Johannes Immanuel Volkelt (1848 – 1930)

Deutscher Philosoph, der in seinen frühen Studienjahren sehr stark von Hegels systematischem Denken und seiner pantheistischer Weltsicht sowie von Eduard v. Hartmanns Philosophie des Unbewussten beeinflusst wurde. Während seiner Kantstudien fand in seinem Denken ein Umschwung zur erkenntnistheoretischen Seite statt und der »dogmatische Metaphysiker wurde zum Erkenntnistheoretiker«, der eine kritische Metaphysik entwickelte, die er später als »subjektivistischen Transsubjektivismus« bezeichnete. In seiner »erkenntnistheoretischen Erleuchtung« war ihm »der grundlegende Unterschied zwischen Subjektiv und Transsubjektiv« bewusst geworden. Er erkannte, dass das Bewusstsein nicht sich selbst zu überschreiten vermag und deshalb nur von den eigenen Bewusstseinsvorgängen eine subjektive Gewissheit haben kann. Diese kann nur über die Denknotwendigkeit von anderen Wesen transsubjektiv beeinflusst werden. Er kommt zu der Auffassung, »dass das Denken in nichts anderem als in dem sachlich-notwendigen Erschließen des Transsubjektiven bestehe«. Seine originellen Beiträge zum System der Ästhetik sind beachtenswert.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Wirklichkeit als Selbstverwirklichung des absoluten Wertes
Das Tragische in Welt und Gott
Die Tragik im Weltgrunde, Die irrationale Natur des Endlichen, Die Überwindung des Tragischen in Gott

Wirklichkeit als Selbstverwirklichung des absoluten Wertes
Alle meine größeren Schriften berühren mehr oder weniger das metaphysische Fragengebiet. Seit Jahrzehnten schwebt mir als Ziel vor Augen, eine zusammenhängende Metaphysik als letzten reifsten Lebensertrag zu geben. Ich fürchte, daß es dazu nicht kommt. Ich werde zufrieden sein, wenn die noch vor mir liegende Lebensstrecke mir erlauben wird, einige besondere Fragen der Metaphysik zu behandeln. Vor allem schweben mir das Problem der Zeit und das principium individuationis vor.

Als mir vor Jahrzehnten die Gewißheit aufging, dass ein absolut Unbewußtes unmöglich der Ursprung des Bewußtseins sein könne, empfand ich diesen Gedanken als wahrhaft befreiend. Seither steht mir fest, dass dem Absoluten Weltbewußtsein und Selbstbewußtsein zuzuerkennen ist. Das erst nur an sich bewusste Absolute, sich durch sein Weltbewusstsein Selbstbewusstsein vertiefend: so könnte ich meine Überzeugung zusammenfassen. Damit verknüpft sich mir der Fichtesche Gedanke, daß das Sein im Sollen wurzelt. Mir gilt die Wirklichkeit als Selbstverwirklichung des absoluten Wertes. Der absolute Wert und das absolute Selbstbewußtsein fallen zusammen. Es ist nur Eines da: der sich selbstbewußt verwirklichende absolute Wert oder das sich im absoluten Wert verwirklichende absolute Selbstbewusstsein. Fragt man aber, welchen Inhalt der absolute Wert habe, so wird man antworten dürfen, dass er etwas der Liebe Verwandtes oder vorsichtiger gesagt: der Liebe Analoges ist. Im Schlussbande des »Systems der Ästhetik« führe ich diese Gedanken aus.
Zum mindesten ebensosehr aber hat mich seit jeher die Frage beschäftigt, wie Endlichkeit, Zeitlichkeit, Schmerz und Böses mit einer solchen Weltanschauung in Einklang zu bringen seien.

Das Problem des Irrationalen, Sinnwidrigen, Nichtseinsollenden, Widerspruchsvollen in der Welt birgt Schwierigkeiten beunruhigendster Art. Besonders im Schlussabschnitt der »Ästhetik des Tragischen« habe ich hierzu Stellung zu nehmen versucht. Man muß sich, so glaube ich, entschließen, in dem innersten Kern des Seins, in dem Absoluten selbst, eine wesensnotwendige Tendenz irrationaler Art anzunehmen. Ohne innere Zwiespältigkeit kann es zu Wirklichkeit überhaupt nicht kommen. Aber das Irrationale ist nicht das Letzte, nicht das Ausschlaggebende, sondern es ist ein zwar wesensnotwendiges, aber zur Überwindung bestimmtes und vom Standpunkte des Absoluten auch immerdar überwundenes Moment. Ich drücke dies in der »Ästhetik des Tragischen« bildlich so aus, daß ich Gott mit einem tragischen Helden vergleiche, der an seinem gespaltenen Ich leidet und mit einer verdunkelnden, stürzenden Gegenmacht, die ihm aus seinem Innern ersteht, zu kämpfen hat, aber zugleich über das Tragische hinauswächst, indem er seiner Zwiespältigkeit Herr wird und sie in Versöhnung und Heil hinüberführt. Ich bin mir der Verwandtschaft dieser Gedanken teils mit Hegel, teils mit dem späteren Schelling, in gewissem Sinne auch mit Hartmann bewusst.

Beide Gedankengänge, jenen ausschlaggebend optimistischen und diesen verhältnismäßig pessimistischen, halte ich für gleicher¬maßen notwendig. Daß es mir freilich gelungen sei, sie miteinander in philosophisch befriedigender Weise in Einklang zu bringen, wage ich nicht zu behaupten.

Auch auf Religionsphilosophisches in engerem Sinne komme ich in einigen unter meinen Schriften zu sprechen. Außerdem sind zwei kleine Schriftchen »Was ist Religion?« (1913) und »Religion und Schule« (1919) ausschließlich religionsphilosophischen Fragen gewidmet. Vor allem liegt mir daran, das unersetzlich Eigenartige der religiösen Bewußtseinsverfassung zu begründen und ferner: den Anspruch der religiösen Vorstellungen auf Wahrheitsgehalt zu erweisen. Meine Ausführungen sind daher gegen jene beliebten modernen Strömungen gerichtet, welche in der Religion nur eine Folgeerscheinung aus sittlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Verhaltungsweisen erblicken, und ebenso gegen die gleichfalls weitverbreitete Anschauung, wonach die Religion nichts als eine edle Gefühlswallung, also im Grunde eine Illusion ist. Auch zum Christentum nehme ich Stellung und komme zu dem Ergebnis, daß innerhalb eines freier aufgefaßten Christentums meine Über¬zeugung von Gott und göttlichen Dingen durchaus ihre Stelle finde. So trete ich denn auch mit Wärme für Erteilung des christlichen Religionsunterrichts in der Schule ein
. S.23f.
Aus: Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Mit einer Einführung herausgegeben von Dr. Raymund Schmidt
Erster Band: Paul Barth / Erich Becher / Hans Driesch / Karl Joel / A. Meinong / Paul Natorp / Johannes Rehmke / Johannes Volkelt, Leipzig / Verlag von Felix Meiner / 1921

Das Tragische in Welt und Gott
Die Tragik im Weltgrunde
Wer den Weltgrund als das reine Gut, als klare Vernunft, als lauteren, seligen Geist auffasst, für den hat der Weltgrund keine Verwandtschaft mit dem Tragischen. Das Tragische hat zu seinem Wesen Widerstreit und Kampf; die zwiespältigen und bis in die Wurzeln zerrissenen Charaktere sind vorzugsweise auf starke Tragik angelegt. Ist daher der Weltgrund schlechtweg in sich einig, ohne Bruch und Widerspruch, so besteht nicht die geringste Veranlassung, ihn unter den Begriff des Tragischen zu bringen. Vollends aber entbehrt der als blinde, unintelligente Naturmacht aufgefasste Weltgrund jeglicher Beziehung zum Tragischen.

Haben wir uns nun aber wirklich den Weltgrund als etwas ungebrochen Einiges, als etwas friedlich Gegensatzloses vorzustellen? Ich gestehe: je stärker und vielseitiger ich das erfahrungsgemäße Weltbild auf mich wirken lasse, um so mehr befestigt in mir die Überzeugung, dass Gegensatz, Zwiespalt und Negation, die allenthalben die Erfahrungswelt kennzeichnen, sich bis in das Weltinnerste, bis in Gott hineinerstrecken. Ich vermag nicht einzusehen, wie es zu Endlichkeit, Zeitlichkeit, Einzelheit, zu Schmerz und zu Bösem hätte kommen können, wenn der Weltgrund reines, positives, gegensatzloses Sein wäre. Fasst man den Urgrund allen Seins als Harmonie ohne Missklang, als ein unzwiespältig Gutes, als durch und durch sinnvolle Vernunft auf, so ist es meines Erachtens unmöglich, zu verstehen, wie diese von Endlichkeit heimgesuchte Welt zustande kommen konnte – diese Welt, die , wohin wir auch blicken, uns kündet, dass zu ihrem Sinn als eine wesentliche Seite die Nichtigkeit gehört. Vielleicht bringt man den zwiespältigen, gebrochenen Charakter des Seinsgrundes am zutreffendsten durch den Begriff des Irrationalen zum Ausdruck. Unter dem Irrationalen verstehe ich nicht den Gegensatz des Logischen überhaupt; als weder das Alogische noch das Antilogische. Vielmehr nehme ich das Irrationale in einem weit engeren Sinne. Das Irrationale bedeutet den Gegensatz zu der Vernunft als dem Inbegriff der absoluten Werte, der heilvollen Zwecke, der sinnvollen Geltungen; es bedeutet also das Zweckwidrige, das Sinnlose. Ich will sonach sagen: nur wenn man den Seinsgrund als ein Irrationales in sich schließend auffasst, lässt es sich verstehen, dass wir in einer endlichen, zeitlichen, individuell-zersplitterten, von Schmerz und Bösem erfüllten Welt leben. Soweit auch Denker wie Plato, Jakob Böhme, Hegel, der spätere Schelling, Hartmann auseinandergehen. In der angedeuteten Richtung finden sie sich zusammen.

Zugleich bin ich aber der Überzeugung, dass das Zwiespältige, Negative, Zweckwidrige, Irrationale unmöglich ein Endgültiges, ein Letztes sein könne. Nur als ein zwar ewig vorhandenes, aber ebenso sehr ewig aufgehobenes Moment im Absoluten vermag ich das Irrationale verstehen. Noch tiefer als das Nichseinsollende ist das Seinsollende gegründet. Das Sein besteht nur kraft des absoluten Wertes. Das Irrrationale ist nur dazu da, um überwunden zu werden und auf diesem Wege die Weltvernunft in voller Tiefe zur Selbstverwirklichung zu bringen.

Damit wären wir bei dem Tragischen der widerspruchvollen Größe« und zugleich bei dem Tragischen der zu Versöhnung »abbiegenden« Art anlangt. Der Weltgrund hat das tragische Schicksal, die in ihm beschlossen liegenden absoluten Werte nicht auf geradlinigem Wege, sondern nur durch Zwiespalt hindurch, nur in ewigem Kampf mit dem Nichseinsollenden verwirklichen zu können. Die Weltvernunft hat sich – anthropomorphisch ausgedrückt – mit der Not des Irrationellen herumzuschlagen, wenn sie ihre eigene Wesensbestimmung erfüllen soll. Gott ist sonach einem tragischen Helden zu vergleichen, zu dessen Größe wesentlich Zwiespalt und Widerspruch gehört. Zugleich aber ist hervorzuheben, dass das Irrationale nicht das letzte Wort hat, dass es nicht die Richtung auf Sieg in sich trägt. Das Irrationale im Herzen der Welt ist dazu da, um das Vernunft- und Heilvolle zu ganzer, tiefer und ausschöpfender Selbstverwirklichung zu bringen. Die Gottes-Tragik endet nicht mit Zerrüttung und Untergang, sondern mit dem Triumph des Heilvollen. Gott steht da als ein sich immerdar aus widerspruchssiegreich Emporringender, als ein aus Bruch und Unseligkeit ewig zu Ruhe, Einheit und Seligkeit Gelangter. Die Tragik ist sonach in Gott nur ein dem Siege des Guten und Heiligen dienendes Moment.


Die irrationale Natur des Endlichen
Soll das Irrationale, das im Wesen des Endlichen enthalten ist, dargelegt werden, so müsste sich die Betrachtung darauf richten, dass das Endliche kein reines, volles Sein ist. Es ist ein Sein, das sein Ende findet, das sich zu Nichtsein aufhebt; ein Sein sonach, zu dessen eigenster Natur ein ihm entgegenwirkender Faktor gehört. In allem Endlichen steckt eine auf das Nichtsein gerichtete Potenz. Wäre das Endliche ein Sein, das sich einfach bejahte, so wäre es unmöglich, dass es sich selbst aufgäbe oder dazu gebracht werden könnte, sich aufzugeben. Die Schranke, das Ende, der Tod zeugt, man möchte sagen: fast augenscheinlich dafür, dass das Endliche an einem Widerspruche krankt. Nur ist der Widerspruch nicht im Sinne des Antilogischen zu nehmen (wie dies bei Hegel überall den Anschein hat); sondern in dem Sinne, dass in dem Seienden zugleich eine in ihm entgegenwirkende Potenz tätig ist. Das Endliche ist in sich gebrochenes Sein. In den verschiedensten Formen erscheint diese Wahrheit in der Geschichte der Philosophie verkündet.

Durch keine Form der Endlichkeit wird uns diese ihre widerspruchsvolle Natur so aufgedrängt wie durch die Z e i t. Je mehr wir uns in die Sprache versenken, die der einfache Zeitverlauf zu uns spricht, umso tiefer werden wir durch das Rätselhafte, Unfassbare, ungeheuerliche, was in der Zeit liegt, beunruhigt. Das Wirkliche liegt weder in dem Schattenreich der Vergangenheit, noch im Jenseits der Zukunft, sondern allein in der Gegenwart. Alle Daseinsfülle, alle Lebensglut fasst sich in dem Jetztpunkte der Gegenwart zusammen. Was ist nun aber das Jetzt? Eine allerkürzeste Strecke, die ins Endlose hin kürzer gemacht zu werden verlangt; eine haarscharfe Schneide, die, noch so dünn, niemals dünn genug ist; ein Etwas also, das im Grunde ein Nichts ist. Die Gegenwart zieht, indem wir sie zu greifen suchen, sich immer mehr und mehr zusammen, bis sie sich unter unseren Händen verflüchtigt. Sie ist nur diese beständige Selbstverflüchtigung. Mit anderen Worten: das Jetzt besteht lediglich als Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft. Nun aber entbehren Vergangenheit und Zukunft erst recht aller Wirklichkeit; sonach ist das Jetzt der Übergang zwischen zwei Nichtsen. Indem die Zukunft stetig ins Sein hinaufrückt, ist sie auch schon wieder zur Vergangenheit geworden, ohne dabei durch ein fassbares, haltbares Sein hindurchgegangen zu sein. Die Gegenwart in strengem Sinne kommt nie dazu, Wirklichkeit zu haben; sie besteht in einem beständigen Zerfall von etwas, was überhaupt nie dagewesen ist. Das Jetzt strotzt von Wirklichkeit, und doch ist es nirgends zu fassen. Indem es zu sich sagt: ich bin, ist es auch schon tot. Das Jetzt, diese Blüte und Spitze des Lebens, dieser Sammelpunkt der Wirklichkeit, ist zugleich ein Unding von Wirklichkeit, eine Karikatur des Seins. In der Zeit demaskiert sich die absurde Natur des endlichen Seins. Schopenhauer sagt hier ergreifende Worte.

Es wäre die Sache der Metaphysik, zu zeigen, dass diese Zwiespältigkeit im Wesen des Endlichen und Zeitlichen (die natürlich bei weitem genauer und erschöpfender, als es in den hier gegebenen Andeutungen geschehen konnte, zu entwickeln wäre) sich schließlich darauf zurückführt, dass im Kerne des Seins ein Widerstreit zwischen Sollen und Nichtsollen, zwischen Sinn und Widersinn, zwischen Vernunft und Widervernunft, zwischen Wert und Misswert besteht. Im Endlichen und Zeitlichen tritt mit besonderer Schärfe zutage, dass das Sein nicht etwa glatte und runde Selbstverwirklichung eines Seinsollenden ist, sondern dass diese Selbstverwirklichung nur durch den Kampf mit dem Nichseinsollenden zustande kommt.

Mit dem Endlichen ist zugleich die Daseinsweise des Einzelnen, des Individuellen gegeben. Die Metaphysik hätte zu zeigen, dass das Einzelne einerseits das äußerste Gegenteil des Absoluten ist und anderseits doch nur als Äußerung des Absoluten beteht. Das Absolute ist unüberbietbare Ausweitung und Umfassung; das Einzelne ist gesteigertste Zusammendrängung, punktförmiges Dieses-Da. Mit dem Einzelnen ist Sichausschließen, Sichabstoßen, Auseinandersein gegeben, wogegen von einem Außersichsein des Absoluten keine Rede sein kann. Und hieran würde sich für die Metaphysik die weitere Aufgabe schließen, darzulegen, dass es zu dieser Seins-Zersplitterung nur dadurch kommen kann, dass dem Sein, um mit Hegel zu reden, ein Prinzip der „Negativität“ wesenhaft ist. Und damit wäre der weitere Gedankengang zu verbinden, dass das Unfassliche, für die Vernunft Unauflösliche, das Brutal-Tatsächliche, das in aller Diesheit liegt, als zwingender Hinweis auf ihre irrationale Natur anzusehen ist. Die Einzelheit stellt sich uns wie ein dunkler Knoten dar, der anerkannt zu werden verlangt, ohne dass er begriffen werden kann. Auch von hier aus also wird die Metaphysik zu der Überzeugung geführt, dass der Weltlogos irrational durchsetzt ist.

Und vertieft man sich gar in die konkreteren Erscheinungsformen des Endlichen, in den Schmerz und das Böse, in die zahllosen Gebrechlichkeiten und Zweckwidrigkeiten menschlichen Daseins, so muss sich die Überzeugung gewaltig verstärken, dass nur eine selbst schon Zwiespältigkeit in sich bergende Weltgrundlage sich in dieser Welt des Endlichen offenbaren könne. Angesichts dieser wilden und grausamen Wirklichkeit, in der wir leben, angesichts dieser von Weh und Zerstörung, von Wahn und Trug, von Gier und Lastern erfüllten Welt dürfte sich eine Theodizee, sobald man Gott als bruchlos positiv, als reine Einheit, als ungespaltene Harmonie vorstellt, kaum durchführen lassen. Tölpelhaftes, rohes Wüten des Zufalls verbindet sich mit den Grausamkeiten der Selbstsucht und den Unmenschlichkeiten der Dummheit.

Der Naturzustand des Menschen ist auf unbarmherzige wechselseitige Vertilgung gegründet, und wenn auch die Kultur Verbrennung und Folter beseitigt hat und dereinst hoffentlich auch auf den Krieg als auf eine überwundene Kulturstufe zurückblicken wird, so sind dafür Qualen feinerer, innerlicher, verwickelter Art an die Stelle getreten. Aus einem einfach positiven, rein vernünftigen, geradlinig guten Weltgrunde diese Angefülltheit der Welt mit Wehe und Lastern zu verstehen, bedeutet eine allzuharte Zumutung nicht nur für unser Denken, sondern auch für unser Fühlen. Man vergegenwärtige sich, wie so häufig unschuldsvolle, reine Menschen durch Krankheit, Kränkung, Unterdrückung jahrelang ans Kreuz geschlagen sind; man versetze sich in die unausdenkbaren Qualen eines Melancholikers, in die namenlosen inneren Zerrüttungen hinein, wie sie oft dem Selbstmorde vorangehen: man wird vor dem Gedanken, glaube ich, fast zurückschaudern: es könne eine Welt, in der so Grauenhaftes möglich ist, ihren zureichenden Grund in reiner Liebe und gegensatzfreier Güte haben.


Die Überwindung des Tragischen in Gott
Hat nun nicht – diese Frage erhebt sich hier – der radikale Pessimismus recht? Ist es nicht eine Halbheit, wenn man von den Unvollkommenheiten und Jämmerlichkeiten der Welt nur auf einen Gegensatz oder Zwiespalt in dem vernünftigen und guten Weltgrunde schließen wollte? Ist es nicht vielmehr geboten, den Grund und Schoß alles Daseins für vernunftlos, für nicht seinsollend zu erklären? Ich glaube, dass sich eine solche Folgerung durch eine Anzahl schwerwiegender Gründe verbietet. Wer für die Gestaltung seiner Weltanschauung die durchgängige Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen, die Zweckmäßigkeit ihrer Gestaltung und Ordnungen, die sich allenthalben zeigende Entwicklung zum Vollkommeneren hin, besonders aber die Tatsache des Bewusstseins und seine Schöpfungen und unter diesen wieder vor allem die moralischen Werte in gebührender Weise in Ansatz bringt, wir davon abstehen, der Welt ein einfach vernunftloses, zielloses, wertloses oder gar schlechtes und böses Prinzip unterzulegen.

Schon die Tatsache der gesetzmäßigen Ordnung der Erfahrungswelt macht die Annahme eines vernunftlosen, zwecklosen, rein-tatsächlichen Weltgrundes unmöglich. Im Materialismus und in den ihm verwandten Richtungen des »Monismus« wird man nie über die Schwierigkeit hinwegkommen, wie der den Gegensatz von Geist und Vernunft bildende stumpfsinnige »Stoff« oder die gleichfalls blinde und taube »Energie« es zu Gesetzmäßigkeit und Ordnung von so verwickelter und feiner Natur, bringen könne. Dieselbe Schwierigkeit stellt sich auch dem alogischen »Willen« Schopenhauers entgegen.

Sodann scheint mir der allenthalben, besonders aber in der organischen Welt sich offenbarende Trieb, in sich geschlossene, durch ihre Zweckmäßigkeit beharrende Formen zu erzeugen, schwer in die Wagschale zu fallen. Ich glaube nicht, dass es dem Darwinismus samt den mit ihm vorgenommenen Ergänzungen und Verbesserungen gelungen ist, das, was sich uns in der Natur als Form, Geschlossenheit, Zusammenstimmung darbietet, aus nur mechanisch wirkenden Kräften verständlich zu machen. Und denkt man gar daran, dass die beharrenden organischen Formen das Vermögen haben, zeugend sich fortzupflanzen, und dass das Reich der Formen ein Stufenreich ist, das eine Entwicklung vom Einfachen zu immer verwickelteren Bildungen darstellt, so erscheint es erst recht unmöglich, mit zweckfreien Kräften auszukommen.

Und nach derselben Richtung, nur noch deutlicher, geht die Sprache, die die Tatsache des Bewusstseins, des Ichs redet. Nur aus vernunft- und zweckvollem Weltgrunde lässt sich das von Logik und Zweck durch und durch beherrschte Bewusstsein begreifen. Alles, was im Bewusstsein sinnvolles Verstehen, zielvolles Lenken ist, ist durch eine unüberbrückbare Kluft von dem blinden Kräftespiel, von dem mechanischen Herüber und Hinüber, von dem äußerlichen Verbinden und Trennen geschieden. Ja schon die elementarste Eigenschaft des Bewusstseins: das Sichrichten des Bewusstseins auf ein Objekt ist etwas derart unvergleichlich Anderes als alles physikalisch-chemische Geschehen, dass ich einen besonders hohen Grad von philosophischer Blindheit in dem Bemühen erblicke, aus bloß mechanischem Kräftespiel das Bewusstsein verstehen zu wollen.

Dazu kommt noch ein Weiteres: die Tatsache des Bewusstseins weist geradezu auf ein absolutes Bewusstsein hin. Ich weiß nicht, mit welchen Mitteln aus der Nacht des Unbewussten das Sichgegenwärtigsein, das Aufsichgerichtetsein, die Selbstdurchleuchtung, die das Bewusstsein darstellt, hervorgehen sollte. Aus gänzlichem Unbezogensein auf sich selbst kann nicht Bezogensein auf sich selbst (und darin besteht ja das Wesen des Bewusstseins) hervorgezaubert werden. Und ferner: verlieren auch Vernunft und Zweck ihren Sinn, wenn man sie als unbewusst denkt? Erst das Fürsichsein, das Selbstbewusstsein ist das Element, in dem Vernunft und Zweck bestehen können. Doch ich darf hier nicht zu weit in die Metaphysik hineingreifen.

Und eines sei noch hervorgehoben: nicht nur als vernünftig, sondern auch als seinsollend, als absoluter Wert wird der Weltgrund anzuerkennen sein. Vor allem ist es Sache der Philosophie der Werte, den Nachweis zu führen, dass die Selbstwerte, zu denen sich der menschliche Geist bekennt, die Anerkennung eines absolut Seinsollenden als letzten Seinsgrundes in sich schließen. Eine Welt, in der es Selbstwerte gibt, muss letzten Endes in einem Absolut-Wertvollen als tiefstem Sinn und tiefster Macht und tiefster Substanz alles Seins wurzeln. Unter den Selbstwerten aber ist es nach meiner Überzeugung das Gute, wodurch besonders deutlich und zwingend auch ein nüchternes Denken auf einen absolut heilvollen Weltgrund hingewiesen wird. Ich glaube, dass hierin, wie in so vielen anderen Stücken, das »Altmodische« auf richtigerem Wege ist als das »Moderne«.

In der Tatsache der moralischen Gefühle, des Strebens nach dem Guten, des Glaubens an die unbedingt rechtfertigende und adelnde Kraft des Guten, des Glaubens an inneren Wert und Menschenwürde liegt die Gewähr dafür, dass das Dasein im letzten Grunde von der Kraft des Seinsollens getragen und gehalten werde. Ich glaube nicht, dass sich das Gute aus dem Kampfe ums Dasein herausschleifen aus selbstsüchtigen Trieben und Nützlichkeitserwägungen herausdestillieren lasse. Vielmehr glaube ich mit Kant und Fichte, dass, wenn in irgendeiner geistigen Tatsache, so sicherlich in der des Guten sich die intelligible Welt ankündigt. Innerhalb des Guten aber scheint mir zu allermeist die Tatsache der hohen Liebe die Gewähr dafür zu bieten, dass die Welt überwiegender- und siegenderweise auf heilvollem Grunde ruht. Eine Welt, in der es reine Liebe gibt, kann nicht ein sinnloses Auf- und Niederfluten sein. Liebe ist nicht nur eine psychologische, sondern zugleich eine metaphysische Macht. Und so wage ich den Satz, dass, wenn ein zusammenfassendes Wort für das Absolute als den Inbegriff aller höchsten Werte, ein Wort, das uns das unfassbare Wesen dieser Einheit aller höchsten Werte wenigstens ahnen lassen kann, gefunden werden soll, dies das Wort »Liebe« ist. Hiernach wäre die Welt Selbstverwirklichung der unendlichen Liebesfülle.

Somit stünden wir vor einer Weltanschauung, die sich als Synthese äußerster Weltgegensätze charakterisiert. Einerseits ist die Welt im Seinsollenden, im absoluten Werte gegründet. Aber zugleich hat das ewig Vernünftige, Seinsollende, absolut Wertvolle es ebenso wenig mit seinem Gegenteil zu schaffen, es kann sich nur verwirklichen, indem es seinen Weg durch das Irrationale, Nichtseinsollende, Sinnwidrige nimmt und mit seinem Gegensatze ringt.

Aber an dieses Ringen ist hier nicht Niederlage und Verderben geknüpft. Wäre im Absoluten das Irrationale, Nichtseinsollende siegreich, so würde die Welt eben hiermit in Chaos und Graus zusammenbrechen. Schon der Umstand, dass die Welt in sich Halt hat, als geordnete besteht und weiter besteht, deutet darauf hin, dass vielmehr die Macht der Vernunft, des Seinsollenden, des Heilvollen als siegend anzusehen ist. Das Irrationale, das Negative besteht nur als ein- und untergeordnetes, ewig waches und ewig überwundenes Moment im Vernünftigen, im Positiven, als immerdar lebendige und immerdar bewältigte Gegnerschaft in ihm. Und noch mehr: das Positive – um bei diesem Ausdruck zu bleiben – b e d a r f des Negativen; das Positive k a n n sich nur dadurch verwirklichen, dass es sich ewig an seinem Gegensatze belebt und entzündet und ihn überwindet. Man könnte demnach sagen: das Sein kann nicht einfach und unmittelbar, sondern immer nur auf einem Umwege, immer nur als hindurchgehend durch Bruch und Gegensatz zustande kommen. So weit ich mich auch in den meisten Stücken von Hegel entfernt habe, an diesem Punkte fühle ich deutlich und dankbar meinen engen Zusammenhang mit dem Kerngedanken der Hegelschen Philosophie.

Nach den gegebenen Darlegungen kann kein Zweifel sein, in welchem Sinne von Welttragik die Rede sein dürfe. Das Tragische ist nicht das letzte Ergebnis im Weltgeschehen, nicht das Endgültige im Aufbau der Wirklichkeit, nicht der letzte Sinn alles Seins. So viel Einzelentwicklungen es im menschlichen Geschehen auch geben mag, v o m S t a n d p u n k t e d e s A b s o l u t e n a u s ist das Tragische zwar einerseits ein innerlich notwendiges, anderseits aber zugleich ein immerdar innerlich überwundenes Moment. »Sub specie aeternitatis« besteht das Tragische nur insofern, als es einen ewigen Durchgangspunkt für den Sieg des Guten und Heilvollen bildet. In Gott ist das Tragische ewig aufregendes, aber zugleich ewig besiegtes Moment. Wollte man daher Gott unter dem Bilde eines tragischen Helden veranschaulichen, der an seinem gespaltenen Ich leidet, eines Helden, der es in seinem Inneren mit einer verdunkelnden und stürzenden Gegenmacht zu tun hat, so wäre hinzuzufügen, dass dieser Held zugleich über das Tragische wesenhaft hinauswächst, da er seiner Zwiespältigkeit Herr wird und sie in Versöhnung und Heil hinüberführt. Die innere Verkehrung des Weltgrundes wird ewig überwunden, das Vernünftige und Gute ist das umfassende, übergreifende, siegende Prinzip. Gott geht ewig aus dem Kampfe mit dem Negativen, Dunklen, Selbstischen in ihm als hehre, selige Lichtgestalt, als Gutheit und Liebe hervor. Ich brauche kaum hervorzuheben, dass ich mir der nahen Verwandtschaft dieser Gedanken teils mit Hegel, teils mit Jakob Böhme und dem späteren Schelling, in gewissem Sinne auch mit Hartmann, vollkommen bewusst bin. Von »Pantragismus« im Sinne Hebbels oder Bahnsens kann auf meinem Standpunkte keine Rede sein
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Aus: Johannes Volkelt, Ästhtik des Tragischen, München 1917, C. H. Beck`sche Verlagsbuchhandlung