Iwan Sergejewitsch Turgenjew (1818 – 1883)

  Russischer Schriftsteller, der sich seit 1855 meistens in Deutschland und Frankreich aufhielt, In Deutschland lernte er u. a. Gustav Freytag und Theodor Storm kennen. Die folgenden Gedichte sind seinem 1882 erschienen Alterswerk »Senilia. Gedichte in Prosa« entnommen. Sie drehen sich vor allem um den Tod und die hilflose Nichtigkeit des Menschen vor der unentrinnbaren Allmacht der ewigen Natur. Hier ist durchaus die pessimistische Weltansicht eines Arthur Schopenhauers zu spüren.

Siehe auch Wikipedia
 

Inhaltsverzeichnis

Das himmelblaue Reich
Ein Gastmahl beim Höchsten Wesen
Die Nymphen
Morgen! Morgen!
  Die Natur
Das Gebet

>>>Christus



Das himmelblaue Reich
Juni 1878
O himmelblaues Reich! O Reich der Himmelsbläue, des Lichtes, der Jugend und des Glücks! Ich habe dich gesehen... im Traum.

Wir waren zu mehreren in einem schönen, geschmückten Boot. Wie eine Schwanenbrust wölbte sich unser weißes Segel unter flatternden Wimpeln.

Ich wußte nicht, wer meine Gefährten waren; aber ich fühlte mit ganzem Herzen, daß sie ebenso jung, fröhlich und glücklich waren wie ich!

Doch ich beachtete sie kaum. Ringsum sah ich nur das uferlose, lasurblaue Meer. Auf der welligen Weite des Meeres flimmerten goldfarbene Schuppen, über uns dehnte sich der ebenso uferlose, lasurblaue Himmel und darüber, triumphierend und strahlend, zog die freundliche Sonne dahin.

Aus unserer Mitte erklang von Zeit zu Zeit lautes Lachen, fröhlich wie das Lachen der Götter.

Auf einmal rezitierte jemand von uns Verse, erfüllt von göttlicher Schönheit und flammender Kraft. Es schien, als gäbe der Himmel selbst sein Echo, als zittere das Meer voll Mitgefühl. Dann wieder trat selige Stille ein.

Sanft in die leichten Wellen tauchend, schwamm unser rasches Boot dahin. Nicht der Wind trieb es voran; unsere eigenen spielenden Herzen lenkten es. Wohin wir nur wollten, dahin eilte es. Es gehorchte, als sei es lebendig.

Wir kamen an Inseln vorüber, zauberischen, halbdurchsichtigen Inseln, die wie Edelsteine, wie Rubine und Smaragde, schimmerten. Berauschende Wohlgerüche wehten aus den Buchten herüber; einige überschütteten uns mit einem Regen weißer Rosen und Maiglöckchen; aus anderen flogen plötzlich regenbogenfarbene, langgefiederte Vögel auf.

Die Vögel kreisten über uns, die Maiglöckchen und die Rosen zerschmolzen in dem Perlenschaum, der an der glatten Wand unseres Bootes entlangglitt.

Zugleich mit den Blumen, mit den Vögeln, kamen wunderbar süße Laute herüber. Frauenstimmen schienen unter ihnen zu sein. Und alles ringsum: der Himmel, das Meer, das Wiegen des Segels in der Höhe, das Murmeln des Strudels hinter dem Heck — alles kündete von Liebe, von seliger Liebe!

Und die, die jeder von uns liebte, sie war da. . . unsichtbar und doch nah. Noch einen Augenblick — und ihre Augen würden erglänzen. ihr Lächeln erstrahlen... Ihre Hand wird auch deine Hand nehmen — und dich mit sich in das ewige Paradies ziehen!
O himmelblaues Reich! Ich habe dich gesehen... im Traum
. S.89ff.

Ein Gastmahl beim Höchsten Wesen
Dezember 1878
Einst kam dem Höchsten Wesen in den Sinn, ein großes Gastmahl in seinem azurblauen Palast zu veranstalten. Alle Tugenden wurden zu Gast gebeten. Aber nur die Tugenden. Männer wurden nicht eingeladen, nur Damen.

Sie versammelten sich zahlreich — die Großen und die Kleinen.

Die kleinen Tugenden waren angenehmer und liebenswerter als die großen; alle schienen zufrieden und unterhielten sich höflich miteinander, wie sich das unter nahen Verwandten und guten Bekannten gehört. Aber mit einem Male bemerkte das Höchste Wesen zwei wunderschöne Damen, die einander offenbar noch gar nicht kannten.


Der Hausherr nahm die eine dieser Damen bei der Hand und führte sie zur anderen.

»Die Wohltätigkeit!« sagte er, auf die erste deutend. »Die Dankbarkeit!« fügte er hinzu, auf die zweite deutend.

Beide Tugenden
waren sprachlos vor Staunen: Seit die Welt besteht — und sie besteht schon ziemlich lange — trafen sie sich zum ersten Mal
! S.105

Die Nymphen
Dezember 1878
Ich stand vor einer herrlichen Kette von Bergen, die sich im Halbkreis hinzogen; junger grüner Wald bedeckte sie vom Gipfel bis zum Fuß.

Über den Bergen wölbte sich in durchsichtigem Blau der südliche Himmel; die Sonne ließ aus der Höhe herab ihre Strahlen spielen; unten, halb im Gras verborgen, murmelten flinke Bäche.

Da erinnerte ich mich einer alten Sage von einem griechischen Schiff, das im ersten Jahrhundert nach Christi Geburt über das Ägäische Meer fuhr.

Es war Mittag. Das Wetter war ruhig. Aber plötzlich, in der Höhe, über dem Kopf des Steuermannes, sagte jemand deutlich:

»Wenn du an der Insel vorbeisegelst, so ruf mit lauter Stimme: >Der Große Pan ist tot!<«

Der Steuermann wunderte sich und erschrak. Aber als das Schiff an der Insel vorbeifuhr, gehorchte er und rief:

»Der Große Pan ist tot!«

Sogleich ertönte als Antwort auf seinen Ruf das Steilufer entlang (obwohl die Insel unbewohnt war) lautes Schluchzen, Stöhnen, eine langgezogene Klage:

»Er ist tot! Der Große Pan ist tot!«

Ich erinnerte mich dieser Sage, und mir kam ein sonderbarer Gedanke: »Was geschähe, wenn auch ich einen Ruf ertönen ließe?« Aber angesichts der Lebensfreude, die mich umgab, vermochte ich nicht, an den Tod zu denken, so rief ich aus voller Kraft:

»Er ist auferstanden! Der Große Pan ist auferstanden!«


Und sogleich — welch Wunder — erscholl als Antwort auf meinen Ausruf im ganzen weiten Halbrund der grünen Berge frohes Lachen, erhob sich fröhliches Gemurmel und Händeklatschen. »Er ist auferstanden! Pan ist auferstanden!« riefen junge Stimmen. Plötzlich hörte ich vor mir ein Gelächter, heller als die Sonne in der Höhe, verspielter als die Bächlein, die unten im Grase murmelten. Dann war das eilige Getrappel leichter Schritte zu hören, durch das satte Grün schimmerte das marmorne Weiß wallender Tuniken, die lebendige Schönheit nackter Körper. Da eilten Nymphen, Dryaden, Bacchantinnen von der Höhe ins Tal.

Alle erschienen zur gleichen Zeit am Waldrand. Die Locken wanden sich um die göttlichen Häupter, wohlgeformte Hände nahmen Kränze und Tamburins, und Lachen, funkelndes, olympisches Lachen eilte und wogte mit ihnen heran.

Vor ihnen her schritt eine Göttin. Sie war größer und schöner als alle die anderen. Einen Köcher trug sie über der Schulter, in den Händen hielt sie den Bogen, auf ihren Locken stand die silberne Sichel des Mondes.

Diana? Du?

Aber plötzlich blieb die Göttin stehen... und mit ihr hielten alle Nymphen inne. Das helle Lachen erstarb. Ich sah, wie sich das Antlitz der verstummten Göttin mit Totenblässe bedeckte. Ich sah, wie ihre Hände sich senkten, wie ihre Beine erstarrten, wie unbeschreiblicher Schrecken ihren Mund öffnete, ihre weit in die Ferne gerichteten Augen aufriß. Was hatte sie gesehen? Wohin blickte sie?

Ich wandte mich in die Richtung, in die sie schaute.

Am äußersten Horizont hinter dem Streifen der Felder brannte wie ein flammender Punkt ein goldenes Kreuz auf dem weißen Turm einer christlichen Kirche. Dieses Kreuz hatte die Göttin erblickt.

Ich hörte hinter mir einen langen Seufzer, der dem Beben einer zitternden Saite glich, und als ich mich wieder umwandte, war von den Nymphen keine Spur geblieben. Der weite Wald grünte wie zuvor. Nur hier und da leuchtete durch das dichte Netz der Zweige etwas Weißes auf und verschwand.

Waren es die Gewänder der Nymphen oder stieg Nebel vom Grund des Tales auf? Ich weiß es nicht.


Aber wie trauerte ich den entschwundenen Göttinnen nach!
S.109ff.

Mai 1879
Morgen! Morgen!
Wie leer und schal und nichtig ist doch fast jeder durchlebte Tag! Wie wenige Spuren lässt er zurück! Wie sinnlos und dumm Stunde um Stunde vergeht, eine nach der anderen!

Trotzdem möchte der Mensch existieren, er liebt das Leben, er setzt seine Hoffnungen darauf, er baut auf sich, auf die Zukunft! Oh, welches Glück erwartet er von der Zukunft!

Doch warum stellt er sich vor, künftige Tage würden sich von dem eben verflossenen unterscheiden? Aber darüber denkt er ja gar nicht nach. Er grübelt überhaupt nicht gerne, und das ist gut so.

»Nun, morgen, morgen!« tröstet er sich, solange ihn dieses »morgen« nicht ins Grab bringt.

Und bist du erst im Grab, hörst du ohnehin auf zu grübeln
. S.123f.

Die Natur
August 1879
Ich träumte, ich träte in einen riesigen unterirdischen Tempelraum mit hohen Gewölben, der von einem gleichfalls unterirdischen Licht gleichmäßig erleuchtet war.
In der Mitte des Saales saß eine majestätische Frau in einem wallenden grünen Gewand. Den Kopf auf die Hand gestützt, schien sie in tiefes Nachdenken versunken zu sein.

Sogleich verstand ich, dass diese Frau die Natur selbst war, und ehrfurchtsvoller Schauder ergriff meine Seele.


Ich näherte mich der sitzenden Frau und verneigte mich ehrerbietig:

»O du unser aller Mutter!« rief ich aus. »Woran denkst du? Sinnst du über das zukünftige Schicksal der Menschheit nach? Wie sie zur höchsten Vollkommenheit und Glückseligkeit gelangen kann?«

Die Frau richtete langsam ihre dunklen, strengen Augen auf mich. Ihre Lippen bewegten sich. Und eine gellende Stimme erklang wie das Dröhnen von Eisen:

»Ich denke darüber nach, wie man den Beinmuskeln des Flohs größere Kraft verleihen kann damit er sich besser vor seinen Feinden retten kann. Das Gleichgewicht zwischen Angriff und Verteidigung ist zerstört. Es muß wiederhergestellt werden.«

»Wie?« stammelte ich zur Antwort: »Darüber denkst du nach? Sind nicht wir, die Menschen, deine liebsten Kinder?«

Die Frau runzelte leicht die Augenbrauen:

»Alle Geschöpfe sind meine Kinder«, sagte sie, »und ich sorge für alle in gleicher Weise, und auf die gleiche Weise vernichte ich sie.«

»Aber das Gute, die Vernunft, die Gerechtigkeit«, stammelte ich wieder.

»Das sind menschliche Worte«, ertönte die eiserne Stimme. »Ich kenne weder Gut noch Böse... Vernunft ist für mich nicht Gesetz — und was ist Gerechtigkeit? Ich gab dir das Leben, ich werde es dir wieder nehmen und einem anderen Wesen geben, Würmern oder Menschen, mir ist das einerlei... Aber du wehre dich nur und störe mich nicht!«

Ich wollte etwas erwidern, aber die Erde ringsum stöhnte und bebte, und ich erwachte
. S.125f.

Das Gebet
Juni 1881
Was der Mensch auch in seinem Gebet erbitten mag, immer betet er um ein Wunder. Jedes Gebet läuft schließlich darauf hinaus: »Großer Gott, gib, daß zwei mal zwei nicht vier sei!«

Nur ein solches Gebet ist ein echtes Gebet von Angesicht zu Angesicht. Zu einem Weltgeist, zum Höchsten Wesen, zum abstrakten, wesenlosen Gotte Kants oder Hegels zu beten, ist unmöglich, ist undenkbar. Aber könnte denn selbst ein persönlicher, lebendiger, leibhaftiger Gott wirklich machen, daß zwei mal zwei nicht vier ergibt? Jeder Gläubige ist verpflichtet zu antworten: »Er kann es!« Und er ist verpflichtet, selbst diese Überzeugung zu gewinnen. Wenn nun aber sein Verstand sich gegen solchen Unverstand auflehnt? Dann kommt ihm Shakespeare zu Hilfe: »Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, mein Freund Horatio« etc.

Widerspricht man ihm aber im Namen der Wahrheit, so braucht er nur die berühmte Frage zu wiederholen:

»Was ist Wahrheit?«

Und deshalb: Lasst uns trinken und fröhlich sein, und beten!
S.149f.
Aus: Iwan Turgenjew, Gedichte in Prosa, Russisch/Deutsch Übersetzung und Nachwort von Christine Reinke-Kunze
Reclams Universalbibliothek Nr. 1701, © 1983 Philipp Reclam jun., Stuttgart. Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Reclam Verlages