Valentinus (110 - 175)

Aus Ägypten stammender Gnostiker, der 135-160 in Rom lehrte und Bischof von Rom werden wollte. Nachdem ihm das verwehrt wurde, fiel er von der Kirche ab. Valentinus war ein profunder Kenner der griechischen Philosophie und des christlichen Schrifttums seiner Zeit. Er stellte die Schöpfung als Folge eines Urfalls der Sophia dar: Verzweiflung und Furcht sei aus ihrem gescheiterten Fragen nach dem Ursprung der Gottheit entstanden und damit die psychische und materielle Welt; Gnosis könnte diese Welt wieder aufheben. Valentinus behauptete, die »paulinischen Geheimlehren« von einem der Schüler des Paulus namens Theodas empfangen zu haben. Er selbst ist möglicherweise ein Schüler von Basilides gewesen. Ihm wird das poetische »Evangelium der Wahrheit« zugeschrieben, das in koptischer Übersetzung in Nag Hammadi aufgefunden wurde und das Irenäus als »Evangelium Veritatis« erwähnt. Er verfasste auch einige Psalmen. Valentinus selbst soll ein untadeliges Leben geführt haben, jedoch wurden seine Lehren sehr frei interpretiert. Daher entwickelte sich die Sekte zu einer der ausschweifendsten aller gnostischen Sekten, wodurch Valentinus sich die Feindschaft vieler Kirchenväter zuzog. Clemens von Alexandria, Irenäus, Tertullian und Hippolytus zogen alle ins Feld gegen ihn. Die Valentinianer bildeten neben den Markioniten die einzige gnostische Gemeinschaft von größerer Ausdehnung und längerem Bestand.

Siehe auch Wikpedia und Kirchenlexikon
 

Wer war Valentinus?
Valentinus, der bedeutendste gnostische Lehrer und Schulgründer, stammte wie so viele andere Religionsphilosophen der ersten Jahrhunderte aus Ägypten und erhielt zur Zeit des Kaisers Hadrian in Alexandreia seine gelehrte Bildung. Hadrianus selbst schildert im knappen Imperatorenstile in einem uns noch erhaltenen Briefe den Zustand, in dem er diese Provinz seines Reiches fand:

»Hadrianus Augustus entbietet dem Consul Servianus seinen Gruß! Ägypten, das du mir so gelobt hast, mein lieber Servianus, habe ich kennen gelernt als ein ganz leichtsinniges, schwankendes und jedem Geschwätz zufliegendes Land. Hier sind die Serapisdiener Christen, und die sich christliche Bischöfe nennen, dienen dem Serapis. Hier gibt es keinen jüdischen Synagogenvorsteher, keinen Samarite, keinen christlichen Presbyter, der nicht zugleich ein Astrologe, ein Wahrsager und Quacksalber wäre. Wenn der Patriarch selber nach Ägypten käme, würde er von den einen dazu gezwungen werden, den Serapis, von den andern, den Christus anzubeten. Der eine Gott, den sie haben, ist überhaupt keiner. Ihn verehren die Christen, ihn die Juden, ihn alle anderen Völker«.

Hier trat Valentinus als christlicher Lehrer auf. Dann ging er nach Rom, wo er mit begeisternder Beredsamkeit in den Jahren von etwa 136 bis 165 wirkte, mit der Kirche zerfiel und unter dem Episkopat des Aniket die Stadt verließ. Er soll sich nach dem Osten begeben und auf Cypern von neuem eine Schule begründet haben. Über sein weiteres Schicksal und seinen Tod wissen wir nichts.

Von seinen Schriften sind uns nur wenige Bruchstücke erhalten. Sie stammen aus Predigten, Hymnen und Briefen. Neben ihnen wird nur der Titel einer philosophischen Schrift genannt, die »über die drei Naturen« handelte. Dagegen wissen die Kirchenväter viel von den Lehren der Valentinianer zu erzählen. Ihre Berichte aber stimmen untereinander nicht überein. Die Abweichungen sind zum Teil schon auf die verschiedenen Schulmeinungen zurückzuführen. Irenäus klagt gerade über diese Mannigfaltigkeit der von den Schülern des Valentinus aufgestellten Theorien : »Nicht zwei oder drei kannst du auftreiben, die über denselben Gegenstand dasselbe sagen; in Namen und Sachen widersprechen sie sich völlig«. Auch hier ist es geboten, von den uns wörtlich überlieferten Fragmenten auszugehen.

Die Valentianische Vision
Die letzte Quelle der Gnosis des Valentinus scheint eine mystische Vision gewesen zu sein. Hippolytos schreibt hierüber:

»Denn auch Valentin sagt, er habe ein neugeborenes Kind gesehen und es gefragt, wer es sei; es habe geantwortet, es sei der Logos«.

Aus dieser Vision soll er einen »tragischen Mythos« gemacht haben, was wohl nur so zu verstehen ist, daß der erschaute Logos ihm selbst in der Vision den tragischen Mythos offenbarte. Eine Vision liegt auch dem uns von Valentinus erhaltenen Psalm zugrunde:

Ich schaue, wie alles am Äther mit Pneuma gemischt ist,
ich erfasse im Geiste, wie alles vom Pneuma getragen wird:
Fleisch hängt sich an die Seele,
Seele wird von Luft emporgetragen,
Luft hängt sich an den Äther.
Aus der Tiefe heben sich Früchte empor,
aus dem Mutterleib wird ein Kind gehoben.

Hierzu gibt Hippolytos folgende Erklärung:

»Fleisch ist nach ihrer Lehre die Materie, die an der Seele des Weltschöpfers hängt. Seele wird von Luft emporgetragen, das heißt: der Weltschöpfer wird von dem Pneuma, das außerhalb des Pleromas bleibt, hochgehoben. Luft hängt sich an den Äther, das heißt: die äußere Sophia hängt sich an den inneren Horos und an das ganze Pleroma. Aus der Tiefe heben sich Früchte empor, das ist die ganze Emanation der Äonen aus dem Vater«.

Das Weltbild, das dieser Vision zugrunde liegt, ist dasselbe, das wir bei Basilides fanden. Oben das Reich des reinen Geistes, das Pleroma; darunter als Horos oder Grenze das Pneuma, unter ihm der Äther, darunter die Luft und schließlich die Materie oder das Fleisch. Der Geist des Sehers ist bis zum Pleroma vorgedrungen. Von hier oben schaut er herab, sieht zunächst Pneuma und Äther, sieht, wie die Weltseele danach strebt, sich von der Last des Fleisches zu befreien und in das Pleroma einzugehen; er gewinnt aber auch einen Einblick in die Vorgänge in der »Tiefe« der Gottheit selbst, aus der die Äonen hervorgehen und wo der Logos gezeugt und geboren wird. Denselben Charakter visionärer Prophetie tragen die Eingangsworte eines Buches, das sich bei den Valentinianern als heilige Schrift erhielt und den ältesten Typus der Lehre darzustellen scheint:

»Als unzerstörbarer Geist grüße ich die Unzerstörbaren. Kunde bringe ich zu euch von unnennbaren und unaussprechlichen und überhimmlischen Mysterien, die weder von den Herrschaften,. noch von den Gewalten, noch von den Untertanen, noch von irgendeinem Mischwesen begriffen werden können, sondern allein dem Gedanken des Unwandelbaren offenbar sind«.

Der Geist, der hier spricht, ist der Prophet, vielleicht Valentinus selbst. Nach der griechischen Auffassung der Ekstase trennt sich in ihr der Geist vom Körper, steigt durch Luft und Äther empor und tut einen Blick in die übersinnliche Welt. Auf die Erde und in den Körper zurückgekehrt, berichtet er in verzückter Sprache von den Geheimnissen, die sich ihm offenbarten.

Was aber war der Inhalt der Offenbarung, die Valentinus zu verkünden hatte? Nichts anderes als der »tragische Mythos« von der Weltschöpfung, der immer zu¬nehmenden Verderbnis der Welt und ihrer endlich erfolgenden Erlösung.

Von der Weltschöpfung sagt Valentinus in dem Fragment einer Homilie:

»Soviel das Bild schwächer ist als das lebendige Angesicht, um so viel ist auch der Kosmos geringer als der lebendige Äon. Was war nun der Grund für die Anfertigung des Bildes? Die Herrlichkeit des Angesichts, das dem Maler das Vorbild gab, damit es durch seinen Namen geehrt wurde. Denn die Form wurde nicht in originaler Schöpfung erfunden, sondern der Name füllte den Mangel in dem Bildwerke aus. So hilft auch das, was an Gott unsichtbar ist, mit dazu, daß wir glauben, es sei seine Schöpfung«.

Das ist zunächst reiner Platonismus. Ein geistiger Kosmos, die Ideenwelt, hier der lebendige Äon, als das Urbild auf der einen, diese unsere sichtbare Welt als das unvollkommene Abbild auf der anderen Seite. Dazwischen ein Demiurg. Er versenkt sich in die Schönheit der Geisteswelt und schafft sie in der irdischen Materie nach. So trägt diese die Züge des Göttlichen an sich, aber entstellt, verworren, kaum zu erkennen, wenn nicht der Name dessen unter dem Bilde stünde, den es darstellen soll. Ohne diesen Namen, ohne die Kunde davon, daß diese Welt ein Abbild des Göttlichen sein soll, wäre es dem Menschen unmöglich, in der ihn umgebenden Natur nach den Spuren des Göttlichen zu forschen, sie zu finden und unseren Kosmos als Ebenbild Gottes zu erkennen.

Etwas tiefer in diese Gedankenwelt führen einige Sätze, die von der Schöpfung des Menschen handeln und in einem der Briefe des Valentinus standen:

»Und wie über dieses Gebilde — nämlich den Menschen — die Engel in Furcht gerieten, als er Erhabeneres sprach, als das Gebilde erwarten ließ, weil der Schöpfer unsichtbar in ihn einen Samen aus dem Wesen in die Höhe gelegt hatte und dies offen kund tat, so sind auch unter den Geschlechtern der kosmischen Menschen die Menschenwerke denen furchtbar, die sie schaffen, wie Statuen und Götterbilder und alles, was Menschen zur Ehre des Namens eines Gottes verfertigen. Denn zur Ehre des Namens >Mensch< wurde Adam gebildet und rief Furcht hervor vor dem präexistenten >Menschen<, als ob er in ihm anwesend wäre, und die Engel entsetzten sich und versteckten schnell ihr Werk«.

Wieder ein scharf gezeichnetes und gut durchgeführtes Bild aus demselben Gebiete menschlichen Schaffens. So wie die Menschen ein Götterbild meißeln, dann über ihr eigenes Werk erschrecken, weil es die Züge der Gottheit trägt, und es im Dunkel des Tempels verbergen, so erschraken die Engel über den Menschen, den sie gebildet hatten, weil er die Züge der Gottheit an sich trug und ihren Namen führte. Das setzt voraus, daß der Gott, nach dessen Ebenbilde der Mensch geformt wurde, auch >Mensch< hieß. Valentinus bewegt sich also im Rahmen der Spekulation, die wir bei den Ophiten trafen und bis auf Philon zurückführten: Der geistige Kosmos ist ein Mensch im Großen, der irdische Kosmos ist sein Abbild und damit ebenfalls ein großer Mensch; der Mensch selbst aber ist sowohl ein Mikrokosmos als auch durch den aus dem geistigen Kosmos in ihn gelangten »Samen« ein Abbild des Urbildes »Mensch«, das hier ebenso wie bei den Ophiten als der »präexistente Mensch« bezeichnet wird, aber nichts anderes als den in Gott ruhenden geistigen Kosmos bedeutet. Wesentlich aber ist vor allem der Gedanke, daß der Mensch mehr ist als die Engel, die ihn schufen. Damit stimmt vorzüglich eine von Klemens zitierte Predigtstelle überein:

»Von Anfang seid ihr unsterblich und seid Kinder ewigen Lebens und wolltet den Tod auf euch verteilen, damit ihr ihn verbraucht und auflöst, und der Tod sterbe in euch und durch euch. Denn wenn ihr den Kosmos auflöst, selbst aber nicht aufgelöst werdet, herrscht ihr über die Schöpfung und über alle Vergänglichkeit«.

Ewiges Leben und Tod stehen sich hier als die Gegensätze gegenüber, die in der Welt und im Menschen miteinander ringen, das ewige Leben ist das Göttliche, der Tod das Widergöttliche. So ist auch bei Paulus der Tod der Herr des Kosmos; er tritt geradezu an die Stelle des Satans. Wie die Barbelo-Gnostiker den Samen aus der Welt herausziehen, um dadurch die Archonten zu schwächen und das Erlösungswerk zu fördern, wie die Karpokratianer jede Sünde begehen, um dadurch gleichsam den vorhandenen Sündenstoff aufzubrauchen, so nehmen die Menschen den Tod auf sich, verbrauchen ihn, entziehen dadurch dem Weltherrscher die Kraft und lösen den Kosmos auf. Tritt hier die naturhafte Auffassung des Erlösungsprozesses klar zutage, so noch mehr in einigen Sätzen, die über den auf Erden wandelnden Jesus recht Seltsames aussagen:

»Er aß und trank, ohne die Speisen wieder besonders von sich zu geben. So groß war bei ihm die Kraft der Enthaltsamkeit, daß die Nahrung in ihm nicht verdarb, da es in ihm kein Verderben gab«.

So wie der Tod von den mit der Kraft ewigen Lebens ausgestatteten Menschen dadurch überwunden wird, daß sie ihn immer wieder auf sich nehmen, so kann die irdische Speise den auf Erden weilenden himmlischen Jesus nicht verderben; er braucht die in ihr enthaltenen verderblichen Kräfte restlos auf, da sie in ihm nicht wirken können; denn nach den Regeln der Magie kann immer nur Gleiches auf Gleiches eine Wirkung ausüben. Jesus hat einen pneumatischen Leib, und in ihm gibt es kein Verderben, also kann auch die Speise in ihm nicht verderben. Dieser Gedanke liegt wohl den Sätzen zugrunde; wie der Vorgang im einzelnen gedacht ist, bleibt unklar, da uns der weitere Zusammenhang fehlt, in den diese Worte gehören. Wie sich der Kampf des Guten mit dem Bösen im Menschenherzen gestaltet, schildert ein drastisches Bild, das einem Briefe des Valentinus entstammt:

»Einer allein aber ist gut, dessen Gegenwart in der Offenbarung durch seinen Sohn bezeugt ist, und durch ihn allein vermag das Herz rein zu werden, nachdem jeder böse Geist aus dem Herzen ausgetrieben ist. Denn viele Geister wohnen in ihm und lassen es nicht rein werden. Jeder von ihnen vollbringt aber seine eigenen Werke, indem sie vielfältig das Menschenherz mit unziemlichen Begierden plagen. Und das Herz scheint mir etwas Ähnliches ausstehen zu müssen wie eine Herberge. Denn auch in diese bohrt und gräbt man Löcher und füllt sie oft mit Kot an, wenn Leute ohne Anstand darin herbergen und keine Rücksicht auf den Ort nehmen, weil er ihnen nicht gehört. So geht es auch mit dem Herzen; solange nicht dafür gesorgt wird, ist es unrein und die Wohnung vieler Dämonen. Wenn es aber der allein gute Vater unter seine Aufsicht nimmt, wird es geheiligt und erstrahlt vom Licht, und deshalb wird selig gepriesen, wer ein solches Herz besitzt, weil er Gott schauen wird«.

Das reine Herz aber allein ist es, das die Christen miteinander verbindet und zu einer Ekklesia Gottes macht. So heißt es in einer Predigt:

»Vieles, was sich in den öffentlichen Schriften findet, ist in der Ekklesia Gottes geschrieben. Denn das Gemeinsame, das sind die Worte, die vom Herzen kommen, das ist das Gesetz, das im Herzen geschrieben steht. Das ist das Volk des Geliebten, das geliebt wird und das ihn liebt«.

So erhebt sich über alle äußere Gesetzlichkeit das ungeschriebene Gesetz des Herzens, das erst die rechte Gemeinschaft der Menschen zustande bringt, die sich in der gemeinsamen Liebe zu dem einen Gotte zusammenfinden, der ihnen durch den Erlöser offenbart wurde.

Es ist kaum möglich, sich aus diesen spärlichen Resten der Schriften des Valentinus ein Gesamtbild seiner Persönlichkeit zu formen. Wir können nur sagen, daß hier ein Mann vor uns steht, der die ganze Skala des religiösen Fühlens seiner Zeit beherrschte und die Fähigkeit besaß, jedem um ihn her aufsteigenden Motiv den passenden und packenden Ausdruck zu geben. Er ist Prophet, Dichter, Prediger und Philosoph. Er kann tiefsinnige Spekulationen in geheimnisvoll klingende Worte kleiden; er kann aber auch in volkstümlichem Tone und drastischer Bildersprache den Sinn des Evangeliums enthüllen. Wir finden in den Fragmenten keine Spur heidnischer Mythologie. Platon und Philon, die Evangelien und Paulus genügen zu ihrer religionsgeschichtlichen Erklärung. Er steht von allen Gnostikern dem paulinischen Christentum am nächsten. Und doch geht auf seinen Namen das umfassendste und bekannteste System gnostischer Weisheit zurück, das uns durch seine Schüler in mehrfachen und stark voneinander abweichenden Fassungen erhalten ist. Eines der ältesten Dokumente valentinianischer Gnosis ist wohl in der bereits erwähnten Offenbarungsschrift erhalten, von der Epiphanios den Anfang abgeschrieben hat und in der es nach den oben mitgeteilten Einleitungsworten heißt:

»Als im Anfang der Autopater selbst in sich das All umschloß, das in ihm bewußtlos ruhte, er, den man den nie alternden, ewig jungen, mannweiblichen Äon nennt, der allüberall das All umfängt, selbst aber nicht mit darin umschlossen wird, da wollte die in ihm enthaltene Ennoia — jene Kraft, die einige Ennoia, andere Charis (Gnade) nannten, und zwar ganz richtig, da sie Schätze der >Größe< denen, die aus der Größe stammen, gnädig überlassen hat, andere wieder wahrheitsgemäß mit Sige (Schweigen) bezeichneten, weil die >Größe< durch Denken ohne Worte alles vollbrachte — da wollte also, wie ich sagte, die unvergängliche Ennoia die ewigen Fesseln sprengen und erweckte die Neigung zum Weibe bei der >Größe< aus Sehnsucht, bei ihr zu ruhen. Und als sie sich mit der >Größe< vermischt hatte, brachte sie den Pater (Vater) der Aletheia (Wahrheit) ans Licht, den die Vollendeten zutreffend Anthropos (Mensch) nannten, weil er das Gegenbild des vor allem Sein vorhandenen Un¬gezeugten war. Die Sige ließ hierauf die Aletheia erscheinen, nachdem sie die physische Einung des Lichtes mit dem Anthropos angeregt hatte, ihr Zusammentreffen bestand aber in ihrem bloßen Wollen. Aletheia aber wird sie von den Vollendeten passend genannt, weil sie in Wahrheit ihrer Mutter Sige ähnlich war, da dies die Sige wollte: es sollte die Verteilung von Lichtern auf das männliche und das weibliche Geschlecht gleich sein, damit durch die Lichter selbst die in ihnen vorhandene Einheit auch den aus ihnen Hervorgegangenen und in sinnlich wahrnehmbare Lichter Zerteilten offenbar würde. Darauf regte sich in der Aletheia der wollüstige Drang der Mutter, und sie lenkte die Neigung ihres Vaters auf sich selbst, und sie wohnten einander bei, und in unvergänglicher Mischung und nie alternder Verschmelzung ließen sie die pneumatische mannweibliche Tetras erscheinen, das Gegenbild der präexistenten Tetras, die aus Bythos, Sige, Pater und Aletheia bestand. Diese aus dem Pater und der Aletheia hervorgegangene Tetras besteht aus Anthropos, Ekklesia, Logos und Zoe. Dann vereinten sich nach dem Willen des alles umschließenden Bythos der Anthropos und die Ekklesia eingedenk der väterlichen Worte und ließen die Dodekas der zeugungslustigen männlich-weiblichen Wesen erscheinen. Die männlichen nun sind: Parakletos, Patrikos, Metrikos, Aeinous, Theletos, der das Licht ist, und Ekklesiastikos, die weiblichen aber: Pistis, Elpis, Agape, Synesis, Makaria, Sophia. Darauf erschienen Logos und Zoe. Auch sie formten die Gabe der Einung um, pflogen Gemeinschaft unter sich — ihre Gemeinschaft aber bestand in ihrem Willen — und brachten nach der Zusammenkunft eine Dekade von zeugungslustigen und selbst wieder männlich-weiblichen Wesen hervor. Die männlichen sind: Bythios, Ageratos, Autophyes, Monogenes, Akinetos. Diese gaben sich ihre Benennung zum Ruhme des Allumfassenden. Die weiblichen aber sind: Mixis, Henosis, Synkrasis, Henotes, Hedone, und diese gaben sich ihre Benennung zum Ruhme der Sige. Als so dem Willen des Vaters der Aletheia entsprechend die Dreißig vollendet war, bis zu der die irdischen Menschen auf der Erde zählen, ohne etwas von ihr zu wissen, und bei der sie, wenn sie bis zu ihr gekommen sind und keine weitere Zahl finden können, sich umwenden und wieder zu zählen anfangen — sie besteht aber aus Bythos, Sige, Pater, Aletheia, Anthropos, Ekklesia, Logos, Zoe, Parakletos, Patrikos, Metrikos, Aeinous, Theletos, Ekklesiastikos, Pistis, Elpis, Agape, Synesis, Makaria, Sophia, Bythios, Ageratos, Autophyes, Monogenes, Akinetos, Mixis, Henosis, Synkrasis, Henotes, Hedone —, da beschloß der Allumfassende in unübertrefflicher Einsicht, daß eine andere Ogdoas der präexistenten ursprünglichen Ogdoas gegenüber hervorgerufen werden müßte, die in der Zahl Dreißig verbleiben sollte; denn es gehörte nicht zum Plane der >Größe<, in die Zahl zu fallen, und er stellte den männlichen Wesen die männlichen Zahlen gegenüber: die Eins, die Drei, die Fünf, die Sieben, und den weiblichen die weiblichen Zahlen: die Zwei, die Vier, die Sechs, die Acht. Diese Ogdoas nun, die der präexistenten Ogdoas gegenüber hervorgerufen wurde, das heißt: der aus Bythos, Pater, Anthropos, Logos und aus Sige, Aletheia, Ekklesia, Zoe bestehenden, wurde vereinigt mit den Lichtern, und so entstand die abgetrennte Dreißig. Die präexistente Ogdoas aber blieb in sich ruhend bestehen«.

Diese Aufzählung von dreißig auseinander hervorgehenden Äonen gehört zu dem von allen Kirchenvätern, die auf Valentinus zu sprechen kommen, hervorgehobenen charakteristischen Merkmal seiner Lehre. Eine große Zahl von Spekulationen, die in der Philosophie- und Religionsgeschichte getrennt auftreten, sind hier zu einer Einheit verflochten worden.

Der Form nach gehört die Schrift, aus der die vorliegende Stelle stammt, zum Typus des Offenbarungsbuches uralter Herkunft. In den kurzen einleitenden Sätzen tritt der Verfasser als Prophet auf, der durch göttliche Offenbarung in die tiefsten Geheimnisse der Welt eingedrungen ist. Dann folgt die Entwicklung der Äonenpaare. Ebenso beginnt schon Hesiod seine Theogonie mit dem Hymnus auf die Musen, die ihn begeistert und zum Künden der Vergangenheit und der Zukunft befähigt haben, und dann folgt die katalogartige Aufzählung der sich paarweise miteinander vereinenden und fortzeugenden Götter. Epiphanios weist selbst auf diese Parallele hing und stellt den dreißig Äonen Valentins die dreißig Götter Hesiods gegenüber. Mit Genealogien aber begannen auch orphische Schriften, von Genealogien ist auch das Alte Testament durchsetzt, und die in ihnen aneinandergereihten Namen werden von den alexandrinischen Allegorikern als die Bezeichnungen von Geistwesen gedeutet; auch die Evangelien des Matthäus und Lukas beginnen mit Genealogien, an deren Stelle im Johannesevangelium die Schilderung der geistigen Abstammung des Logos aus der Gottheit tritt.

Schon die Orphiker und nach ihrem Muster Empedokles, dann in weiterem Umfange die Stoiker hatten die Götterpaare der Theogonien in Naturkräfte und Elemente umgedeutet, von denen immer eins aus dem andern hervorgeht und sich das eine mit dem andern paart. Die Theogonie wurde zur Kosmogonie. Element und Buchstabe aber wurden durch dasselbe Wort »Stoicheion« bezeichnet. Der sich aus Buchstaben zusammensetzende Logos, die Sprache, war schon für Demokrit »ein Schatten der Wirklichkeit« und stellte als solcher ihr getreues, aber unkörperliches Abbild dar. Wie sich nun der Logos aus Buchstaben, Silben und Worten zusammenfügt, so entsprechen die Elemente den Buchstaben, die aus ihnen zusammengesetzten organischen Stoffe den Silben, der ganze Körper dem Worte. Da nun Gott nach dem Alten Testa¬mente die Welt dadurch schuf, daß »er sprach« und »es wurde«, da auch nach babylonischer Vorstellung Gott durch sein Wort schafft und in Ägypten der oberste Gott durch Tönenlassen der Stimme die Untergötter hervorbringt, da ferner auch bei Demokrit, bei Heraklit und in der Orphik die schöpferische Kraft des Logos eine Rolle spielte, so war Anregung genug dazu vorhanden, darüber nachzusinnen, wie wohl das große Schöpfungswort gelautet habe, mit dem Gott die Welt ins Leben rief.

So heißt es in der Pistis Sophia: »Denn jenes Mysterium ist ihrer aller Aufstellung, und jenes Mysterium des Unaussprechlichen ist ferner auch ein einziges Wort, das existiert in der Sprache des Unaussprechlichen, und es ist die Einrichtung der Auflösung aller Worte, die ich euch gesagt habe«.

Und in einem koptischen Buche über die Mysterien der griechischen Buchstaben findet sich die Ausführung:

»Das Alphabet beginnt mit einem Vokal und schließt mit einem. Das kommt daher, daß die den Elementen des Alphabets entsprechenden Elemente der Schöpfung ins Dasein treten durch die Stimme Gottes«.

Der aus der Schule Valentins hervorgegangene Gnostiker Markos läßt dieses Schöpfungswort aus dreißig Buchstaben bestehen, die den dreißig Äonen Valentins entsprechen und in vier Gruppen zu je 4, 4, 10 und 12 Buchstaben zerfallen, also die beiden sich zur Ogdoas zusammenschließenden Tetraden, die Dekas und die Dodekas bedeuten. Neben den Buchstaben findet sich in der Äonenspekulation zugleich die pythagoreische Zahlenmystik.

Daß die ungeraden Zahlen männlich, die geraden weiblich sind, war altpythagoreische Lehre.

Die Tetras gilt als die alle anderen umschließende heilige Zahl, da

1 + 2 + 3 + 4 die 10 ergibt,
5 = 2 + 3,
6 = 1 + 2 + 3,
7 = + 4,
8 = 1 + 3 + 4 und
9 = 2 +3 +4 ist.


Die Ogdoas stellt die Sphären der sieben Planeten und des Fixsternhimmels, die Dodekas die zwölf Tierkreisbilder dar, durch welche die Sonne in einem Jahre wandert und in deren jedem sie dreißig Tage verweilt. Nicht nur die Buchstaben, sondern auch die Zahlen standen zu den Elementen in unmittelbarer Beziehung. So läßt der arabische Gnostiker Monoimos bei Hippolytos die Reihe der Zahlen und der Elemente sich aus dem Iota, dem Anfangsbuchstaben des Namens Jesus, der als senkrechter Strich zugleich die Zahl 1 bedeutet, entwickeln, indem er sich an die platonische Lehre von den Elementarkörpern anschließt: »Denn die Würfel, Oktaeder, Tetraeder und alle ähnlichen Figuren, aus denen Feuer, Luft, Wasser und Erde bestehen, sind aus den Zahlen entstanden, die in jenem einfachen Strich des Jota enthalten sind, welcher ist der vollkommene Sohn des vollkommenen Menschen«, wobei unter dem Menschen hier wieder Makrokosmos und Mikrokosmos in gleicher Weise zu verstehen sind wie in den ophitischen Systemen.

Die dreißig Äonen des Valentinus stehen wohl zu den dreißig Tagen des Monats in engster Beziehung, aber sie bedeuten diese Tage nicht selbst, sind keine Zeit- und keine Sternengötter, sondern deren allem zeitlichen Wechsel entzogene Urbilder. Äon heißt: der immer Seiende, der Ewige. Die Ewigkeit aber steht in einem Gegensatze zur Zeit. Valentin sagt selbst: »So viel das Bild schwächer ist als das lebendige Angesicht, um so viel ist auch der Kosmos geringer als der lebendige Äon«. Damit weist er uns auf Platon als die Quelle seiner Ansicht vom Verhältnis des Äon zum Kosmos hin, das der Timaios mit folgenden Worten beschreibt:

»Als der Vater, der das All erzeugt hatte, sah, wie es sich bewegte und lebte und ein Bild der ewigen Götter geworden war, freute er sich, und in seiner Freude sann er darauf, es seinem Urbilde noch ähnlicher zu machen. Wie dies nun selbst ein ewig lebendiges Wesen ist, suchte er auch dieses All möglichst ebenso zu vollenden. Da nun die Natur dieses lebendigen Wesens eine ewige ist, es aber nicht möglich war, diese Eigenschaft dem Geschöpfe vollkommen zu verleihen, so sann er darauf, eine Art bewegten Abbildes des Äons zu schaffen und schuf zugleich mit der Ordnung des Himmels das, was wir die Zeit nennen als ein in Zahlen sich bewegendes Abbild des in der Einheit verharrenden Äons. Da es nämlich vor der Entstehung des Himmels keine Tage und Nächte, keine Monate und Jahre gab, ließ er damals, als er jenen zusammenfügte, diese mit entstehen. Sie alle aber sind Teile der Zeit«.

Der Äon ist also hier nichts anderes als der geistige Kosmos, das ewig stillstehende Sein, nach dessen Vorbild die bewegte Welt entstand. Der Äon ist die Ideenwelt, die in ihrer Fülle eine Einheit bildet; er ist zugleich die Ewigkeit im Gegensatz zur Zeit. Die Ideen selbst aber hatte bereits Platon mit den Zahlen in eins gesetzt. Zwischen Ewigkeit und Zeit, zwischen Urbild und Abbild, Ruhe und Bewegung vermittelt die Zahl. Die Zeit mißt sich selbst an der Zahl. Ihre Abschnitte aber werden bestimmt durch den Lauf der Gestirne, die Tage und Nächte, Monate und Jahre hervorbringen. Betrachten wir von hier aus die Äonenlehre des Valentinus, so erscheinen die Äonen selbst, die wie die Ideen in einem einzigen Äon ruhen oder in ihm gipfeln, als die Urbilder der durch die Gestirne bestimmten Zeiten.

Die Tetras, Ogdoas, Dekas und Dodekas haben zunächst Namen. Sie sind Ideen, und die Namen selbst stellen nichts anderes dar als die höchsten Begriffe der Religion, die sich in ihnen ebenso wie Platons Idee des Guten zu persönlichen Wesenheiten verdichten. Unter der präexistenten, über alles Sein erhabenen Tetras steht eine pneumatische, unter der präexistenten Ogdoas eine Achtheit der Zahlen und so unter den dreißig Äonen, die mit Namen bezeichnet sind, dreißig entsprechende, die als Zahlen auftreten. So steigen wir von der Idee zur Zahl herab. Nach den Zahlen aber wieder richten sich die Sterne, die »Lichter«, und sie bestimmen die Zeit. In der Anzahl und Einteilung der Äonen finden wir daher nicht nur den Ursprung des Zahlensystems, sondern auch die Teile der Zeit wieder: die vier Jahreszeiten, die zwölf Stunden des Tages, die zwölf Monate und die dreißig Tage des Monats. So sind die Äonen Ideen, Elemente, Buchstaben, Zahlen, Urbilder der Sterne und der Zeiten zugleich. Sie vereinen sich zum Pleroma, zu einer Welt des Geistes, in der alles irdische Geschehen seine letzten Ursprünge hat. In diese Welt der Äonen durch die Kraft des Geistes emporzusteigen und aus ihr die Geheimnisse der Gottheit herabzuholen, ist höchstes Streben des Pneumatikers. S.281ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 32, Hans Leisegang, Die Gnosis, ©1985 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages, Stuttgart