Friedrich Theodor Vischer (1807 – 1887)
Pseudonyme: Philipp U. Schartenmayer und Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky
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Deutscher Ästhetiker und Publizist,
der als gebürtiger Schwabe mit Eduard Mörike und David Friedrich
Strauß befreundet war und als Professor für Ästhetik in Zürich, Tübingen und Stuttgart lehrte. Außerdem war er seit
1848 Abgeordneter der gemäßigten Linken in der Frankfurter Nationalversammlung.
Vischers aufrechte, streitbare Persönlichkeit und die Kraft seines
Wortes waren von großer Wirkung auf seine Zeit. Neben zahlreichen
kritischen und ästhetischen Schriften schrieb den philosophisch-tragikomischen
Roman vom Kampf gegen die Tücke des Objekts »Auch Einer«,
aus dem der folgende Textauszug stammt. Auf Goethes »Faust II« verfasste er unter dem Decknamen Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch
Mystifizinski die Parodie »Faust
– der Tragödie 3. Teil«. Siehe auch Wikipedia , Kirchenlexikon und Projekt Gutenberg |
Wir sind nur
Bilder
Natürlich kein Zweifel, dass unser Planet einmal in Stücke fährt
und in die Sonne fliegt oder so etwas. Und unser Sonnensystem geht eben auch
einmal in Trümmer. Dem Weltall sehr gleichgültig, denn es entstehen
immer neue. Götterdämmerung ist immer. Der Geist steht aus der Verglühung
des Zeitlichen nie auf oder nimmer. Es gibt jetzt Wesen, die es erringen, jetzt
über der Zeit zu leben, oder es gibt keine. Gibt es jetzt solche, jetzt
ist immer, es werden immer solche Jetzt sein, wo zeitliche, empfindende, denkende
Wesen sich erheben in das, was nie und nimmer, nirgends und überall ist.
Ist es so, so ist es um keinen Untergang schade. Fragt man: was wird aus dem
ganzen Schatze von Erfahrung, Wissen, Bildung, den das Geschlecht auf unserem
Planeten mit unnennbaren Mühen, in furchtbaren, ungezählte Jahrtausende
langen Kämpfen gesammelt hat? Geht er mit dem Planeten verloren oder ist
ein Weg denkbar, daß er erhalten, anderswo aufgefasst, dort weiterentwickelt
ein Glied bildete in einer unendlichen Kette geistiger Erwerbungen aller denkbaren
menschenähnlichen Wesen auf allen bewohnbaren Weltkörpern? Die Antwort
ist leicht: verloren geht er, undenkbar ist solch ein Band, solch ein Weg. Das
scheint trostlos. Ist‘s aber gar nicht. Alle ansteigende Bildungsarbeit
aller Geschlechter erreicht ja nie das Ziel. Gibt es kein Vollglück auf
jedem Punkte mitten in der ewig ansteigenden Bahn, so gibt es überhaupt
keines. Jeder Augenblick der Freude, der wahren Freude, also vor allem der Freude
im reinen Schauen, Forschen und im reinen Wirken ist aber doch Sein im Ewigen an sich, greift also aus der Kette heraus, unabhängig von ihren Bedingungen,
eins mit sich, frei. Jene Schätze haben ihren Wert in sich selbst gehabt.
Was Wert in sich hat, das beglückt, beseligt. Jeder Mensch, der sich in
die Welt des in sich Wertvollen erhebt, ist in jeder Minute, in der es geschieht,
mitten in der Zeit ewig. Wie viele Menschen, wie lange Zeit Menschen so des
Ewigen teilhaftig werden, verändert daran gar nichts. Sind auf anderen
Weltkörpern menschenähnliche Wesen, sie mögen sorgen, daß sie ebenso ins Unzeitliche sich erheben.
So ist es auch mit der Frage nach der Unsterblichkeit des einzelnen. Du möchtest
der Zeit nach ewig leben, mein lieber Piepmeyer? Aber wenn du auf immer neuen
Planeten ewig ein neues Zeitleben lebst, so kommt es in jedem derselben immer
nur darauf an, ob du vermagst, ins Zeitlose emporzusteigen. Von der endlosen
Zeit, mein Lieber, hast du gar nichts, nicht den geringsten Spaß, sie
gähnt dich nur an, ihr gehören ist nicht besser, als ewige Höllenstrafe.
Wir sind nur Bilder; wirklich, buchstäblich nur Bilder. Wir werden da in
jedem Moment erst gewoben, gemalt und auch wieder aufgetrennt, ausgewischt.
Was jeden Augenblick erst wird, ist doch kein wahrhaft Seiendes. Wir stehen
ja nicht fest, wir schweben ja nur wie ein Traumbild. Wir scheinen so solid
wie Bein und Eisen, und sind doch so porös, nur wandelnde Auflösung
und Wiederknüpfung.
Das braucht aber niemand bange zu machen. Sorge du nur dafür, dass
du Bild wirst in einem zweiten und besseren Sinn. Lass dich nicht bloß
von der Natur hingepinselt, hingestickt sein! Sorge dafür, dass du
Bild wirst, aufbewahrt im Geiste der Menschen. Sein ist Schein. Das wahre Sein
verdient man sich durch Nicht-mehr-Sein — wer nämlich gut vorgearbeitet
hat. Das kann auch der Geringste machen, dass ein gutes Bild von ihm in
den Seinigen fortlebt. Der große Mann freilich hat als die Seinigen ein
ganzes Volk, ganze Völker. Aber man braucht kein großer Mann zu sein;
das kleinste Scherflein zum Kapital der Menschheit wuchert fort und fort. Das
Brot, das ich heute esse, das Kleid, das mich wärmt, die Gerechtigkeit,
die mich schützt im Verein mit Vielen: vor tausend und tausend Jahren haben
schon gute Menschen daran gearbeitet. Kannst du‘s so machen, daß
du auch deinen Namen ins Gedenkbuch der Menschheit einschreibst: gut, aber nicht
notwendig; mag dein Gedächtnis nach wenigen oder mehreren oder vielen Generationen
erlöschen, geht der Planet auch unter und mit ihm das Gedächtnis der
Größten, die unsterblich heißen: Wert und Zeit sind ja zweierlei;
in dem Wissen, es wert zu sein, dass man deiner gedenke, bist du ewig,
bist wahres, unvergängliches Bild.
Entnommen aus: Georg Hahn (Hrsg.) Der Glaube der Denker
und Dichter. Selbstzeugnisse aus zwei Jahrhunderten S.45ff.
Kreuz Verlag Stuttgart Berlin