Max Weber
(1864 – 1920)
>>>Gott
Die Erlösungswege
Die Erlösung kann ferner vollbracht werden nicht durch eigene Werke - welche
dann als zu diesem Zweck völlig unzulänglich gelten -, sondern durch
Leistungen, die entweder ein begnadeter Heros oder geradezu ein inkarnierter
Gott vollbracht hat und die seinen Anhängern als Gnade ex opere operato
zugute kommen. Entweder als direkt magische Gnadenwirkungen oder indem aus dem
Ueberschuß der durch Leistungen verdienten Gnaden des menschlichen oder
göttlichen Heilandes Gnade gespendet wird.
Im Dienst dieser Art von Erlösung steht die Entwicklung der soteriologischen [das Erlösungswerk betreffenden] Mythen,
vor allem der Mythen vom kämpfenden oder leidenden, vom menschwerdenden
oder zur Erde niedersteigenden oder in das Totenreich hinabfahrenden Gott in
seinen mannigfachen Formen. Statt eines Naturgottes, besonders eines Sonnengottes,
der mit anderen Naturmächten, namentlich also mit Finsternis und Kälte
ringt und dessen Sieg den Frühling bringt, ersteht auf dem Boden der Erlösungsmythen
ein Retter, der aus der Gewalt der Dämonen (wie Christus), oder aus der
Verknechtung unter die astrologische Determiniertheit des Schicksals (die sieben
Archonten der Gnostiker), oder, im Auftrag des verborgenen gnädigen Gottes,
aus der ihrer Anlage nach durch den minderwertigen Schöpfungsgott (Demiurg
oder Jehova) verderbten Welt (Gnosis), oder aus der hartherzigen Verstocktheit
und Werkgerechtigkeit der Welt (Jesus) und der Bedrücktheit von dem durch
das Wissen um die Verbindlichkeit ihrer unerfüllbaren Gesetzesforderungen
erst entstandenen Sündenbewußtsein (Paulus, etwas anders auch Augustin,
Luther) von der abgrundtiefen Verderbtheit der eigenen sündigen Natur (Augustin)
den Menschen zur sicheren Geborgenheit in der Gnade und Liebe des gütigen
Gottes führt. Der Heiland bekämpft dazu, je nach dem Charakter der
Erlösung, Drachen und böse Dämonen, muß unter Umständen,
da er ihnen nicht alsbald gewachsen ist (er ist oft ein sündenreines Kind),
erst im Verborgenen heranwachsen oder von den Feinden geschlachtet werden und
in das Totenreich fahren, um von dort erst wieder siegreich aufzuerstehen. Daraus
kann sich die Vorstellung entwickeln, dass sein Tod ein Ablösungstribut
für das durch die Sünde erworbene Anrecht des Teufels auf die Seele
des Menschen sei (altchristlich). Oder umgekehrt: sein Tod ist das Mittel, den
Zorn Gottes zu versöhnen, bei dem er Fürsprecher ist, wie Christus,
Muhammed und andere Propheten und Heilande. Oder er bringt den Menschen, wie
die alten Heilande der magischen Religionen, die verbotene Kenntnis des Feuers
oder der technischen Künste oder der Schrift, so seinerseits die Kenntnis
der Mittel, die Dämonen in der Welt oder auf dem Wege zum Himmel zu überwinden
(Gnosis). Oder endlich seine entscheidende Leistung liegt nicht in seinem konkreten
Kämpfen und Leiden, sondern in der letzten metaphysischen Wurzel des ganzen
Vorgangs: in der Menschwerdung eines Gottes rein als solcher (Abschluß
der hellenischen Erlösungsspekulation bei Athanasius) als dem einzigen
Mittel, die Kluft zwischen Gott und aller Kreatur zu schließen. Gottes
Menschwerdung gab die Möglichkeit, den Menschen wesenhaften Anteil
an Gott zu verschaffen, »die Menschen zu Göttern werden zu lassen«,
heißt es schon bei Irenäus, und die nachathanasianische Philosophenformel:
er habe durch Menschwerdung das Wesen (die platonische Idee) des Menschentums
an sich genommen. ...
Oder der Gott begnügt sich nicht mit einem einmaligen Akt der Menschwerdung,
sondern in Konsequenz der Ewigkeit der Welt, wie sie dem asiatischen Denken
fast durchweg feststeht, inkarniert er sich in Zwischenräumen oder auch
kontinuierlich aufs neue: so die Idee des Bodhisattva, konzipiert im mahâyânischen
Buddhismus (einzelne Anknüpfungen schon in gelegentlichen Aeußerungen
des Buddha selbst, in welchem der Glaube an die begrenzte Dauer seiner Lehre
auf Erden hervorzutreten scheint). Der Bodhisattva wird dabei gelegentlich als
das höhere Ideal gegenüber dem Buddha hingestellt, weil er auf das
nur exemplarisch bedeutsame eigene Eingehen in das Nirvâna verzichtet
zugunsten seiner universellen Funktion im Dienst der Menschen: auch hier also
»opfert« sich der Erlöser. Wie nun aber seinerzeit der Jesuskult
den Erlösern der anderen konkurrierenden soteriologischen Kulte schon dadurch
überlegen war, daß hier der Heiland ein leibhaftiger, von den Aposteln
persönlich als von den Toten auferstanden gesehener Mensch war, so ist
die kontinuierlich leibhaftig lebende Gottesinkarnation im Dalai Lama das logische
Schlußglied jeder Inkarnationssoteriologie. Aber auch, wo der göttliche
Gnadenspender als Inkarnation lebt, und erst recht, wo er nicht mehr kontinuierlich
auf Erden weilt, bedarf es angebbarer Mittel für die Masse der Gläubigen,
seiner Gnadengaben nun auch persönlich teilhaftig zu werden. Und diese
Mittel erst entscheiden über den Charakter der Religiosität, sind
aber untereinander sehr mannigfaltig.
Wesentlich magisch ist die Vorstellung, daß man durch physischen Genuß
einer göttlichen Substanz, eines heiligen Totemtiers, in dem ein machtvoller
Geist inkarniert war, oder einer durch Magie in den göttlichen Leib verwandelten
Hostie sich selbst Götterstärke einverleiben oder daß man durch
irgendwelche Mysterien seines Wesens direkt teilhaftig und dadurch gegen die
bösen Mächte gefeit werden könne (»Sakramentsgnade«).
Die Aneignung der Gnadengüter kann dann magische oder ritualistische Wendung
nehmen und bedarf jedenfalls neben dem Heiland oder dem inkarnierten lebenden
Gott noch der menschlichen Priester oder Mystagogen. Der Charakter der Gnadenspendung
hängt dann weiter erheblich davon ab, ob von diesen Mittlern zwischen den
Menschen und dem Heiland auch ihrerseits der persönliche Besitz und die
Bewährung charismatischer Gnadengaben verlangt wird, so dass derjenige,
der ihrer nicht teilhaftig ist, der Priester z.B., der in Todsünde lebt,
die Gnade nicht vermitteln, das Sakrament nicht gültig spenden kann. Diese
strenge Konsequenz (charismatische Gnadenspendung) zog z.B. die Prophetie
der Montanisten, Donatisten und überhaupt die aller, auf dem Boden der
prophetisch-charismatischen Herrschaftsorganisation der Kirche stehenden, Glaubensgemeinschaften
der Antike: nicht jeder bloß durch »Amt« anstaltsmäßig
und äußerlich beglaubigte Bischof, sondern allein der durch Prophetie
oder die anderen Zeugnisse des Geistes Beglaubigte kann wirksam Gnade spenden,
zum mindesten im Fall einer Todsünde des Gnadesuchenden. Sobald von dieser
Forderung abgesehen wird, befinden wir uns bereits auf dem Boden einer anderen
Auffassung. Die Erlösung erfolgt dann durch Gnaden, welche eine, ihrerseits
durch göttliche oder prophetische Stiftung beglaubigte, Anstaltsgemeinschaft
kontinuierlich spendet: Anstaltsgnade. Sie kann ihrerseits wieder direkt
durch rein magische Sakramente oder kraft der ihr übertragenen Verfügung
über den Thesaurus der überschüssigen, gnadenwirkenden Leistungen
ihrer Beamten oder Anhänger wirken. Immer aber gelten bei konsequenter
Durchführung die drei Sätze:
1. extra ecclesiam nulla salus. Nur durch Zugehörigkeit zur Gnadenanstalt
kann man Gnade empfangen. –
2. Das ordnungsmäßig verliehene Amt und nicht die persönliche
charismatische Qualifikation des Priesters entscheidet über die Wirksamkeit
der Gnadenspendung. –
3. Die persönliche religiöse Qualifikation des Erlösungsbedürftigen
ist grundsätzlich gleichgültig gegenüber der gnadenspendenden
Macht des Amts. Die Erlösung ist also universell und nicht nur den religiösen
Virtuosen zugänglich.
Der religiöse Virtuose kann sogar leicht und muß jedenfalls dann,
wenn er auf eigenem besonderen Wege zu Gott zu gelangen hofft, statt letztlich
auf die Anstaltsgnade zu vertrauen, in seinen Heilschancen und in der Echtheit
seiner Religiosität sehr gefährdet erscheinen. Das, was Gott verlangt,
so weit zu erfüllen, daß das Hinzutreten der gespendeten Anstaltsgnade
zum Heil genügt, müssen prinzipiell alle Menschen zulänglich
sein. Das Niveau der erforderlichen eigenen ethischen Leistung kann also dann
nur nach der Durchschnittsqualifikation, und d.h. ziemlich tief gegriffen werden.
Wer mehr leistet, also der Virtuose, kann dadurch außer dem eigenen Heil
noch Werke für den Thesaurus der Anstalt vollbringen, aus dem diese dem
Bedürftigen spendet. - Dies ist der spezifische Standpunkt der katholischen
Kirche, der ihren Charakter als Gnadenanstalt konstituiert und in jahrhundertelanger
Entwicklung, abschließend seit Gregor dem Großen, festgelegt ist,
in der Praxis schwankend zwischen mehr magischer und mehr ethisch-soteriologischer
Auffassung. - Wie nun aber die charismatische Gnadenspendung und die Anstaltsgnadenspendung
die Lebensführung beeinflussen, hängt von den Voraussetzungen ab,
an welche die Gewährung der Gnadenmittel geknüpft wird. Die Verhältnisse
liegen also ähnlich wie beim Ritualismus, mit welchem Sakramentsgnade und
Anstaltsgnade denn auch intime Wahlverwandtschaft zeigen. Und noch in einem
unter Umständen wichtigen Punkt fügt jede Art von eigentlicher Gnadenspendung
durch eine Person, einerlei ob charismatisch oder amtlich legitimiert, der ethischen
Religiosität eine in der gleichen Richtung wirkende, die ethischen Anforderungen
abschwächende Besonderheit hinzu. Sie bedeutet stets eine innere Entlastung des Erlösungsbedürftigen, erleichtert ihm also das Ertragen von Schuld
und erspart ihm unter sonst gleichen Verhältnissen wesentlich mehr die
Entwicklung einer eigenen ethisch systematisierten Lebensmethodik. Denn der
Sündigende weiß, daß er von allen Sünden immer wieder
durch ein religiöses Gelegenheitshandeln Absolution erhalten kann. Und
vor allem bleiben die Sünden einzelne Handlungen, denen andere einzelne
Handlungen als Kompensation oder Buße gegenübergestellt werden. Nicht
der gesamte, durch Askese oder Kontemplation oder beständig wache Selbstkontrolle
und Bewährung stets neu festzustellende Habitus der Persönlichkeit,
sondern das konkrete einzelne Tun wird gewertet. Es fehlt daher die Nötigung,
die certitudo salutis selbst, aus eigener Kraft, zu erringen und diese ganze,
ethisch so wirksame Kategorie tritt überhaupt an Bedeutung zurück.
Die unter Umständen sehr nachdrücklich wirksam gewesene ständige
Kontrolle der Lebensführung durch einen Gnadenspender (Beichtvater, Seelendirektor)
wird sehr oft weit überkompensiert durch den Umstand, daß eben immer
erneut Gnade gespendet wird.
Aus: Max Weber: Grundriß der Soziologie, Wirtschaft
und Gesellschaft, Zweiter Teil, Kapitel V Religionssoziologie, § 10 (S.
1126-1133)
Digitale Bibliothek Band 58: Max Weber, Gesammelte Werke
Veröffentlichung auf Philo-Website mit freundlicher Erlaubnis des Verlages
der Directmedia Publishing GmbH, Berlin