Ignaz Paul Vital Troxler (1780 -1866)
Schweizer
Arzt, Politiker und Naturphilosoph, der 1830—1803 in Jena Philosophie (Schelling, Hegel) und Medizin studiert. Nach seinem Studium geht er zunächst als Arzt nach Wien, wo er bis 1808 bleibt. Im Jahr
1819 erhält er einen Lehrstuhl für Philosophie und Geschichte am Lyceum zu Luzern, wird aber bereits 1821 aus politischen Gründen aus seinem Amt entfernt. 1823 ist er in Aarau am Gymnasium und seit 1829 als Professor der Philosophie an der Universität Basel tätig,
wo er sich aber gleichfalls aus politischen Gründen nicht lange halten kann. Von 1835—1853 wirkt er als Philosoph an der neu gegründeten
Universität Bern. Troxler, der ein begeisterter Anhänger Schellings war, kreierte eine eigenwillige romantische »Biosophie«, in
der alles um den Zentralbegriff »Leben« kreist. Er unterscheidet: Geist, höhere Seele, niedere Seele (Leib) und Körper; dementsprechend
in umgekehrter Ordnung die vier Erkenntnisarten: sinnliches Wahrnehmen,
Erfahrung, Vernunft und geistige Anschauung: Erfahrung und Vernunft erfolgen
vermittelnd (reflektierend), sinnliches Wahrnehmen und geistige Anschauung werden intuitiv vollzogen. Siehe auch Wikipedia |
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Über das
Leben und sein Problem
(Aphorismen-Auswahl nach dem
32 Seiten umfassenden Neudrucktext)
Was ist und erscheint, lebt, und was lebt, liegt unter dem Zauber von Erscheinung
und Existenz.
Zur Erscheinung rechnet Troxler auch das Bewußtsein.
Von Schelling her gesehen, stehen dem Realen
der Existenz das Ideale der sich ihrer selbst bewußt werdenden und die
Erscheinungen erfassenden Seele gegenüber. Leben heißt die ursprüngliche
Einheit von Realem und Idealem.
In diesem Zauber des Lebens liegt es selbst bewahrt, als ein wundervolles
Geheimnis und geheimnisvolles Wunder.
Das Leben ist Ursache; Erscheinung und
Existenz sind Urteil derselben. Ursache
= Ur-Sache ; Urteil = Ur-Teil.
Das Leben als Ursache ist nicht und erscheint nicht; — sondern
lebt.
Leben an sich ist Erscheinung gleich Existenz und Existenz gleich Erscheinung; — Erscheinung und Existenz zugleich und zusammen, ununterscheidbar, sind
Leben.
Das Leben als Urteil erscheint im Geheimnis der Erscheinung, wie es im Wunder
der Existenz ist.
Erscheinung und Existenz haben ihren Ursprung und Abgrund im Leben, als Urteile
in der Ursache.
Das Leben als Ursache ist: unsterblich — denn unsterbliche Ursache ist: Leben.
Die Erscheinung ist ewig; die Existenz
unendlich; denn Ewiges und Unendliches
sind Urteile des Unsterblichen.
Das Ewige der Erscheinung ist Gott; das
Unendliche der Existenz die Natur. — Gott erscheint, wie die Natur ist, und die Natur ist, wie Gott erscheint.
Sterblich ist nur die Welt,
die zwischen ihrem Ursprunge und Abgrunde in der Ursache schwebende
Wirkung, — zeitlich ist nur der
Schein, endlich
nur das Sein der Sterblichen.
Die Sterblichkeit hebt die Unsterblichkeit, die Zeitlichkeit die Ewigkeit, die
Endlichkeit die Unendlichkeit nicht auf; — so wenig als die Welt das Leben,
der Schein Gott und das Sein die Natur aufhebt.
Das Unsterbliche, das Einzige, lebt im All, dem Sterblichen; das Ewige erscheint
im Zeitlichen, das Unendliche im Endlichen.
So verwahrt sich das Leben als Geheimnis in der Erscheinung, und so offenbart
es sich als Wunder in der Existenz.
Nie und nirgends wird das Leben geboren und kann auch nirgends und nie sterben.
Nur über Sein und Schein herrscht der Tod — und Tod ist nur der Abgrund der Welten im Leben, Wie Geburt
nur Ursprung derselben aus dem Leben ist.
Über Geburt und Tod ist Erscheinung und Existenz; über Schaffen und
Vernichten Gott und die Natur, und über das Nichts
das Leben erhaben.
Es gibt keine Inertia und kein Vakuum [kein Träges und kein Leeres] — nichts, als Leben!
Das Leben kann also auch nichts anderes suchen und nichts anderes finden als
sich selbst; des Lebens Problem ist das
Leben.
Es ist das Unbekannte, von der Menschheit
nach allen Seiten Gesuchte und nicht Gefundene, weil es selbst keine Seite ist.
Noch überall und immer verlor es sich in seinem eigenen Labyrinthe —
weil es von sich in Erscheinung und Existenz über, aber nicht wieder in
sich zurückging.
Dieses ist der Fall der Menschheit; jeder Fall derselben ist Abfall vom Leben; — und daher die Erbsünde, der sie noch allzeit und allgemein
erlag: statt des Lebens die Erscheinung oder Existenz zu ergreifen.
Indem sie statt des Lebens die eine oder andere ergriff, machte sie die eine
zum Götzen, die andere zum Schlachtopfer, und so starb sie bald den Tod
der Seele, bald den des Leibes.
Einmal den einen und einzigen Schwerpunkt der Erscheinung und Existenz, das
Leben verloren, treibt sie sich einerseits in spekulativem Fluge oder übersinnlicher
Schwärmerei, andererseits in praktischem Gange oder sinnlichem Genusse
durch die Welt.
Ein Tor ist der Weise, welcher aus sich der Erscheinung Gesetze zu geben träumt,
so wie der Mächtige ein Schwächling, der die Formen der Existenz zu
bestimmen wähnt — jenem glaubt, diesem gehorcht die Menge, weil er
von der Vorsehung berufen wurde als Brennpunkt der Geister, oder vom Schicksale
erwählt als Mittelpunkt der Körper, unter sie fiel; — leicht
werdet ihr beide als bloße Zeichen der Zeit und des Raumes vorübergehen
sehen!
Wie die Elemente, so die Gemüter! — Revolutionen von jenen trafen
oft, wie ihr bemerktet, mit Gärungen in diesen zusammen; und das Freie
und Notwendige, wage ich zu behaupten, tauscht überhaupt nach einem Gesetze
das Alte mit Neuem, das Heimische mit Fremdem um.
Durch die Welt der Erscheinungen, welche ihr die moralische nennt, läuft
ein großes zusammenhängendes Band, ein solches, wie das, welches
die Welt der Existenz, die physische, zusammenhält.
Beide sind an ein Gesetz gebunden, an das Gesetz des Lebens; — dieses
spricht sich in der einen als Vorsehung und
drückt sich in der anderen als Schicksal aus.
Das Leben hat kein anderes Problem als das: einer
ihm selbst gleichen, allseitigen und gleichmäßigen Erscheinung und
Existenz.
Dieses ist das eine Problem, aus welchem alle anderen lösbar sind —
aber auch das beständig und allgemein Verkannte, indem die Menschheit,
allzeit und überall die Probleme der Erscheinung oder Existenz nur abgesondert
fassend, in vielfältiger Zersplitterung sich zeit- und endlose Zwecke und
Mittel schuf, welche alle nur im Probleme des Lebens sich verlieren.
Individuum und Universum haben nur dieses — denn das Leben allein ist
Ursache — Entwicklung der Erscheinung aus Gott, Ausbildung der Existenz
durch die Natur.
Gott ist im Universum das Stete in aller Entwicklung der Erscheinung, die Natur
das Feste in aller Ausbildung der Existenz; — im Individuum geht von jenem
die Einbildung, von dieser die Erzeugung
aus.
Die Einbildung ist die Quelle alles Bewußtseins,
die Erzeugung alles Daseins.
Einbildung und Erzeugung sind daher auch das Ursprünglichste im Leben des
Menschen; die Einbildung, als Brennpunkt des Bewußtseins, Seele;
die Erzeugung als Mittelpunkt des Daseins, Leib; — in jener sprach das Leben das Wort aus, welches in diesem Fleisch ward.
Von Einbildung und Erzeugung aus, als dem ersten Momente des Lebens im Bewußtsein
und dem ersten Punkte desselben im Dasein, wächst die Menschheit einer
höheren Erscheinung und Existenz zu.
Die Einbildung der Erscheinung in die Existenz ist
Denken; die Einbildung der Existenz in die Erscheinung, Erfahrung
; die Erzeugung der Erscheinung aus der Existenz ist Wollen,
die Erzeugung der Existenz aus der Erscheinung, Handeln.
Die Einbildung von Erscheinung in Existenz und von Existenz in Erscheinung,
welche gleich ihrer Ursache, dem Leben, ist, spricht sich von der ersten Seite
als Gewißheit, von der zweiten als Wahrheit aus — aus der Gewißheit
stammt die Wissenschaft, in der Wahrheit
wurzelt die Geschichte.
Die Erzeugung der Erscheinung aus Existenz und von Existenz aus Erscheinung,
welche gleich ihrer Ursache, dem Leben, ist, drückt sich von der ersten
Seite als Güte, von der letzten als Schönheit aus — aus der
Sittlichkeit geht die Ethik hervor, aus
der Schönheit entspringt die Kunst.
Unabhängig und unbedingt ist jeder dieser Aufschlüsse des Lebens von
dem andern; aber einstimmend und entsprechend sind sie unter sich, da jeder
für sich vom Leben bedingt und abhängig ist. Wissenschaft und Geschichte,
Ethik und Kunst ist jede für sich ein besonderes und geschlossenes und
— nur von dem Leben aus lösbares Problem.
Sie selbst sind erst in der Entwicklung und Ausbildung des Lebens aufgegangen;
die Geschichte geht aus dem Erfahren, die Wissenschaft aus dem Denken, die Ethik
aus dem Wollen und die Kunst aus dem Handeln hervor.
Der Mensch, ursprünglich in reinem Lebensgenusse versenkt, erfuhr noch
nicht, sondern empfand nur; dachte noch
nicht, erkannte nur; — und begehrte
nur und bewegte sich, ohne eigentlich zu wollen und zu handeln.
Nur darum liegt ein so undurchdringliches Dunkel über den ersten Tagen
der Menschheit, weil sie selbst sich wie ein Kind im Aufgange von Erscheinung
und Existenz aus Einbildung und Erzeugung verlor.
Darum haben ihre ersten Werke die Eigentümlichkeit, daß gleichsam
unter einer Hülle in je-dem die noch ungeschiedene Fülle von Erfahrung
und Erkenntnis, von Wille und Handlung liegt.
Erst wie die Einheit des Lebens in das Urteil: Erscheinung und Existenz zerfallen
war, ging sie der Menschheit, und zwar erst in reiferm Alter und bei weiterer
Verbreitung, so auseinander, wie wir sie jetzt im Laufe und Umfange der Welt übersehn. Die Geschichte begann erst, da das Empfinden in Erfahren überging,
die Wissenschaft, da das Erkennen zum Denken wurde, die Ethik, da sich das Begehren
zum Wollen erhob, und die Kunst, da die Bewegung zur Handlung gesteigert ward.
Alle sind jünger als die Menschheit, denn sie sind nur ihre Werke; —
und daher ist auch weder in dem einen noch in dem andern ihr Ursprung oder ihre
ursprüngliche Erscheinung und Existenz zu suchen noch zu finden.
Weder in der einen noch in der andern wird aber auch die Lösung des Problems
der Mensch-heit zu suchen und zu finden sein — nur Phänomene
und Produkte der Entwicklung und Ausbildung
des Lebens in Erscheinung und Existenz werden auch sie, wie aus denselben aufgegangen,
in ihnen wieder untergehn müssen.
Wissenschaft und Geschichte, Ethik und Kunst sind nur Blüten der Menschheit,
welche im Leben der Menschheit einer höheren Frucht zureifen, einer Frucht,
dem Keime gleich, welchem sie entsprossen.
So wie das Leben als eine und einzige Ursache in all ihren Wirkungen nur sich
suchen kann, so werden alle Trennungen der ursprünglichen Einheit in Erscheinung
und Existenz nur in sie zurückkehren.
Die Einbildung des Lebens wird ihre Befriedigung nur in Lebensweisheit,
die Erzeugung nur im Lebensgenusse finden, und so wird das Geheimnis der Erscheinung, welches Problem der Einbildung
ist, sich in der Lebensweisheit auflösen, das Wunder der Existenz, welches
Problem der Erzeugung ist, im Lebensgenusse enthüllen.
Lebensweisheit wird die Vollendung von Wissenschaft und Geschichte, Lebensgenuß
die Durchdringung von Ethik und Kunst sein — in jener wird sich das Leben
als Erscheinung, in dieser als Existenz fassen, und in beiden sich selbst gleich
offenbaren. S.37ff.
Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 207, Philosophisches Lesebuch. Zweiter Band, Das neunzehnte Jahrhundert.
Ausgewählt und erläutert von Hermann Glockner
©1950 by Alfred Kröner Verlag in Stuttgart, Veröffentlichung
auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred Kröner Verlages,
Stuttgart