Friedrich Theodor Vischer (1807 – 1887)
Pseudonyme: Philipp U. Schartenmayer und Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky

Deutscher Ästhetiker und Publizist, der als gebürtiger Schwabe mit Eduard Mörike und David Friedrich Strauß befreundet war und als Professor für Ästhetik in Zürich, Tübingen und Stuttgart lehrte. Außerdem war er seit 1848 Abgeordneter der gemäßigten Linken in der Frankfurter Nationalversammlung. Vischers aufrechte, streitbare Persönlichkeit und die Kraft seines Wortes waren von großer Wirkung auf seine Zeit. Neben zahlreichen kritischen und ästhetischen Schriften schrieb den philosophisch-tragikomischen Roman vom Kampf gegen die Tücke des Objekts »Auch Einer«, aus dem der folgende Textauszug stammt. Auf Goethes »Faust II« verfasste er unter dem Decknamen Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinski die Parodie »Faust – der Tragödie 3. Teil«.

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Wir sind nur Bilder
Natürlich kein Zweifel, dass unser Planet einmal in Stücke fährt und in die Sonne fliegt oder so etwas. Und unser Sonnensystem geht eben auch einmal in Trümmer. Dem Weltall sehr gleichgültig, denn es entstehen immer neue. Götterdämmerung ist immer. Der Geist steht aus der Verglühung des Zeitlichen nie auf oder nimmer. Es gibt jetzt Wesen, die es erringen, jetzt über der Zeit zu leben, oder es gibt keine. Gibt es jetzt solche, jetzt ist immer, es werden immer solche Jetzt sein, wo zeitliche, empfindende, denkende Wesen sich erheben in das, was nie und nimmer, nirgends und überall ist. Ist es so, so ist es um keinen Untergang schade. Fragt man: was wird aus dem ganzen Schatze von Erfahrung, Wissen, Bildung, den das Geschlecht auf unserem Planeten mit unnennbaren Mühen, in furchtbaren, ungezählte Jahrtausende langen Kämpfen gesammelt hat? Geht er mit dem Planeten verloren oder ist ein Weg denkbar, daß er erhalten, anderswo aufgefasst, dort weiterentwickelt ein Glied bildete in einer unendlichen Kette geistiger Erwerbungen aller denkbaren menschenähnlichen Wesen auf allen bewohnbaren Weltkörpern? Die Antwort ist leicht: verloren geht er, undenkbar ist solch ein Band, solch ein Weg. Das scheint trostlos. Ist‘s aber gar nicht. Alle ansteigende Bildungsarbeit aller Geschlechter erreicht ja nie das Ziel. Gibt es kein Vollglück auf jedem Punkte mitten in der ewig ansteigenden Bahn, so gibt es überhaupt keines. Jeder Augenblick der Freude, der wahren Freude, also vor allem der Freude im reinen Schauen, Forschen und im reinen Wirken ist aber doch Sein im Ewigen an sich, greift also aus der Kette heraus, unabhängig von ihren Bedingungen, eins mit sich, frei. Jene Schätze haben ihren Wert in sich selbst gehabt. Was Wert in sich hat, das beglückt, beseligt. Jeder Mensch, der sich in die Welt des in sich Wertvollen erhebt, ist in jeder Minute, in der es geschieht, mitten in der Zeit ewig. Wie viele Menschen, wie lange Zeit Menschen so des Ewigen teilhaftig werden, verändert daran gar nichts. Sind auf anderen Weltkörpern menschenähnliche Wesen, sie mögen sorgen, daß sie ebenso ins Unzeitliche sich erheben.

So ist es auch mit der Frage nach der Unsterblichkeit des einzelnen. Du möchtest der Zeit nach ewig leben, mein lieber Piepmeyer? Aber wenn du auf immer neuen Planeten ewig ein neues Zeitleben lebst, so kommt es in jedem derselben immer nur darauf an, ob du vermagst, ins Zeitlose emporzusteigen. Von der endlosen Zeit, mein Lieber, hast du gar nichts, nicht den geringsten Spaß, sie gähnt dich nur an, ihr gehören ist nicht besser, als ewige Höllenstrafe.
Wir sind nur Bilder; wirklich, buchstäblich nur Bilder. Wir werden da in jedem Moment erst gewoben, gemalt und auch wieder aufgetrennt, ausgewischt. Was jeden Augenblick erst wird, ist doch kein wahrhaft Seiendes. Wir stehen ja nicht fest, wir schweben ja nur wie ein Traumbild. Wir scheinen so solid wie Bein und Eisen, und sind doch so porös, nur wandelnde Auflösung und Wiederknüpfung.

Das braucht aber niemand bange zu machen. Sorge du nur dafür, dass du Bild wirst in einem zweiten und besseren Sinn. Lass dich nicht bloß von der Natur hingepinselt, hingestickt sein! Sorge dafür, dass du Bild wirst, aufbewahrt im Geiste der Menschen. Sein ist Schein. Das wahre Sein verdient man sich durch Nicht-mehr-Sein — wer nämlich gut vorgearbeitet hat. Das kann auch der Geringste machen, dass ein gutes Bild von ihm in den Seinigen fortlebt. Der große Mann freilich hat als die Seinigen ein ganzes Volk, ganze Völker. Aber man braucht kein großer Mann zu sein; das kleinste Scherflein zum Kapital der Menschheit wuchert fort und fort. Das Brot, das ich heute esse, das Kleid, das mich wärmt, die Gerechtigkeit, die mich schützt im Verein mit Vielen: vor tausend und tausend Jahren haben schon gute Menschen daran gearbeitet. Kannst du‘s so machen, daß du auch deinen Namen ins Gedenkbuch der Menschheit einschreibst: gut, aber nicht notwendig; mag dein Gedächtnis nach wenigen oder mehreren oder vielen Generationen erlöschen, geht der Planet auch unter und mit ihm das Gedächtnis der Größten, die unsterblich heißen: Wert und Zeit sind ja zweierlei; in dem Wissen, es wert zu sein, dass man deiner gedenke, bist du ewig, bist wahres, unvergängliches Bild.

Entnommen aus: Georg Hahn (Hrsg.) Der Glaube der Denker und Dichter. Selbstzeugnisse aus zwei Jahrhunderten S.45ff.
Kreuz Verlag Stuttgart Berlin