Ludolf Wienbarg [ Pseudonym Freimund Vineta] (1802 – 1872)
Deutscher Schriftsteller und Theoretiker, der sich - nach einer Tätigkeit als Hauslehrer in Holland – in Kiel habilitierte und seine 22 Reden umfassenden Vorlesungen als »Ästhetische Feldzüge« veröffentlichte, in denen er den Begriff des »Jungen Deutschland« prägte, in dem er sie eingangs dem »Jungen Deutschland« widmete. Siehe auch Wikipedia und Projekt Gutenberg |
Ästhetische
Feldzüge
Fünfte Vorlesung
Es fehlt uns nicht an Philosophie, wenigstens nicht an Philosophen, es fehlt
uns nicht an Gelehrsamkeit, es fehlt uns an einem gemeinsamen Mittelpunkt der
Bildung, und Ursache dessen, es fehlt uns an gemeinsamen Leben.
Was ist der Zweck der Erziehung? Der Zweck der Erziehung
ist Vorbereitung auf den Zweck des Lebens.
Was ist Zweck des Lebens? Der Zweck
des Lebens ist das Leben selbst.
Scheint etwas einfacher zu sein als diese Antworten auf diese Fragen? Gewiss
nicht. Dennoch hat man den Ruf der Natur überhört und die künstlichsten
Systeme, Erziehungspläne und Lebensansichten auf die Bahn gebracht.
Leben wir, um zu lernen? Oder lernen wir vielmehr um zu leben?
Dass man
die Natur auf den Kopf stellen kann, um das erstere zu behaupten! Hat es doch
in Deutschland sogar den Anschein, als ob die Menschen der Bücher wegen
geboren würden. Kläglicher Irrtum, mönchische Verdumpfung, trauriger
Rest aus den Klosterzellen.
Leben, was ist Leben?
Kein Wort ist schwerer oder vielmehr weniger zu
definieren. Leben ist ein Hauch, ein wehender Atem, eine Seele, die Körper
baut, ein frisches, wonnigliches, tatkräftiges Prinzip, und wenn es jemand
nicht wüsste oder fühlte, er erinnere sich einer Stunde, wo sein
Herz voll aufging, wo seine Muskeln sich spannten, seine Augen glänzten
und ein männlicher Entschluss allen Hindernissen zum Trotz in seiner
Seele aufstieg; auch schlage er nur das Buch des Lebens auf, die Geschichte,
und frage nach den Griechen, nach den Römern, den Römern, die soviel
Tatenfülle auf einen kleinen Punkt der Welt, zwischen sieben armselige
Hügel zusammendrängten, dass sie damit das ganze Erdenrund überschnellten.
Die haben gelebt, und darum sind sie auch unsterblich.
Aber großartiges und ruhmvolles Leben, obwohl am würdigsten für
die Träume der Jugend, ist oft nur Resultat der Zeit und Umstände,
bei einzelnen wie bei ganzen Völkern. Es gibt ein Leben, das dem Griffel
der Geschichte keine Nahrung gibt und dennoch aus der
göttlichen Quelle entsprungen ist, aus der alles Lebendige abstammt. Sie
wissen aus Herodot, wie wenig dazu gehörte,
einem alten Perser im Sinne seines Volkes eine solche Lebensbildung zu geben.
Man gab ihm ein Pferd, Pfeil und Bogen, lehrte ihn die Wahrheit sprechen, und
damit war er fertig. Sollen wir mit christlichem Mitleid auf des armen Menschen
Unwissenheit herabsehen? Ich denke, wir lassen es bleiben. Ein Perser auf seinem
schnellen Ross, hinter Tigern durchs Gebirge streifend, Pfeil und Bogen
in den schlanken Händen, Augen voll Feuer, trotziges Lächeln auf den
von Lüge unentweihten Lippen, das war ein Mensch, auf den die Sonne, die
er anbetete, mit Lust und Wohlgefallen herabsah — wir würden eine
schlechte Rolle an seiner Seite spielen.
Das bloße Wissen, meine Herren, hat kein inneres Maß und Ziel, es
geht ins Unendliche, sein Stoff zerfließt in Zentillionenteilchen. Wie
manche Wissenschaft, ja wie mancher Ast einer früheren, erfordert gegenwärtig
eines Menschen volles Leben, tägliches und nächtliches Arbeiten und
Lernen, um sich des Stoffes nur einigermaßen zu bemächtigen.
Nun stellen Sie sich vor, wir hätten eine Welthistorie nach zweitausend
Jahren, die mit Begebenheiten so reich ausstaffiert wäre als das letzte
Jahrtausend, oder imaginieren Sie sich einen Professor, der a dato nach zweitausend
Jahren im Kollegio Welthistorie vorzutragen hätte — bedenken Sie,
dass nicht bloß Europa, dass auch Asien, Afrika, Amerika, die
Inseln der Südsee eine Geschichte haben werden, und wenn Sie auch der Ansicht
leben, daß die Geschichte sich immer mehr vergeistigen und die inneren
Umgestaltungen der Künste, Erfindungen, des Lebens befassen werde, bedenken
Sie, welche Flut von Erfindungen, Veränderungen, Evolutionen im Staatsleben,
in der Kunst, in der Wissenschaft müssen tausend Millionen gebildeter Menschen
in tausend und aber tausend Jahren beständiger Generationserneuerung hervorbringen,
und beurteilen Sie darnach die Angst und Verlegenheit besagten Professors der
Geschichte, wenn er das alles in einen halbjährigen oder einjährigen
oder dreijährigen akademischen Kursus einzwängen soll. Wie will er
es nur selbst zu einem Stückwerk von Gelehrsamkeit, zu einer oberflächlichen
Materialienkenntnis bringen in einem Fache, das so unendlich, unübersehlich
sein wird wie das Weltmeer, von so unzählbaren Einzelheiten wie Tropfen
darin.
Ins Unendliche teilen müsste man die gelehrte Arbeit, wie es in Fabriken
geschieht, wo der eine den Knopf, der andere den Schaft, der dritte die Spitze
der Nadel fabriziert. Der eine Professor verstände sich auf das Jahr 2000,
der andere auf das Jahr 1999, oder der eine wäre gelehrt in der Geschichte
aller großer Männer, deren Name mit dem Buchstaben A, der andere
in der Geschichte der berühmten Leute, deren Name mit dem Buchstaben Z
anfängt, und wie man sich noch weiter scherzhafterweise den lächerlichen
Wirrwarr entknäueln mag, der aus der ungeheuerlichen Menge und Zerfallenheit
des Stoffes mehr und mehr entspringen wird.
Also, Wissen als solches kann nicht Aufgabe und Zweck des Lebens sein, weil
dasselbe maßlos mit dem Anwachsen des Stoffes sich selbst zerstört
und aufhebt. Diesem maßlosen Wirken gegenüber steht ein Geist, dessen
Kräfte nur zu wohl gemessen und abgewogen sind. Die
Vergrößerung der Wissensmasse macht das menschliche Hirn nicht größer,
seine Kapazität bleibt dieselbe wie vor alters. O wie dieses gelehrte
Unwesen seit Jahrhunderten die edelsten Kräfte Deutschlands zur unfruchtbaren
Tantalusarbeit verurteilt hat, wie wir Deutsche aus wandernden Helden Stubensitzer,
aus Kriegern und Jägern lebenssieche, tatenscheue Magister geworden sind!
Hatten die Griechen nicht auch Gelehrte, Wissende? Ich meine. Aber kein griechischer
Gelehrter konnte sich dermaßen verknöchern, weil Welt und Studium
sich die Hand boten und die Palästra neben der Stoa sich befand. Die Wissenschaft
der Griechen war die Frucht ihres Lebens, uns ist sie der traurige Rest desselben.
Als jenes griechische Leben verfiel, als jenes schöne Herz stockte und
stillstand, da ward es in der Kapsel nach Ägypten gebracht, zu Alexandrien
einbalsamiert, und die trockene Mumie nannte Eratosthenes
Philologie. Meine Herren, als das Leben tot war, hielt die Gelehrsamkeit
Leichenschau.
Hätten wir nur das eine von den alten Griechen gelernt, das eine, wie wir
den Organismus unsers Geistes, die Einheit unsers Lebens über alles,
alles übrige aber danach zu schätzen wüssten, ob es sich
unserm Organismus lebendig verassimiliert.
Eine kleine Welt nennt man den Menschen, und man hat recht. Mikrokosmus könnte
und sollte der Mensch sein, denn eingeschlossen sind in seinem Wesen die Elemente
und die Kräfte des Alls, und er ist im buchstäblichen Sinn die ganze
Schöpfung im Auszug. Alles Geschaffene ist freilich Mikrokosmus, Stern,
Tier und Blume, doch in trüberer Gestalt und bewusstlos. So ist es,
und doch für uns ist der Ausdruck und die Wahrheit nur beschämend,
wir ahnen, was wir sein sollten, und fühlen, was wir nicht sind. Wir repräsentieren
nicht unsere eigene Welt, wir tragen nur eine fremde zur Schau, unsere Gebildeten,
unsere Dichter und Denker begnügen sich damit, die Welt in kalter Geschliffenheit
wieder abzuspiegeln, unsere Gelehrten dünken sich
eine Welt zu sein, wenn sie sich eine Welt von Gedanken, Sachen, Zahlen und
Wörtern in den Kopf gelernt haben.
Daher, klein genug sind wir, aber wo bleibt unsere Welt, die lebendig organische
Ganzheit, die gesunde, vollblühende Gegenwart? Die kleinste Alpenrose beschämt
uns. Sie hat ein pulsierendes Herz, Lebenseinheit, sie gleicht einer Welt im
Kleinen. Was uns geistig zusammenhält, ist nicht innerer Hauch, nicht polanische
Attraktion, sondern gemeine Kohäsion. Die Alpenrose mit ihren klaren, klugen
Augen ist auf ihre Weise auch nicht ungelehrt, sie ist eine kleine Studentin,
hört Kollegia über Felserde, Wetterkunde, Tautropfen, Frühlingsatem,
aber sie weiß alles besser in sucum et sanguinem
(in Fleisch und Blut)
zu vertieren, das ist bei uns nur eine schulfüchsige Redensart,
womit wir unser ödes, lateinisches Treiben selbst verspotten.
Das Leben ist des Lebens höchster Zweck, und höher
kann es kein Mensch bringen, als den lebendigen Organismus darzustellen. Kenntnisse
und Wissenschaften sind nicht für sich, sind nur für den Geist vorhanden,
dessen Trank und Speise sie sind. Der Geist ist kein Magazin, keine kalte, steinerne
Zisterne, die den Regen des Wissens auffängt, um sich damit bis an den
Rand zu füllen. Er gleicht einer Blume, die ihren Kelch den Tautropfen
aufschließt und aus den Brüsten der Natur Leben und Nahrung saugt.
Aufzublühen, ins Leben hineinzublühen, Farben auszustrahlen, Düfte
auszuhauchen, das ist die Bestimmung der Menschenblumen.
Wir haben uns herausstudiert aus dem Leben, wir müssen uns wieder hineinleben.
So gründlich, wie wir studieren, so gründlich sollen wir leben. Deutschland
war bisher nur die Universität von Europa, das Volk ein antiquarisches,
ausgestrichen aus der Liste der Lebendigen und geschichtlich Fortstrebenden.
Tausend Hände rührten sich, um der Vergangenheit Geschichte zu schreiben,
wenige Hände, um der Zukunft eine Geschichte zu hinterlassen. Deutschland
hatte nur Bibliotheken, aber kein Pantheon. Die Deutschen waren nur Zuschauer
im Theater der Welt, aber hatten selbst weder Bühne noch Spieler. Sie waren
stolz auf ihre Unparteilichkeit, ihre vorurteilsfreie Anerkennung und Würdigung
aller Lebens- und Kraftäußerungen fremder Nationen, aber sie selbst
wurden nicht wieder anerkannt, denn sie hatten keinen positiven Lebensgehalt
zur Rückanerkennung fremden Völkern zu bieten. Nur die Kraft mag anerkennen,
und sie erhöht ihren Wert, wenn sie es nicht unterlässt— die Schwäche muss.
Der Kräftige fragt den Schwächling nicht, ob
er ihn und seine Kraft gelten lassen will, dem Schwächling bleibt keine
Wahl, er muss, er sieht sich dazu gezwungen, aller Bettelstolz hilft
ihm zu nichts. Der kleinste Funke einer schöpferischen Lebenskraft hat
seinen Altar auf der Welt, seine Priester, Verehrer, aber ohne den ist alles
nichts.
Bloßes Wissen, sage ich, kann nicht Zweck der Erziehung, nicht Aufgabe
des Lebens sein, und ich habe unter Wissen bisher nur den Ballast historischer
Positivitäten verstanden, womit Deutschland zum Versinken befrachtet ist.
Es gibt aber ein dem historischen und dogmatischen Wissen entgegengesetztes
höheres, ein Wissen nicht des Gedächtnisses, sondern des Verstandes,
ein selbsttätiges, verstehendes Wissen, das man mit dem Namen des philosophischen
bezeichnet. Der tiefsten metaphysischen Seite desselben ist in voriger Stunde
mit schuldiger Ehrerbietung Erwähnung getan, sie führt vom Leben ab,
das liegt in ihrer Natur, und die Tatsache leidet keinen Zweifel; denn sie muss
die Welt erst zerstören, um sie aufzubauen, sie ist der Tod der Sinne und
der Sinnlichkeit, und schon Plato definierte sie als ein langsames Absterben
für die bunten und wechselnden Gestalten und Erscheinungen der Welt und
ein Festwerden in den Ideen der Ewigkeit. (siehe auch Zeichnung) Auch hängt sie in höherem
Grade, als eine bloß dialektische, kritische und psychologische Sekte
der modernen Philosophie zugestehen mochte, mit dem religiösen Mystizismus
eng zusammen.
Neben und außer der Philosophie, die sich in der Gesellschaft gleichsam
isoliert, herrscht ein weites Reich des Gedankens, das sich gleich jener über
den Zwang des Gegebenen, Historischen und Positiven erhebt, keinesweges aber
mit ihr gleichsam an die äußersten Grenzen der erschaffenen Welt
verliert, sondern in der Mitte und Fülle der lebendigen Schöpfung
stehenbleibt und sich an den organischen und gebildeten Naturen derselben erfreut.
Auch hier ist Zweck und Resultat ein Wissen, und zwar ebenfalls ein solches,
das sich sowohl durch die Analogie der Erscheinungen als durch die Harmonie
mit den Gesetzen unseres Denkvermögens bewährte, ein Wissen, zu dem
am Ende auch die abstrakte Philosophie gelangen muss, wenn sie, .wie Herbart in Königsberg dies witzig und scharfsinnig ausgedrückt hat, wenn sie
Rechnungsproben zu ihren allgemeinen Sätzen sucht. Es hat dieses Wissen
bald die Natur, bald den Staat und die Gesellschaft, bald die einzelnen Produktionen
derselben, die Werke der Kunst, Beredsamkeit und Poesie im Auge. Es zerstört
nicht das Gegebene, es erhebt sich nur über dasselbe, es lässt
sich in freie Betrachtungen ein, es untersucht, urteilt, prüft und vergeistigt
sich den Stoff, indem es ihn geistig bearbeitet und reproduziert.
Der Naturforscher untersucht den Organismus der Pflanzenwelt, die Metamorphosen
eines Gewächses, die Brechungen des Lichts, die Kristallisationen des Flüssigen,
und es ist überall sein höchstes Bemühen, den organischen Zusammenhang
und die Identität des Mannigfaltigen an einem Werke, einer Erscheinung
der Natur aufzufassen. So untersucht und erforscht der Politiker den Organismus
des Staats, der Ästhetiker den Organismus der Kunst und die Gesetze und
Bedingungen, unter denen sich die Kunstschönheit entfaltet. Zweck und Resultat
alles dessen ist und bleibt das Wissen, so sehr es sich auch durch Frische und
Individualität vom abstrakten und gar geistlosen historischen Wissen unterscheidet.
Aber auch dieses Wissen, das Kennzeichen der Bildung, das allgemeinste Erfordernis,
um auf den Namen eines denkenden und gebildeten Menschen Anspruch zu machen,
habe man sich nunmehr auf die eine oder auf die andere Seite desselben geworfen, ist nicht und ersetzt nicht das Leben; wenn sie auch in
naturgemäßem Zustande denkbar wäre, ohne Voraussetzung des letzteren.
Denn es ist der Mensch nicht bloß der Spiegel, der
die Schöpfung reflektiert und geistig wieder auffaßt, er ist ja selbst
eine Schöpfung, und ihm angeboren ist das Recht und die Kraft, selbst etwas
für sich zu sein und unter den Existenzen der Welt seinen Platz einzunehmen. Er soll sich dort behaupten durch selbsteigene schöpferische Tätigkeit,
er soll, da wo er geboren ist, mit den Füßen Wurzel fassen in der
Gegenwart und die Hand rühren zu Werken, welche sein flüchtiges Dasein
beurkunden, er soll sich freuen an menschlicher Tat, sich hingeben menschlichem
Genusse, das Spiel seiner Kräfte entfalten, für Recht und Wahrheit
in die Schranken treten, die Unschuld lieben, die Tugend ehren, die Lüge
hassen, die Bosheit entlarven, den Frevel rächen, die Gefahr verachten
und wenn‘s nötig sein Leben für die höchsten Güter,
sei‘s zur Erringung oder Behauptung derselben, für Freiheit und Vaterland
in die Schanze zu schlagen.
Wir sind nicht bloß auf die Welt gesetzt, um über die Welt zu räsonieren,
um Philosophen, Naturforscher, Arzte und Politiker zu sein. Die Welt geht ihren
Gang ohne uns, wir sollten nur mehr unsern eigenen Gang gehen, die Sinne schärfen,
die Kraft ausbilden und Kraft gegen Kraft abreiben. Um das Denken und die humane
Bildung ist es eine schöne Sache, aber fehlt ihr der Mittelpunkt, fehlt
ihr das Herz, das Leben, der ungebrochene starke Wille, so ist das Denken nur
ein Spiel und die Bildung ohne Gehalt. Denke dir den Blitz und fühle ihn,
sagt ein Schwede, und das Wort ist selbst ein Blitz, das man denkend fühlt.
Das Leben ist des Lebens höchster Zweck, kein
Wissen und keine Wissenschaft, keine Bildung ersetzt den Fond des Lebens, könnte
sie auch ohne Voraussetzung des letzteren im naturgemäßen Zustande
gedacht werden.
Allein, meine Herren, das kann keine Wissenschaft. Nur im Element des Lebens
bilden sie sich naturgemäß, außer diesem sind es künstliche
Gewächse, die mehr oder minder die Flecken und Gebrechen der Willkür,
der Unnatur, der Geschmacklosigkeit an sich tragen. Das Leben rächt sich
an seinen Verächtern, und seine Rache besteht darin, dass es die großen,
einfachen Wahrheiten, die sonst jedermann einleuchten, mit einem Nebel von Vorurteilen
verhüllt und sie dem Auge der Naturforscher, der Philosophen, der Politiker,
der Ästhetiker entzieht.
Zum schlagenden Beweise führe ich die unnatürliche Geschmacklosigkeit
an, die in den letztvergangenen zwei Jahrhunderten in allen Kreisen der Kunst
und Wissenschaft an der Tagesordnung war. Die Politik, diese hohe Wissenschaft,
die den vollkommensten aller Organismen, den Staat, analysieren soll, wie konnte
sie sich zu der Höhe dieser Bedeutung aufschwingen, da die europäischen
Staaten so unendlich tief unter ihr standen und ein französischer König
mit edler Dreistigkeit zu behaupten sich unterstand: »L‘état
c‘est moi.«
Was konnte sie anders sein zu dieser Zeit als ein trauriges Abbild dieses höfischen
Ichs, das sein gepudertes Haupt aus allen Fenstern und Erkern des Staatsgebäudes
heraussteckte, als eine Wissenschaft des Despotismus, der Intrige, der Geheimniskrämerei,
als eine Satire auf den Staat?
Und die Ästhetik, die Lehre des Geschmacks, die Analyse der Schönheit,
konnte sie auch nur im entferntesten der Idee entsprechen, zu einer Zeit, wo
die Natürlichkeit der menschlichen Lebensäußerungen untergegangen
war im steifsten Zeremoniell, wo nichts sich rührte und regte als auf den
Wink pedantischer Zuchtmeister, wo man schwarze Lappen auf geschminkten Wangen
Schönpflästerchen nannte und die Damen ihre Hüften mit ungeheuern
Reifbändern umgaben, wo das Volk sich in die Pfütze warf, wenn abgeschmackte
goldene Karossen mit betreßten und bezopften Hanswürsten hinterm
Kutschenschlag vorüberrasselten, wo im ausbrechenden Kriege die Generale
und Kondottieris miteinander Schach spielten, moderne Helden, die durch Mätressen
ebensooft ihre Stelle erhielten als verloren und noch öfter die Feldzugspläne
aus dem Schlafgemach des Königs ins Lager mitnahmen.
Wie war zu dieser Zeit eine schöne Natur möglich in Frankreich oder
gar in Deutschland, wo man sich der plumpesten Nachahmung des französischen
Unsinnes hingab. Wie war zu dieser Zeit ein Künstler, ein Dichter möglich
und nun gar ein Ästhetiker, der doch der Schönheit, der Kunst, der
Poesie nicht gesetzgeberisch vorauf, sondern gesetzempfangend hintennach geht.
Sie werden vom Abbé Batteux gehört
haben. Sein »Unique principe des belles lettres«
war einmal ein europäisch berühmtes Werk der Ästhetik,
und Ramler hat es in vier deutsche Bände gebracht.
Dieser Abbé nannte die Nachahmung der Natur, und zwar der schönen
Natur, das einzige große ästhetische Prinzip, das den Arbeiten des
Geschmackes zugrunde gelegt werden müsse. Lesen Sie das Werk eines sonst
geistreichen Mannes, das noch immer die Art von Verachtung nicht verdient, womit
man gegenwärtig davon spricht, was das eigentlich mit der schönen
Natur und ihrer Nachahmung auf sich hatte und in einer Epoche auf sich haben
konnte, als alle wirkliche Natur aus dem Leben geschwunden war und Malerei,
Bildhauerei, Musik, Poesie, Baukunst, Gartenkunst und was es sonst für
Künste gibt, die an einem gegebenen Stoff das Schöne verwirklichen
wollen, unglaublich verschroben und manieriert waren.
Diderot und Rousseau hießen die beiden unsterblichen Männer, die sich aus der Unnatur
ihres Jahrhunderts zuerst herausrissen. Rousseaus »Emile«
legte den Grund zu einer neuen Erziehung der europäischen Jugend,
sein »Contrat social« den Grund zur Französischen Revolution, dem Todesstoß der europäischen Tyrannis
in Kunst, Sitte und Staat. Für die Deutschen ging zu gleicher Zeit Shakespeare auf und damit ein flutendes Luftmeer von Genien und Kräften, woran die
unersättlichste Phantasie ewigen Stoff zur Schwelgerei findet.
Lange Zeit nahm man den Genuss nur so hin, ohne über die Quelle desselben
nachzudenken; so wie man sich auch die Französische Revolution mit der
Phantasie aneignete, ohne etwas Arges dabei zu denken und ohne aus der Schläfrigkeit
des bürgerlichen Lebens zu erwachen. Dann aber kam eine Zeit, und sie dauert
fort, wo man sich fragt, woher stammt diese Fülle von Leben und Kraft,
die uns an Shakespeare entzückt und seine
dichterischen Gebilde so lebensderb, so kühn, so unübertrefflich macht?
Und da lautete die Antwort: das hat er sich nicht auf seinem Stübchen zusammengedichtet,
das hat er nicht aus dem Stegreif phantasiert, das hat er gelernt und herausgeschaut
aus dem wildbewegten, großartigen Leben, das seine Jugendträume umflatterte
und ihn später als Jüngling und Mann in seine Mitte aufnahm.
Und so kommt uns von allen Seiten die Bestätigung zu, dass das Leben das Höchste ist und allem übrigen, wenn es gedeihen soll, zugrunde
liegen muss, geschweige der Kunst, der Schönheit und der sich mit
ihr beschäftigenden Ästhetik.
Und so schließe ich diese Vorlesung mit den Schlussworten der vorigen:
Es fehlt uns an einem gemeinsamen Mittel der Bildung, weil es uns an gemeinsamem
Leben fehlt. Doch schon diese Einsicht, die sich immer mehr verbreitet, ist
ein Schritt zur Besserung, und dieselbe, zur höchsten Evidenz und Klarheit
gebracht, die ein jeder ihr zu geben imstande ist, steht schon damit in der,
die Vorhalle derjenigen Wissenschaft, welche, unter Voraussetzung eines rechten
und tüchtigen Lebens, die Schönheit der Bildungen in Leben und Kunst
aufweiset und erläutert, der Ästhetik.
Quelle: Ludolf Wienbarg, Ästhetische Feldzüge.
Hrsg. von Walter Dietze. Berlin u. Weimar: Aufbau-Verlag 1964. S. 46—56.
Auch enthalten in: Deutsche Reden, Teil I. Von Berthold von Regensburg bis Ludwig
Uhland. Herausgegeben von Walter Hinderer Reclams Universalbibliothek Nr. 9672-78
© 1973 Philipp Reclam jun., Stuttgart S.459ff.