere und sinkt in dumpfe Trübsal des Todes, nur kümmerlich sich nährend von den Wahnbildern des Lebens, die es noch immer anziehen, ohne daß es sich mehr aktiv daran beteiligen könnte (Höllen, hungrige Seelen). Hat es dagegen trotz der »Veräußerlichung« nach oben strebend sich bemüht, so erhält es wenigstens für eine Zeitlang, solange die Kräfte der Opfer der Hinterbliebenen es stärken, ein verhältnismäßig seliges Leben, das je nach seinen Verdiensten abgestuft sein wird, In beiden Fällen zieht sich das Persönliche zurück, die der Veräußerung entsprechende Involution vollzieht sich: das Wesen wird zum machtlosen Schemen, weil ihm die Kräfte des Lebens fehlen und sein Schicksal zu Ende ist. Es erlebt nun die Früchte seiner guten und bösen Taten in Himmeln oder Höllen, die aber nichts Äußeres, sondern rein innere Zustände sind, Je mehr es sich in diese Zustände vertieft, desto mehr involviert es sich, bis es schließlich von der — wie immer gearteten — Daseinsfläche verschwindet und die in ihm vorhandenen Imaginationen den Vorrat bilden, aus denen es, in einen neuen Mutterschoß eingehend, ein neues Dasein beginnt. Dieser Zustand ist der Zustand des Dämons, Geistes, des Heimgegangenen, sich Zurückziehenden; chinesisch Gui (oft fälschlicherweise mit »Teufel« übersetzt).

Wenn es dagegen während des Lebens gelingt, die »rückläufige«, steigende Bewegung der Lebenskräfte einzuleiten, wenn die Kräfte der Anima vom Animus aus beherrscht werden, so findet eine Befreiung von den Außendingen statt. Sie werden erkannt, aber nicht begehrt. Dadurch wird der Wahn in seiner Kraft gebrochen. Ein innerer steigender Kreislauf der Kräfte findet statt. Das Ich zieht sich aus den Verwicklungen mit der Welt heraus, und nach dem Tod bleibt es lebendig, weil die »Verinnerlichung« die Lebenskräfte verhindert hat, nach außen zu verrinnen, und sie statt dessen in der inneren Rotation der Monate ein Lebenszentrum geschaffen haben, das von der körperlichen Existenz unabhängig ist. Ein solches Ich ist ein Gott, Deus, Schen. Das Zeichen für Schen bedeutet: sich strecken, wirken, kurz das Gegenteil von Gui. In der ältesten Schreibweise wird es durch eine doppelte Mäanderwindung dargestellt, die sonst auch Donner, Blitz, elektrische Erregung bedeutet. Ein solches Wesen besitzt Dauer, solange die innere Rotation währt. Es vermag auch noch vom Unsichtbaren her die Menschen zu beeinflussen und zu großen Gedanken und edlem Tun zu begeistern. Das sind die Heiligen und Weisen der Alten Zeit, die auf Jahrtausende hinaus die Menschheit anregen und entwickeln.

Aber eine Beschränkung bleibt. Sie sind noch immer persönlich und damit den Wirkungen von Raum und Zeit unterworfen. Aber unsterblich sind auch sie nicht, ebenso wenig wie Himmel und Erde ewig sind. Ewig ist nur die Goldblume, die durch die innere Loslösung von aller Verstrickung mit den Dingen entspringt. Ein Mensch, der diese Stufe erreicht hat, transponiert sein Ich. Er ist nicht mehr auf die Monade beschränkt, sondern durchdringt den Bannkreis der polaren Zweiheit aller Erscheinungen und kehrt zurück zum zweitlosen Einen, dem Tao. Hier ist nun ein Unterschied zwischen Buddhismus und Taoismus. Im Buddhismus ist diese Rückkehr ins Nirvana mit einem völligen Erlöschen des Ichs, das ja nur Wahn ist, wie die Welt auch, verbunden. Wenn es auch nicht mit einem Tod, einem Aufhören erklärt werden darf, so ist es doch schlechthin Transzendenz. Im Taoismus dagegen ist das Ziel, daß sozusagen die Idee der Person, die »Spuren« der Erlebnisse, in Verklärung erhalten bleiben. Das ist das Licht, das mit dem Leben zu sich selbst zurückkehrt und in unserm Text durch die Goldblume symbolisiert wird
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Aus: Richard Wilhelm/C.G. Jung, Geheimnis der goldenen Blüte. Das Buch von Bewußtsein und Leben S.66-80
Aus dem Chinesischen übersetzt und erläutert von Richard Wilhelm. Mit einem Kommentar von C. G. Jung
Diederichs Gelbe Reihe DG 64

Das Geheimnis der goldenen Blume (Blüte)
1. Das himmlische Bewusstsein (Herz)
Der Meister Lü Dsu sprach: Das durch sich selbst Seiende heißt Sinn (Tao). Der Sinn hat nicht Name noch Gestalt. Er ist das eine Wesen, der eine Urgeist. Wesen und Leben kann man nicht sehen. Es ist enthalten im Licht des Himmels. Das Licht des Himmels kann man nicht sehen, es ist enthalten in den beiden Augen. Ich will heute Euer Geleitsmann sein und Euch zuerst das Geheimnis der Goldblume des Großen Einen eröffnen, um von da aus das Weitere einzeln zu erklären.

Der Große Eine ist die Bezeichnung dessen, das nichts mehr über sich hat. Das Geheimnis des Lebenszaubers besteht darin, daß man das Handeln benützt, um zum Nichthandeln zu kommen, man darf nicht alles überspringen und direkt eindringen wollen. Der überlieferte Grundsatz ist, die Arbeit am Wesen in die Hand zu nehmen. Dabei kommt es darauf an, nicht in Abwege zu geraten.

Die Goldblume ist das Licht. Welche Farbe hat das Licht? Man nimmt die Goldblume zum Gleichnis. Das ist die wahre Kraft des transzendenten Großen Einen. Das Wort: »Das Blei der Wassergegend hat nur einen Geschmack« deutet darauf hin.

Im Buch der Wandlungen heißt es: »Der Himmel erzeugt durch die Eins das Wasser«. Das ist eben die wahre Kuh des Großen Einen. Wenn der Mensch dieses Eine erlangt, so wird er lebendig, verliert er es, so stirbt er. Aber obwohl der Mensch in der Kraft (Luft, Prana) lebt, so sieht er die Kraft (Luft) nicht, ebenso wie die Fische im Wasser leben, aber das Wasser nicht sehen. Der Mensch stirbt, wenn er keine Lebensluft hat, ebenso wie die Fische ohne Wasser zugrunde gehen. Darum haben die Adepten die Leute gelehrt, das Ursprüngliche festzuhalten und das eine zu wahren, das ist der Kreislauf des Lichts und die Wahrung des Zentrums. Wenn man diese echte Kraft wahrt, so kann man seine Lebenszeit verlängern und dann die Methode anwenden, durch »Schmelzen und Mischen« einen unsterblichen Leib zu schaffen.

Die Arbeit des Kreislaufs des Lichts beruht ganz auf der rückläufigen Bewegung, daß man die Gedanken (die Stelle des himmlischen Bewußtseins, das himmlische Herz) sammelt. Das himmlische Herz liegt zwischen Sonne und Mond (d h. den beiden Augen).

Das Buch vom gelben Schloß sagt: »In dem zollgroßen Feld des fußgroßen Hauses kann man das Leben ordnen.« Das fußgroße Haus ist das Gesicht. Im Gesicht das zollgroße Feld: Was könnte es anderes sein als das himmlische Herz? Inmitten des Geviertzolls wohnt die Herrlichkeit. In dem purpurnen Saal der Nephritstadt wohnt der Gott der äußersten Leere und Lebendigkeit. Die Konfuzianer nennen es: Zentrum der Leere, die Buddhisten: Terrasse der Lebendigkeit, die Taoisten: Ahnenland oder gelbes Schloß oder dunkler Paß oder Raum des früheren Himmels. Das himmlische Herz gleicht der Wohnung, das Licht ist der Hausherr.

Darum, sowie das Licht im Kreislauf geht, stellen sich die Kräfte des ganzen Körpers vor seinem Thron ein, wie wenn ein heiliger König die Hauptstadt festgesetzt und die Grundordnung geschaffen hat, alle Staaten mit Tributgaben nahen, oder wie, wenn der Herr ruhig und klar ist, Knechte und Mägde von selbst seinen Befehlen gehorchen und jedes seine Arbeit tut.

Darum braucht ihr nur das Licht in Kreislauf zubringen; das ist das höchste und wunderbarste Geheimnis. Das Licht ist leicht zu bewegen, aber schwer zu fixieren. Wenn man es lang genug im Kreis laufen läßt, dann kristallisiert es sich; das ist der natürliche Geistleib. Dieser kristallisierte Geist bildet sich jenseits der neun Himmel. Das ist der Zustand, von dem es im Buch vom Siegel des Herzens heißt: »Schweigend fliegst du des Morgens empor.« Bei der Durchführung des Grundsatzes braucht ihr nach keinen andern Methoden zu suchen, sondern müßt einfach die Gedanken darauf sammeln. Das Buch Lung Yen sagt: »Durch Sammlung der Gedanken kann man fliegen und wird im Himmel geboren.« Der Himmel ist nicht der weite blaue Himmel, sondern der Ort, wo die Leiblichkeit im Haus des Schöpferischen erzeugt wird. Wenn man lang damit fortfährt, so entsteht ganz natürlich außer dem Leibe noch ein anderer Geistesleib.

Die Goldblume ist das Lebenselixier (Gin Dan, wörtlich Goldkugel, Goldpille). Alle Wandlungen des geistigen Bewußtseins hängen vom Herzen ab. Hier gibt es einen geheimen Zauber, der, obwohl er ganz genau stimmt, dennoch so fließend ist, daß er äußerster Intelligenz und Klarheit und der äußersten Vertiefung und Ruhe bedarf Menschen ohne diese äußerste Intelligenz und Verständnis finden den Weg der Anwendung nicht, Menschen ohne die äußerste Versenkung und Ruhe können ihn nicht festhalten.

Dieser Abschnitt erklärt den Ursprung des großen Sinns der Welt (Tao). Das himmlische Herz ist der Wurzelkeim des großen Sinns. Wenn man ganz ruhig zu sein vermag, dann wird das himmlische Herz von selbst offenbar. Wenn das Gefühl sich regt und rechtläufig sich äußert, so entsteht der Mensch als ursprüngliches Lebewesen. Dieses Lebewesen weilt vor der Geburt nach der Empfängnis im wahren Raum. Wenn der eine Ton der Individuation in die Geburt eintritt, ist das Wesen und das Leben in zwei geteilt. Von da ab sehen sich — wenn nicht die äußerste Ruhe erreicht wird — Wesen und Leben nicht wieder.

Darum heißt es im Plan des großen Pols: Das Große Eine befaßt in sich die wahre Kraft (Prana), den Samen, den Geist, den Animus und die Anima. Wenn die Gedanken ganz ruhig sind, so daß man das himmlische Herz sieht, so erreicht von selbst die geistige Intelligenz den Ursprung. Dieses Wesen wohnt allerdings im wahren Raum, aber der Lichtglanz wohnt in den beiden Augen. Darum lehrt der Meister den Kreislauf des Lichts, um das wahre Wesen zu erlangen. Das wahre Wesen ist der ursprüngliche Geist. Der ursprüngliche Geist ist eben das Wesen und Leben, und wenn man das Reale daran nimmt, so ist es eben die Urkraft. Und der große Sinn ist eben dieses Ding. Der Meister ist nun weiterhin besorgt, daß die Leute den Weg ja nicht verfehlen, der vom bewußten Handeln zum unbewußten Nichthandeln führt. Darum sagt er: Der Zauber des Lebenselixiers bedient sich des bewußten Handelns, um zum unbewußten Nichthandeln zu gelangen. Das bewußte Handeln besteht darin, daß man das Licht durch Reflexion in Kreislauf versetzt, um die Auslösung des Himmels zur Erscheinung zu bringen. Wenn dann der wahre Same geboren wird und man die rechte Methode anwendet, um ihn zu schmelzen und zu mischen und so das Lebenselixier zu schaffen, dann geht es durch den Paßweg; der Embryo bildet sich, der durch die Arbeit des Wärmens, Nährens, Badens und Waschens entwickelt werden muß. Das geht in das Gebiet des unbewußten Nichthandelns hinüber. Es bedarf eines vollen Jahrs dieser Feuerperiode, ehe der Embryo geboren wird, die Schalen abstreift und aus der gewöhnlichen Welt in die heilige übergeht.

Diese Methode ist ganz einfach Aber es gibt so viele sich wandelnde und verändernde Zustände dabei, daß es heißt: Nicht mit einem Sprung kann man plötzlich hinein gelangen. Wer das ewige Leben sucht, der muß den Ort suchen, wo ursprünglich das Wesen und Leben entspringt.


2. Der ursprüngliche Geist und der bewusste Geist
Der Meister Lü Dsu sprach: Himmel und Erde gegenüber ist der Mensch wie eine Eintagsfliege. Aber dem großen Sinn gegenüber sind auch Himmel und Erde wie eine Luftblase und ein Schatten. Nur der ursprüngliche Geist und das wahre Wesen überwindet Zeit und Raum.

Die Samenkraft ist ebenso wie Himmel und Erde der Vergänglichkeit unterworfen, aber der Urgeist ist jenseits der polaren Unterschiede. Hier ist der Ort, von wo Himmel und Erde ihr Dasein ableiten. Wenn die Lernenden es verstehen, den Urgeist zu erfassen, so überwinden sie die polaren Gegensätze von Licht und Dunkel und weilen nicht mehr in drei Welten. Aber dazu ist nur der fähig, der das Wesen geschaut hat in seinem ursprünglichen Angesicht.

Wenn die Menschen vom Mutterleib sich lösen, so wohnt der Urgeist im Geviertzoll (zwischen den Augen), der bewußte Geist aber wohnt unten im Herzen. Dieses untere fleischerne Herz hat die Form eines großen Pfirsichs, es ist von den Lungenflügeln bedeckt, von der Leber unterstützt und von den Eingeweiden bedient. Dieses Herz ist abhängig von der Außenwelt. Wenn man auch nur einen Tag nichts ißt, so fühlt es sich äußerst unbehaglich. Wenn es etwas Erschreckendes hört, so klopft es, wenn es etwas Erzürnendes hört, so stockt es, wenn es sich dem Tod gegenüber sieht, so wird es traurig, wenn es etwas Schönes sieht, so wird es verblendet. Aber das himmlische Herz im Kopfe, wann hätte das auch nur im mindesten sich bewegt? Fragst du, kann das himmlische Herz sich nicht bewegen, so antworte ich: Wie sollte der wahre Gedanke im Geviertzoll sich bewegen können! Bewegt er sich wirklich, so ist es nicht gut. Denn wenn die gewöhnlichen Menschen sterben, dann bewegt er sich, aber das ist nicht gut. Am besten ist es freilich, wenn das Licht sich schon zu einem Geistleib verfestigt hat und allmählich seine Lebenskraft die Triebe und Bewegungen durchdringt. Aber das ist ein Geheimnis, das seit Jahrtausenden nicht verkündet worden ist.

Das untere Herz bewegt sich wie ein starker mächtiger Feldherr, der den himmlischen Herrscher ob seiner Schwäche mißachtet und die Führung der Staatsgeschäfte an sich gerissen hat. Wenn es aber gelingt, das Urschloß zu festigen und zu wahren, so ist es, wie wenn ein starker und weiser Herrscher auf dem Thron sitzt. Die Augen bringen das Licht in Kreislauf wie zwei Minister zur Rechten und zur Linken, die mit aller Kraft den Herrscher stützen. Wenn so die Herrschaft im Zentrum in Ordnung ist, so werden alle jene aufrührerischen Helden mit umgekehrter Lanze sich einfinden, um ihre Befehle entgegen zu nehmen. Der Weg zum Lebenselixier kennt als höchsten Zauber das Samenwasser, das Geistesfeuer und die Gedankenerde: diese drei. Was ist das Samenwasser? Es ist des früheren Himmels wahre, eine Kraft (Eros). Das Geistesfeuer ist eben das Licht (Logos). Die Gedankenerde ist eben das himmlische Herz der mittleren Behausung (Intuition). Man benützt das Geistesfeuer zur Wirkung, die Gedankenerde als Substanz und das Samenwasser als Grundlage. Die gewöhnlichen Menschen erzeugen durch Gedanken ihren Leib. Der Leib ist nicht nur der sieben Fuß große äußere Körper. Im Leib ist die Anima. Die Anima haftet am Bewußtsein als ihrer Wirkung. Das Bewußtsein hängt von der Anima ab, um zu entstehen. Die Anima ist weiblich (Yin), die Substanz des Bewußtseins. Solange dieses Bewußtsein nicht unterbrochen wird, zeugt es immer weiter von Geschlecht zu Geschlecht, und der Anima Veränderungen der Gestalt und Wandlungen der Substanz sind unaufhörlich.

Daneben gibt es aber den Animus, in dem der Geist sich birgt. Der Animus wohnt bei Tag in den Augen, bei Nacht haust er in der Leber. Wohnt er in den Augen, so sieht er; haust er in der Leber, so träumt er. Die Träume sind Wanderungen des Geistes durch alle neun Himmel und alle neun Erden. Wer aber beim Wachen dunkel und versunken ist, gefesselt an die körperliche Gestalt, ist gefesselt von der Anima. Darum wird durch den Kreislauf des Lichts die Konzentration des Animus bewirkt und dadurch die Wahrung des Geistes; dadurch wird die Anima unterworfen und das Bewußtsein aufgehoben. Die Methode der Alten, um aus der Welt zu entkommen, bestand eben darin, die Schlacken des Dunkeln vollkommen zu schmelzen, um zum reinen Schöpferischen zurückzukehren. Das ist nichts weiter als ein Verringern der Anima und ein Völligmachen des Animus. Und der Kreislauf des Lichtes ist das Zaubermittel zur Verringerung des Dunkeln und Beherrschung der Anima. Auch wenn die Arbeit sich nicht auf die Zurückführung des Schöpferischen richtet, sondern sich auf das Zaubermittel des Kreislaufs des Lichtes beschränkt, so ist das Licht ja eben das Schöpferische. Durch seinen Kreislauf kehrt man zum Schöpferischen zurück. Wenn man diese Methode befolgt, so wird ganz von selbst das Samenwasser reichlich vorhanden sein, das Geistesfeuer sich entzünden und die Gedankenerde sich festigen und kristallisieren. Und die heilige Frucht kann so ausgetragen werden. Der Skarabäus dreht seine Kugel, und in der Kugel entsteht das Leben als Wirkung der ungeteilten Arbeit seiner geistigen Konzentration. Wenn nun selbst im Mist ein Embryo entstehen kann, der die Schalen verläßt, wie sollte da die Wohnstätte unseres himmlischen Herzens, wenn wir den Geist darauf konzentrieren, nicht auch einen Leib erzeugen können?

Das eine wirkende wahre Wesen (Logos in Verbindung mit Lebendigkeit), wenn es in die Behausung des Schöpferischen hinabsinkt, teilt sich in Animus und Anima. Der Animus ist im himmlischen Herzen. Er ist von der Natur des Lichten, er ist die Kraft des Leichten und Reinen. Das ist das, was wir von der großen Leere bekommen haben, das mit dem Uranfang von einer Gestalt ist. Die Anima ist von der Natur des Dunkeln. Sie ist die Kraft des Schweren und Trüben, sie ist verhaftet dem körperlichen fleischlichen Herzen. Der Animus liebt das Leben. Die Anima sucht den Tod. Alle sinnlichen Lüste und Zornesregungen sind Wirkungen der Anima, das ist der bewusste Geist, der nach dem Tode Blutnahrung genießt, aber während des Lebens in größter Not ist. Das Dunkle kehrt zum Dunkeln, und die Dinge ziehen sich nach ihrer Art an. Der Lernende aber versteht es, die dunkle Anima vollständig zu destillieren, daß sie sich in reines Licht (Yang) verwandelt.

In diesem Abschnitt wird die Rolle beschrieben, die der Urgeist und der bewu
sste Geist bei der Bildung des menschlichen Leibes spielen. Der Meister sagt: Das Leben des Menschen ist wie das einer Eintagsfliege, nur das wahre Wesen des Urgeists vermag dem Kreislauf von Himmel und Erde und dem Schicksal der Äonen zu entgehen. Das wahre Wesen geht hervor aus dem Unpolaren und empfängt des Polaren Urkraft, wodurch es das wahre Wesen von Himmel und Erde in sich aufnimmt und zum bewußten Geist wird. Es bekommt das Wesen von Vater und Mutter als Urgeist. Dieser Urgeist ist ohne Bewußtsein und Wissen, vermag aber die Bildungsvorgänge des Körpers zu regeln. Der bewußte Geist ist sehr offenbar und sehr wirksam und vermag sich unaufhörlich anzupassen. Er ist der Herr des Menschenherzens. Solang er im Leibe weilt, ist er der Animus. Nach seinem Abschied aus dem Leib wird er zum Geist. Der Urgeist hat, während der Leib ins Dasein tritt, noch keinen Embryo gebildet, in dem er sich verleiblichen könnte. So kristallisiert er sich im Unpolaren freien Einen.

Zur Zeit der Geburt atmet der bewußte Geist die Luftkraft ein, so wird er zur Behausung des Geborenen. Er wohnt im Herzen. Von da ab ist das Herz Herr, und der Urgeist verliert seinen Platz, während der bewußte Geist die Macht hat.

Der Urgeist liebt die Ruhe, der bewu
sste Geist liebt die und leichte Luftkraft steigt nach oben und schwebt zum Himmel empor, und er wird zum fünffach gegenwärtigen Schattengenius oder Schattengeist.

Wenn aber der Urgeist vom bewu
ssten Geist während des Lebens benützt wurde zur Habsucht, Verrücktheit, Begierde und Lust und alle möglichen Sünden getan hat, dann ist im Augenblick des Todes die Geisteskraft trüb und wirr, und der bewusste Geist fährt durch die untere Öffnung zur Tür des Bauchs mit der Luft zusammen hinaus. Denn wenn die Geisteskraft trüb und unrein ist, so kristallisiert sie sich nach unten, sie sinkt zur Hölle hinab und wird ein Dämon. Dann verliert nicht nur der Urgeist seine Art, sondern auch die Macht und Weisheit des wahren Wesens wird dadurch verringert. Darum sagt der Meister: Wenn es sich bewegt, so ist das nicht gut.

Wenn man den Urgeist bewahren will, so muß man unbedingt zuerst den erkennenden Geist unterwerfen. Der Weg, ihn zu unterwerfen, führt eben durch den Kreislauf des Lichtes. Wenn man den Kreislauf des Lichtes übt, so muß man Leib und Herz beide vergessen. Das Herz muß sterben, der Geist leben. Wenn der Geist lebt, so wird der Atem auf eine wunderbare Weise zu kreisen beginnen. Das ist, was der Meister das Allerbeste nennt Darauf muß man den Geist untertauchen lassen in den Unterleib (Sonnengeflecht). Dann verkehrt die Kraft mit dem Geist, und der Geist vereinigt sich mit der Kraft und kristallisiert sich. Das ist die Methode, wie man Hand anlegt. Mit der Zeit verwandelt sich der Urgeist in der Behausung des Lebens in die Wahre Kraft. Zu der Zeit muß man die Bewegung. Bei seinen Bewegungen bleibt er an Gefühle und Begierden gebunden. Tag und Nacht verbraucht er so den Ursamen, bis er die Kraft des Urgeistes ganz aufgebraucht hat. Dann verläßt der bewußte Geist die Schale und geht hinaus.

Wer im allgemeinen Gutes getan hat, dessen Geisteskraft ist, wenn es zum Tode kommt, rein und klar. Er fährt zu den oberen Öffnungen Mund und Nase aus. Die reine und leichte Luftkraft steigt nach oben und schwebt zum Himmel empor, und er wird zum fünffach gegenwärtigen Schattengenius oder Schattengeist.

Wenn aber der Urgeist vom bewußten Geist während des Lebens benützt wurde zur Habsucht, Verrücktheit, Begierde und Lust und alle möglichen Sünden getan hat, dann ist im Augenblick des Todes die Geisteskraft trüb und wirr, und der bewußte Geist fährt durch die untere Öffnung zur Tür des Bauchs mit der Luft zusammen hinaus. Denn wenn die Geisteskraft trüb und unrein ist, so kristallisiert sie sich nach unten, sie sinkt zur Hölle hinab und wird ein Dämon. Dann verliert nicht nur der Urgeist seine Art, sondern auch die Macht und Weisheit des wahren Wesens wird dadurch verringert. Darum sagt der Meister: Wenn es sich bewegt, so ist das nicht gut.

Wenn man den Urgeist bewahren will, so muß man unbedingt zuerst den
erkennenden Geist unterwerfen. Der Weg, ihn zu unterwerfen, führt eben durch den Kreislauf des Lichtes. Wenn man den Kreislauf des Lichtes übt, so muß man Leib und Herz beide vergessen. Das Herz muß sterben, der Geist leben. Wenn der Geist lebt, so wird der Atem auf eine wunderbare Weise zu kreisen beginnen. Das ist, was der Meister das Allerbeste nennt. Darauf muß man den Geist untertauchen lassen in den Unterleib (Sonnengeflecht). Dann verkehrt die Kraft mit dem Geist, und der Geist vereinigt sich mit der Kraft und kristallisiert sich. Das ist die Methode, wie man Hand anlegt. Mit der Zeit verwandelt sich der Urgeist in der Behausung des Lebens in die Wahre Kraft. Zu der Zeit muß man die Methode des Drehens des Mühlrades anwenden, um ihn zu destillieren, daß er zum Lebenselixier wird. Das ist die Methode der gesammelten Arbeit.

Wenn die Lebenselixierperle fertig ist, so kann der heilige Embryo sich bilden, dann muß man die Arbeit auf Erwärmung und Ernährung des geistigen Embryos richten. Das ist die Methode der Beendigung.

Wenn dann der Kraftleib des Kindes fertig gebildet ist, dann muß sich die Arbeit darauf richten, daß der Embryo geboren wird und ins Leere zurückkehrt. Das ist die Methode des Loslassens der Hand.

Das ist seit urältester Zeit bis heute die Reihenfolge des großen Sinns in der wirklichen Methode, es zu einem ewig lebenden unsterblichen Genius und Heiligen zu bringen, nicht leeres Gerede
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Wenn aber die Arbeit soweit gediehen ist, so ist alles dem dunklen Prinzip Angehörige gänzlich aufgezehrt und der Leib ist zum reinen Lichten geboren. Wenn der bewußte Geist sich in den Urgeist verwandelt hat, dann erst kann man sagen, daß er die unendliche Wandelbarkeit erlangt hat und dem Kreislauf entronnen es zum sechsfach gegenwärtigen goldenen Genius gebracht hat. Wenn man nicht diese Methode anwendet zur Veredlung, wie will man dann dem Weg des Geborenwerdens und Sterbens entrinnen?

Aus: Richard Wilhelm/C.G. Jung, Geheimnis der goldenen Blüte. Das Buch von Bewußtsein und Leben S.81-91)
Aus dem Chinesischen übersetzt und erläutert von Richard Wilhelm. Mit einem Kommentar von C. G. Jung
Diederichs Gelbe Reihe DG 64