Iwan Sergejewitsch
Turgenjew (1818 – 1883)
>>>Gott
Christus
Mai 1879
Ich sah mich als Jüngling, fast noch als Knaben in einer niedrigen Dorfkirche.
Dünne Wachskerzen brannten mit schwacher Flamme wie rote Pünktchen
vor den alten Heiligenbildern.
Ein regenbogenfarbener Lichtschein umgab jede einzelne kleine Flamme. Dunkel
und trüb war es in der Kirche. Vor mir drängten sich viele Menschen.
Lauter blonde Bauernköpfe. Von Zeit zu Zeit gerieten sie in Bewegung, verneigten
sich, erhoben sich wieder, wie reife Kornähren, wenn der Sommerwind wie
eine sanfte Woge über sie dahinstreicht.
Plötzlich trat jemand von hinten her neben mich.
Ich wandte mich ihm nicht zu, aber ich spürte sofort, dieser Mensch ist
Christus.
Rührung, Neugier, Angst bemächtigten sich meiner. Ich nahm alle meine
Kraft zusammen und betrachtete meinen Nachbarn.
Ein Gesicht wie jedes andere, ein Gesicht, das allen Menschengesichtern gleicht.
Die Augen schauen ein wenig nach oben, aufmerksam und still. Die Lippen sind
geschlossen, werden nicht zusarnmengepreßt: die Oberlippe ruht gleichsam
auf der unteren. Der kleine Bart ist geteilt. Die Hände sind gefaltet und
bewegen sich nicht. Auch seine Kleidung ist die gleiche wie bei allen anderen.
»Wie kann das Christus sein!« dachte ich. »Ein
so einfacher, einfacher Mensch! Es kann nicht sein!«
Ich wandte mich ab. Aber kaum hatte ich meinen Blick von diesem einfachen Menschen
abgewandt, als mich wieder das Gefühl überkam, Christus stände
wirklich neben mir.
Wieder nahm ich alle meine Kraft zusammen. Und wieder sah ich dasselbe Gesicht,
das allen Menschengesichtern glich, dieselben alltäglichen Züge eines,
wenn auch unbekannten, Menschen.
Mir wurde plötzlich unheimlich zumute, und ich kam zu mir. Nun
erst verstand ich, dass gerade ein solches Gesicht — ein Gesicht,
das allen menschlichen Gesichtern gleicht — Christi Antlitz ist. S.117f.
Aus: Iwan Turgenjew, Gedichte in Prosa, Russisch/Deutsch Übersetzung und
Nachwort von Christine Reinke-Kunze
Reclams Universalbibliothek Nr. 1701, © 1983 Philipp Reclam jun., Stuttgart.
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher