Ernst Troeltsch
(1865 – 1923)
>>>Gott
Die Bedeutung der Geschichtlichkeit
Jesu für den Glauben (1911)
I.
Seit der endgültigen Zersetzung des von der Urkirche gebildeten christlichen
Dogmas, seit der Auflösung der christlichen Einheitskultur und seit dem
Beginn der historischen Bibelkritik ist eine der Hauptfragen für das christlich-religiöse
Denken die Wirkung der geschichtlichen Kritik auf den Christusglauben. Welche
Bedeutung kann ein der historischen Kritik ausgesetztes und von ihr gestaltetes
Jesusbild für den Glauben haben, der doch seinem Wesen nach auf das Ewige,
Zeitlose, Unbedingte und Übergeschichtliche gerichtet ist? Die urchristliche
religiöse Ideenbildung hatte schon im ersten Anfang der Gemeindebildung
Jesus der Geschichte entnommen und ihn zu einem in geschichtlicher Gestalt uns
erscheinenden ewigen Christus, Logos
und Gott gemacht,
der mit der ewigen Gottheit wesensverwandt ist und daher sehr wohl Gegenstand
des Glaubens sein kann.
Die in einer von der Kirche nicht mehr beherrschten Welt aufkommende geschichtliche
Kritik hat ihn nun aber heute der Geschichte, der Endlichkeit und Bedingtheit,
zurückgegeben. Ist da von einer inneren, wesentlichen Bedeutung Jesu für
den Glauben überhaupt noch zu reden möglich? Die Krisis begann mit
der Einführung der Kritik und historischen Psychologie in die Evangelienforschung
und hat heute ihren schärfsten Ausdruck gefunden in der törichten
Frage, die heute weite Kreise beschäftigt, ob Jesus überhaupt existiert
habe, oder in dem begründeteren Bedenken, ob das sichere Wissen über
ihn überhaupt ausrei¬che zu einem geschichtlichen Verständnis
der Entstehung des Christentums, geschweige denn zur Anknüpfung religiöser
Glaubensüberzeugungen an die geschichtliche Tatsache. Die Entwickelung
auf diese radikale Fragestellung hin ist klar zu beobachten.
Erst glaubte man noch an eine sichere historische Erforschung des Lebens und
der Persönlichkeit Jesu aus kritischer Behandlung der Quellen heraus und
fand damit das Lebensbild Jesu nur menschlich näher gebracht und wirkungsvoller
geworden. Aber man empfand doch zugleich schon peinlich die Belastung von Glaubensüberzeugungen
mit wissenschaftlich-kritischen Einzelfragen. Grundstürzende Beantwortungen
der letzteren waren seit den Deisten und Reimarus
nicht ausgeschlossen, und es bedurfte einer zunehmenden historisch-kritischen
Apologetik, die die Bedenklichkeit einer Anknüpfung religiöser Überzeugungen
an kritisch-wissenschaftlich festzustellende Geschichtstatsachen sehr früh
empfindlich machte.
Eine weiter fortschreitende Kritik entdeckte die völlig andersartige religiöse
und ethische Grundhaltung der Urgemeinde und jedenfalls auch Jesu selbst, die
Gebundenheit an das antik-populäre Weltbild, an jüdisch-orientalische
Verhältnisse und an apokalyptisch-eschatologische Ideale. Das
»Christentum Christi« war etwas völlig anderes, als
das mit der Wissenschaft und der unentbehrlichen weltlichen Moral des Staats-,
Rechts- und Wirtschaftslebens seine Kompromisse schließende Christentum
der Kirche. In dem letztem schienen platonische, stoische
und modern-wissenschaftliche Einflüsse mitenthalten und vor allem die radikale
Kluft von Welt und Gottesreich, Diesseits und Jenseits, gründlich verringert.
So entstand die Fragestellung, ob der geschichtliche Christus, sein Bild Gottes
und der Dinge und vor allem sein Ethos »noch«
das der Gegenwart sein könne. Die bejahenden Antworten bedurften so sehr
eines »richtigen« Verständnisses
Jesu gegenüber dem einfachen Wortlaut und so reichlicher Abzüge der
zeitgeschichtlich bedingten Züge von der »bleibenden Bedeutung«,
daß ein einfaches religiöses Verhältnis zu ihm kaum mehr möglich
schien.
Schließlich nahm die Kritik angesichts der wachsenden Kompliziertheit
in der Quellenuntersuchung und unter Einwirkung semitischer und klassischer
Philologen so radikale Wendungen, daß die Sicherheit der geschichtlichen
Erkenntnis völlig bedroht, ja unmöglich gemacht schien. Seit Straussens
Leben Jesu hat diese Kritik im Grunde sich immer nur verschärft,
und ihre heutigen Radikalismen sind bekannt. Die Philologen warfen die konservierende
Ängstlichkeit und religiöse Gebundenheit auch der kritischesten Theologen
beiseite und behaupteten die fast völlige Unerkennbarkeit der evangelischen
Geschichte. Man gab das ganze Problem eines Lebens Jesu als unlösbar preis
und beschränkte sich auf die Darstellung der Predigt Jesu. Man zweifelte
schließlich auch an der Erkennbarkeit der letzteren, an der Möglichkeit,
sie von den aus dem Gemeindeglauben rückwärts eingetragenen Bestandteilen
zu säubern, und so war einem religiösen Anschluß an geschichtliche
Tatsachen jeder Boden entzogen.
Es ist hier nicht notwendig, zu den radikalsten Behauptungen kritisch Stellung
zu nehmen. Die Behauptung der Nichtexistenz Jesu ist zweifellos
eine Ungeheuerlichkeit, und auch die Behauptung der Nichterkennbarkeit der Grundzüge
seiner Predigt ist eine starke Übertreibung. Allein solche Folgerungen
liegen doch im Zuge einer historisch-kritischen Forschung, und ihre Möglichkeit,
ja die Notwendigkeit, solche Fragen überhaupt zu stellen, beleuchtet allerdings
mit vollkommener Klarheit das Problem. Kann bei einem Verhalten zum Gegenstand,
wo jedenfalls solche Fragestellungen nicht ausgeschlossen sind und nicht ausgeschlossen
werden können, überhaupt noch von einem religiösen Verhältnis
zu Jesus, von einer inneren wesentlichen Bedeutung der Neutestamentlichen Urgeschichte
für die christliche Lebens- und Ideenwelt die Rede sein? Muß diese
selbst nicht vielmehr innerlich unabhängig gemacht werden von jeder wesentlichen
Beziehung auf historische Elemente, die unter allen Umständen der Wissenschaft
unterliegen und die, bei wissenschaftlicher Erforschung ein von dem heutigen
religiösen Leben o weit abliegendes Bild zeigen? Das ist in der Tat die
Frage, die für den Christen der Gegenwart von hier aus entsteht.
II.
Die Frage hat einen Sinn nur unter einer bestimmten Voraussetzung. Gegenüber
dem altkirchlichen Christentum des Dogmas vom Gottmenschen,
der Kirchen- und Sakramentsstiftung durch Christus und der Gott versöhnenden
Erlösungswirkung seines Heilswerkes: da wäre die Frage sinnlos. Denn
all das steht und fällt mit der Überzeugung von der Realität
der geschichtlichen Person Christi und seines Kirche und Heil überhaupt
erst real bewirkenden Werkes.
Von diesem Standpunkt aus wäre schon die ganze Frage die Ausstellung eines
einfachen Totenscheins für das ganze Christentum. Sie hat Sinn nur unter
der Voraussetzung, daß das Christentum nicht der Glaube an ein Gott versöhnendes,
dadurch die Menschen von den Folgen der Vergiftung durch die Erbsünde befreiendes
Heilswerk und an die Einstiftung dieses Heilswerkes in die Heilsanstalt der
Kirche sei. Sie setzt voraus, daß das Christentum in erster Linie als
ein in jedem Moment neuer lebendiger Glaube an Gott und daß die Erlösung
als ein immer neues Werk Gottes an der Seele durch die Wirkung des Gottesglaubens
verstanden werde.
Oder anders ausgedrückt: sie setzt voraus, daß das Christentum ein
bestimmter Gottesglaube, eine eigentümliche Gotteserkenntnis mit ihr entsprechender
praktischer Lebenshaltung, oder, wie man sagt, eine religiöse Idee oder
ein religiöses Prinzip sei. Das braucht nicht intellektualistisch und philosophisch
verstanden und braucht nicht von einer allgemeinen Weltidee hergeleitet zu werden.
Es kann rein praktisch als eine Glaubensidee von Gott und seinem Verhältnis
zu Welt und Mensch, als ethisch-religiöse Lebensrichtung verstanden und
kann für die Begründung rein auf Empfindung, Gefühl und inneres
Erlebnis verwiesen werden. Aber es bleibt dann doch auch so eine völlige
Verwandelung der Erlösungsidee. Die Erlösung geschieht hier durch
Gott, indem er in uns den Glauben an sich wirkt als an den heiligen sündenvergebenden
Willen.
Die Erlösung ist nicht etwas ein für allemal im Werke Christi vollzogenes
und den Einzelnen dann erst Zuzueignendes, sondern ist ein jedesmal neuer, in
der Wirkung Gottes auf die Seele durch Erkenntnis Gottes sich vollziehender
Vorgang. Dann bedarf es keines historischen Heilswerkes. Ebenso ist die Kirche
hier nicht eine Anstaltsstiftung, in welcher mit der Bibel und den Sakramenten
die Kraft des Heilswerkes dem Einzelnen objektiv übermittelt wird durch
einen von Christus, dem Gottmenschen, gestifteten Wunderzusammenhang, und in
welcher das Wunder des Gottmenschen sich fortsetzt in der Gottmenschlichkeit
der Bibel und der kirchlichen Heilsanstalt.
Die Kirche ist vielmehr die Gemeinschaft des Glaubens oder der christlichen
Gotteserkenntnis, die sich zur Pflege und Fortpflanzung dieses Glaubens jede
beliebige Form und Organisation geben mag und hierbei immer nur im Rahmen rein
menschlicher, vielfältiger und verschiedenartiger Organisationen gefaßt
ist oder solcher auch ganz entbehren mag. Dann bedarf es keines geschichtlichen
Christus als Stifters der Kirche und Verleihers der der Kirche und den Sakramenten
eignenden Wunderkräfte. schließlich: die Begründung dieser Gotteserkenntnis
liegt in einem persönlichen Erleben und Erfahren, in persönlicher
Eigengewißheit, in der Verwandelung überkommener religiöser
Erkenntnis zu eigenem Gefühl göttlicher Offenbarung.
Da bedarf es keiner Beglaubigung der Sendung Christi und seiner Lehre durch
die geschichtlichen Wunder seines Lebens, keiner äußeren Autorität
und keiner verbürgenden Tatsachen. In all diesen Richtungen ist bei solchen
Voraussetzungen das Christentum umgeformt aus einer Erlösung der sündig
vergifteten Mensch¬heit durch ein Gott umstimmendes und die Kirche mit der
Kraft der Entgiftung ausrüstendes Wunder zu einer Erlösung durch die
praktische Erkenntnis des wahren innersten Willenswerkes Gottes. Bei solcher
Umwandelung bedarf es nicht innerlich notwendig der Berufung auf eine geschichtliche
Tatsache und bedarf es nicht von vornherein notwendig der geschichtlichen Persönlichkeit
Jesu und ihres Heilswerkes. Bei solcher Voraussetzung kann die oben bezeichnete
Frage gestellt werden, ohne von vornherein sinnlos zu werden.
In der Tat besteht nun diese Voraussetzung für einen großen Teil
der heutigen Christen zu Recht. Sie ist die eigentliche Umwandelung, welche
das Christentum seit seiner großen welthistorischen Krisis im 17. Jahrhundert
erlebt hat. Bereits innerhalb der alten und der mittelalterlichen Kirche bisweilen
angedeutet, wo man nach einer inneren und nicht bloß faktischen Begründung
des christlichen Gottesglaubens strebte, von den Spiritualisten des Protestantismus
klar und scharf formuliert, ist das heute die heimliche Religion des modernen
gebildeten Menschen geworden, sofern er einen inneren Zusammenhang mit dem Christentum
behauptet. Wie weit ein solcher Zusammenhang in der heutigen deutschen Welt
wirklich gewollt und festgehalten wird, ist hier nicht zu untersuchen. Genug,
daß es weite Kreise gibt, die ihn behaupten wollen und die doch dem kirchlichen
Dogma völlig entrückt sind. Für sie allein sind die folgenden
Betrachtungen gemeint, und eben bei ihnen liegt jene Entwickelung zu einem christlichen
Erlösungsglauben vor, der wie der Glaube des Meister
Eckart oder Sebastian Francks ein wirklich religiöser
Glaube ist, aber seine Beziehung zum alten, die Geschichte vergöttlichenden,
Erlösungsglauben gelöst hat.
Auch hier sind die Stufen deutlich erkennbar, auf denen sich diese Umwandelung
vorwärts bewegt hat bis zu ihrer klaren und grundsätzlichen Formulierung.
Die beginnende moderne Kritik stieß sich seit den Humanisten, Sozinianern
und Spiritualisten an der realistischen Erlösungslehre, an der Lehre von
einer wunderbaren Entgiftung der vergifteten Welt in einem bestimmten historischen
Vorgang und zog sich auf die christliche Gottesidee und ihre ethischen Auswirkungen
zurück. Die Notwendigkeit des Historischen blieb nur insofern, als die
geschichtlichen Wunder Jesu die Wahrheit dieser Lehre mitteilen und beglaubigen
mußten.
So dachte man von Erasmus und den Sozzini
bis auf Locke und Leibniz.
Dann stieß man sich an der Äußerlichkeit solcher Begründung
und sah in Jesus und der christlichen Geschichte nur mehr das Mittel, die christliche
Idee einzuführen in die Geschichte. Sie selbst sollte, einmal eingeführt,
auf eigener innerer Kraft beruhen und nur durch sie sich durchsetzen, von der
Klarheit des sittlichen Bewußtseins aus gefordert und bei der nötigen
Vereinfachung auf einen die Kraft des Guten erzeugenden Theismus keines weiteren
wissenschaftlichen Beweises fähig und bedürftig.
So dachten Lessing und Kant
als die Führer der deutschen Bildung, der ethisch und religiös
auf einen konservativen Fortschritt gerichteten Idealisten. Nur
»zur Illustration und nicht zur Demonstration« dienten die
historischen Tatsachen und konnten unter dieser Bedingung der wissenschaftlichen
Kritik übergeben werden.
Zur schärfsten Formulierung gelangte der Gedanke gerade in der durch und
durch historisch denkenden Hegel‘schen Schule,
die es gleichmäßig als Forderung der Idee und der richtig verstandenen
Geschichte bezeichnete, daß der religiöse Glaube zwar aus der Geschichte
erwächst, aber nicht in seiner inneren Wahrheit und Geltung auf sie begründet
ist. Auf den berühmtesten Ausdruck ist diese Auffassung gebracht worden
durch David Friedrich Strauß in seiner christlichen
Periode, wo er das Prinzip des Christentums (d.h. die
Erkenntnis der Einheit von Gott und Mensch) und die Person Christi
(d.h. den geschichtlichen Ausgangspunkt der Durchsetzung dieses Prinzips) unterschied.
Man kann das christliche Prinzip inhaltlich auch anders fassen als Strauß
und auf die sicher unhistorische Ableitung des Gottmenschheitsdogmas von einer
Zurücktragung des die Menschheit betreffenden Gottmenschheitsideals auf
die vereinzelte Person des Stifters verzichten. Aber die Problemstellung bleibt
die gleiche. Sie ist dann äußerst klar bestimmt worden von Biedermann,
den Tübingern und Pfleiderer. Sie erfährt
heute Unterstützung von Kantianern, Neu-Friesianern
und Neu-Hegelianern. Und auch, wer von aller Religionsphilosophie
und Theologie gar nichts weiß, bewegt sich am leichtesten in diesem Gedankenzuge,
wie eine Menge populärer religiöser Literatur beweist.
Freilich gibt es auch Mischformen, in denen diese Scheidung von Person und Prinzip,
Persönlichkeit und Idee nicht mit dieser Schärfe, sondern mit einer
Ermäßigung durchgeführt ist, die eine wenigstens relative innere
Notwendigkeit der geschichtlichen Person und der Selbstbeziehung auf sie für
den erlösenden christlichen Gottesglauben behauptet. Auch sie teilen den
Grundwandel, den das Christentum der modernen Welt vollzogen hat, die Verwandelung
des in einem geschichtlichen Akt bewirkten realen Erlösungswunders in die
immer neue Erlösung durch die Glaubenserkenntnis Gottes.
Allein sie binden diese erlösende Glaubenserkenntnis an die Kenntnis und
Vergegenwärtigung der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu, die hierbei
weder mit ihren Wundern noch mit ihren Einzelworten, sondern mit der Gesamtwirkung
der religiösen Persönlichkeit in Betracht kommt. Es ist die von dem
späteren, kirchlichen Schleiermacher begründete Anschauung, die heute
am nachdrücklichsten von Ritschl und
Herrmann fortgesetzt worden ist.
Für Schleiermacher ist
es die suggestive Kraft der Persönlichkeit, die, durch die Vermittelung
seiner Gemeinde fortwirkend und in dem Bilde der Evangelien anschaulich, die
überall außerhalb der Eindruckssphäre Jesu unüberwindliche
religiöse Unkraft überwindet und die Kräftigkeit, Gewißheit,
Freudigkeit und Ausdauer der Gotteserkenntnis schafft. Was ohne den Glauben
schaffenden Eindruck Christi bloße Idee und Ahnung bleibt, das wird durch
diesen in der Gemeinde fortgeleiteten persönlichen Eindruck zur siegreichen
und wirksamen Kraft.
Bei Ritschl ist der gleiche Gedanke weniger auf
die suggestive Macht der Persönlichkeit als auf die die Sündenvergebungsgewißheit
bewirkende Autorität Jesu bezogen. Christus macht sich durch diese Autorität
zum Herrn und König des Gottesreiches oder des Reiches der gottvertrauenden
Lebenstüchtigkeit und ist durch die von der Gemeinde vermittelte Kunde
über ihn die Gewißmachung, ohne welche der sündige Mensch an
Gottes sündenvergebende Gnade nicht zu glauben wagte und auch nicht zu
glauben wagen dürfte.
Bei Herrmann ist die niederbeugende und aufrichtende
Tatsache der Persönlichkeit Christi eine geschichtliche Realität,
die nur der böse und unbußfertige Wille leugnen kann, ebenso wie
sie nur der gläubige, gottsehnende und sündengeängstigte Wille
sieht. Diese Tatsache erst gibt den Mut, an Gott als sündenvergebende Gnade
zu glauben, und damit die helle Freudigkeit und Kraft zu allem gewissensmäßigen
Guten, während derjenige, der nicht an dieser Tatsache Gottes gewiß
werden kann, in Verzweiflung untergeht oder in Skepsis sich beruhigt und religiöser
Bedürfnisse entwöhnt.
Es ist klar, daß in all diesen Fällen das Christentum Gottesgedanke,
eine Idee, eine Glaubenserkenntnis des wahren Wesens der Dinge ist. Jeder Gedanke
an ein einmaliges historisches Erlösungswunder und an die Stiftung einer
es verwaltenden Gnadenanstalt fehlt. Aber die Idee ist doch in ihrer Wirkungsfähigkeit
an die historische Persönlichkeit Christi gebunden, die ihr erst Kraft
oder erst Gewißheit verleiht und die so gekräftigte Idee zum Eigentum
einer in der Vergegenwärtigung Christi geeinigten Gemeinschaft macht.
Die Voraussetzung für eine solche Denkweise ist außer der stillschweigenden
Annahme der Erkennbarkeit der religiösen Persönlichkeit Jesu und ihrer
Wirkungsfähigkeit durch Vermittelung der Überlieferung und Gemeinde
hindurch die wesentliche Unfähigkeit des Christus nicht kennenden Menschen
zu freudigem Gottesglauben. »Ohne Christus wäre
ich Atheist«, das ist die ausdrückliche oder stillschweigende
Notwendigkeit, die hier von dem Christus nicht kennenden Menschen angenommen
wird. Der Voraussetzung, die das Christentum gegen die außerchristliche
Menschheit schlechthin in Gegensatz stellt, entspricht die Folgerung.
Das Gottesreich oder die christliche Gemeinde oder die Kirche als Glaubensgegenstand
oder der von Christus ausgehende Erlösungszusammenhang: das ist der einzige
Bereich der Erlösung und die notwendige, ewig dauernde Zusammenfassung
der Erlösten in dem Reiche Christi. Es wird dauern bis zum Ende der Menschheit
und in die Ewigkeit hinein sich erstrecken als die Zusammenfassung der Menschheit
in der durch Christus ermöglichten religiösen Gemeinschaft absoluten
Heils und absoluter Wahrheit.
Allein Voraussetzung wie Folgerung sind für den modernen Menschen nichts
weniger als einleuchtend und selbstverständlich. Sie standen schon bei
Schleiermacher in empfindlichem Gegensatz zu seiner Gesamtansicht, wie sie seine
größte und eigentlichste Gedankenschöpfung, die Ethik, entwickelt.
Sie ist noch unerträglicher geworden in den harten Formulierungen Ritschls
und den ungreifbaren Herrmanns.
Es ist nichts weniger als selbstverständlich, daß die religiöse
Persönlichkeit des geschichtlichen Jesus zu einer vollen, klaren Erkennbarkeit
und zu einer unmittelbaren persönlichen Wirkung gebracht werden könne,
wie der unmittelbar ergreifende Einfluß von Mensch zu Mensch. Eine solche
Erfassung Jesu hat in der Tat die moderne Kritik sicherlich unmöglich gemacht,
wenn sie überhaupt je möglich war.
Betont man aber die Vermittelung durch die Gemeinde und die lebendige Wirkung
vermittelst der weiteren christlichen Persönlichkeiten, so hat man es nicht
mehr mit der geschichtlichen Tatsache, sondern mit ihren unendlich abgeänderten
und bereicherten Fortwirkungen zu tun, wo nicht sicher zu sagen ist, was Jesus
angehört und was der Folgezeit und Gegenwart. Auch wenn man die Grundzüge
der Predigt Jesu für voll erkennbar hält, so ist das doch keine Berührung
von Mensch zu Mensch und muß gerade sehr viel Fremdartiges überwunden
werden. Ebensowenig aber besteht die Annahme zu Recht, daß lediglich die
Anerkennung Jesu als göttlicher Autorität und Gewißmachung getroste
Glaubensfreudigkeit gebe. Solche hat es ehemals und heute auch ohne Kenntnis
oder ohne besonders nachdrückliche Selbstbeziehung auf Jesus gegeben, ja
die Belastung mit geschichtlichen Jesusproblemen erschüttert erfahrungsgemäß
mehr den Glauben als sie ihn schützt.
Es ist mehr die innere Überwindung unserer Seelen durch die Größe
des prophetisch-christlichen Gottesglaubens, die die Anerkennung Jesu bewirkt,
als umgekehrt. Jeder Schritt weiter vorwärts in religionsgeschichtlicher
Erforschung der Entstehung des Christentums zeigt uns das Zusammenfließen
so vieler verwandter und doch selbständig entstandener religiös-ethischer
Kräfte, daß eine unbedingte Sonderstellung des Christusglaubens überhaupt
ganz unmöglich ist.
Das Christentum ist gar nicht allein die Hervorbringung Jesu, an ihm sind Plato
und die Stoa und unmeßbare populäre
religiöse Kräfte der antiken Welt mitbeteiligt. So erscheint auch
die Folgerung als unmöglich, die die christliche Gemeinde als das ewige
absolute Zentrum des Heils für die gesamte Dauer der Menschheit bezeichnet.
Darüber ist natürlich Sicheres nicht zu sagen, aber es ist nicht wahrscheinlich.
Das Alter der Menschheit auf der Erde beträgt einige hunderttausend Jahre
oder mehr. Ihre Zukunft mag noch mehrere Jahrhunderttausende betragen. Es ist
schwer vorzustellen, einen einzigen Punkt der Geschichte auf diese Zeitlänge
hin — und zwar gerade den Mittelpunkt unserer eigenen religiösen
Geschichte — als alleiniges Zentrum aller Menschheit zu denken. Das sieht
doch allzustark aus nach Verabsolutierung unseres zufälligen eigenen Lebenskreises.
Das ist in der Religion das, was in der Kosmologie und Metaphysik Geozentrismus
und Anthropozentrismus sind. Zu diesen beiden Zentrismen gehört auch der
Christozentrismus seiner ganzen logischen Natur nach. Wir brauchen nur an die
vergangenen und vermutlich wiederkehrenden Eiszeiten, die Folgen kleinster Polschwankungen,
und an den Auf- und Niedergang großer Kultursysteme zu denken, um eine
solche absolute und ewige Zentralstellung für unwahrscheinlich zu halten.
Sie paßt zu der idyllischen Kleinheit und Enge des antiken und mittelalterlichen
Weltbildes mit seinen paar tausend Jahren Menschheitsgeschichte und seiner Erwartung
der Wiederkunft Christi als Abschluß der Weltgeschichte. Aber sie ist
dem heutigen Menschen fremdartig und unverständlich, weil seine allgemeinen
instinktiven Voraussetzungen dazu nicht passen.
So hat sich denn gegen diese Mischformen eine steigende Abneigung vor allem
der Laien- und Nicht-Theologen gekehrt. Die religionsgeschichtliche Einstellung
des Christentums in den Werdeprozeß des europäischen religiösen
Lebens und die Ausdehnung des Blickes auf die Unermeßlichkeiten menschlicher
Geschichtszeiträume in Vergangenheit und Zukunft; die Abneigung, das unermeßliche
Alleben, das doch sonst überall durch die Breite des Ganzen flutet, hier
an einem einzigen Ort zu konzentrieren; all das hat die heutige Gegenströmung
gegen diese Mischformen hervorgebracht.
Die Gegenwart kehrt sich wieder zu den Gedanken der alten Mystiker und Spiritualisten,
welche das Christentum in der inneren ewig fortschreitenden Wirkung Gottes an
den Seelen fanden und es nicht innerlich und notwendig an die Anerkennung und
Kenntnis der geschichtlichen Persönlichkeit Jesu banden. Es ist nicht nötig,
das an den Bewegungen der Gegenwart näher zu veranschaulichen. Auch die
sensationellen Behauptungen von der Nichtexistenz Jesu sollten im wesentlichen
nur diesem Kampfe gegen die Bindung der Idee an geschichtliche, stets unsichere
und zugleich die Entwickelung hemmende Tatsachen dienen.
Es sind nicht wenige, welche in der Scheu vor Belastung des Glaubens mit historischen
Forschungen, die Fragen des Lebens und der Predigt Jesu rein der Wissenschaft
anheimgeben und ihren Glauben an den lebendigen Gott von einer innerlich notwendigen
Beziehung auf Jesus unabhängig halten. Jesus wird ihnen dann der historische
Ausgangspunkt der christlichen Lebenswelt, sein Bild pädagogisch bedeutsam
oder zum Symbol des Christentums, aber eine innerlich begrifflich notwendige
Beziehung der christlichen Idee auf die Persönlichkeit Jesu findet bei
Unzähligen nicht mehr statt. Und die Zahl derer, die so denken, wird —
außerhalb der eigentlich theologischen Kreise — in der deutschen
Bildung beständig zunehmen, wenn nicht alles täuscht.
III.
Damit sind wir zu er eigentlichen Formulierung und dem Sinne des Problems gelangt.
Es ist sinnlos für denjenigen, dem die Übermenschlichkeit Christi
feststeht und der nur die Aufgabe sieht, sie gegen die von der Hoffart der Vernunft
Geblendeten zu verteidigen oder an diesem Punkt inkorrekte Geistliche abzusetzen.
Es ist aber auch sinnlos für denjenigen, dem das Christentum eine reale
Entschuldung und Befreiung der Menschheit aus dem Bann von Sünde, Leid
und Tod durch eine auf Gott gerichtete Versöhnungstat Christi ist. Sie
hat einen Sinn nur für denjenigen, dem die evangelische Geschichte ein
Gegenstand vorbehaltloser historischer Kritik und Untersuchung ist und dem zugleich
das Christentum die Erlösung durch die immer neue persönliche Glaubenserkenntnis
Gottes ist.
Beide Voraussetzungen fallen nicht notwendig zusammen, wenn sie auch miteinander
geboren sind und ursprünglich sich gegenseitig bedingten. Sie gelten nur
für den, der in allem Wirrwar modernen Denkens die prophetische und christliche
Gotteserkenntnis für die einzige Quelle zugleich tiefer und gesundtätiger
Gotteserkenntnis hält und der zugleich dem Rechte einer restlosen historisch-kritischen
Anschauung menschlicher Dinge sich nicht verschließt. Mit einem Worte:
sie gelten nur für denjenigen, der das moderne Denken anerkennt und zugleich
im Christentum unaufgebliche religiöse Kräfte erkennt. Der Schreiber
dieser Zeilen stellt sich mit Freuden und Entschiedenheit in diese Reihe.
Hier erhebt sich nun allerdings die Frage immer deutlicher und deutlicher: Welches
ist die von der Gegenwart zu denkende Beziehung des christlichen Gottesglaubens
auf die Person Jesu? Ist sie eine zufällige, rein historisch-faktische,
eine pädagogisch und symbolisch schwer entbehrliche, aber doch von der
Idee selbst nicht geforderte? Oder ist sie eine im Wesen der christlichen Idee
unabänderlich und ewig eingeschlossene? Im ersteren Falle werden wir wesentlich
unabhängig von der historischen Kritik, im zweiten werden wir wesentlich
abhängig von ihr.
Hierzu ist in voller Klarheit und Bestimmtheit zu sagen, daß eine wirkliche
innere Notwendigkeit der geschichtlichen Person Christi für das Heil nur
bei der altkirchlich rechtgläubigen Erlösungs-, Autoritäts- und
Kirchenidee besteht. Eine Erlösung, die eine Befreiung der durch den Sündenfall
in Leid und Tod ver¬strickten Schöpfung durch eine Wirkung Christi
auf Gott ist; eine Glaubensautorität, die auf der übermenschlich-göttlichen
Würde Jesu unfehlbar beruht; eine christliche Heilsanstalt, die das geschichtliche
Urwunder fortleitet in den Wunderwirkungen der Kirche und des göttlichen
Schriftwortes: das verlangt natürlich die Geschichtlichkeit der Person
Christi unbedingt. Aber auch nur eine solche Idee verlangt unbedingt diese Geschichtlichkeit,
deren Anerkennung dann ja auch nicht auf geschichtlicher Forschung, sondern
auf Beugung unter die übernatürlichen Autoritäten der Kirche
und der Bibel beruht. Hier ist alles völlig klar.
Weniger klar ist die Sachlage bei dem Schleiermacher-Ritschl-Hermannschen
Vermittelungstypus. Er ist, wie schon bemerkt, gegen die Einwirkungen der historischen
Kritik nicht zu schützen, da hier auf eine äußere Bibelautorität
verzichtet wird und auch die innere Erfahrung nicht, wie bei der modernen Orthodoxie,
wesentlich zur Sicherstellung der Bibelautorität, ihrer Heilslehre und
ihres Weltbildes, verwendet wird, sondern im Grunde nur die Gewißmachung
über Gott als den sündenvergebenden und heiligenden Liebeswillen mitten
in den Kämpfen und Schmerzen des Lebens und vor allem des Gewissens ist.
Hier hat schon David Friedrich Strauß an
Schleiermachers Leben Jesu und dem Verhältnis
von Schleiermachers geschichtlicher Kritik zu dem
Jesusglauben seiner Glaubenslehre eine unvergeßliche, gerade deshalb aber
meist ignorierte Kritik geübt. Diese Strauß‘sche
Kritik Schleiermachers hat ihre volle Analogie
an der Entwickelung der Ritschl‘schen Schule
gefunden, indem gerade aus dieser die sogenannte religionsgeschichtliche Schule
entsprungen ist, die sich aus der schroffen Spannung von Ritschls
Christusbild gegen die doch von ihm anerkannte historisch-kritische Forschung
vor allem erklärt. Es ist die naturgemäße Reaktion gegen die
Gewaltsamkeit Ritschls.
Und auch Herrmanns Rede von »der Tatsache
Christus«, die doch nicht wie andere Tatsachen festgestellt, sondern nur
vom Glauben gesehen werden kann, ist ein dunkler und mystischer Ausdruck für
die gleiche Gewaltsamkeit und für einen historisch-kritisch denkenden Menschen
nahezu unverständlich. Die ganze Position ist gegenüber der historischen
Kritik nicht durchzuhalten, wie denn auch in der Entwicklung der Bibelforschung
sie so gut wie gar keine Rolle spielt, sondern der Dogmatik vorbehalten bleibt.
Diese letztere aber ist eine Wissenschaft, die heute nur in engsten theologischen
Kreisen existiert und auch da kaum wirklich vorhanden ist.
Aber begibt man sich einmal auf den Boden dieser dogmatisch-systematischen Erwägungen,
so ist leicht erkennbar, daß die innere Notwendigkeit der Verbindung hier
doch nur eine sehr relative ist. Sie beschränkt sich einmal auf die geschichtliche
Einführung oder In-Bewegung-Setzung der christlichen Lebenswelt durch Jesus,
was aber die Möglichkeit ihrer Fortwirkung aus eigener innerer Kraft nicht
ausschließen würde. Daher fügt sie das zweite hinzu, die entscheidende
Kräftigung oder Autorisierung der christlichen Lebenswelt, die bei dem
an sich unkräftigen oder verzweifelnden Menschen ohne den erhebenden oder
suggestiven Eindruck der Person Jesu nicht möglich wäre. Das sind
nun aber offenbar Reste der alten Erbsündenlehre.
Die Funktion der Erbsündenlehre im kirchlichen System seit Paulus
ist die, alle Lichter neben dem Christusglauben auszulöschen und alle Kräfte
neben der Christuskraft zu verneinen, um die alleinige Erlösungskraft des
der Christusgemeinde eignenden Wunders der Gottesversöhnung ebenso einfach
als radikal einleuchtend zu machen. Eine solche Erbsündenlehre bedarf dann
aber auch des Mutes ihrer Voraussetzung, die ursprüngliche Vollkommenheit
vor der Weltvergiftung durch die Sünde der Protoplasten zu behaupten; sie
muß eben- so auch die notwendige Folgerung entwickeln, die in einer realen
Erlösung und Entgiftung bestehen muß.
Die Lehre aber, daß die menschliche Entwickelung in und außer Christus
nicht Kraft und Gewißheit finden kann und erst und lediglich durch Christus
auf die höhere Entwickelungsstufe des gekräftigten Gottesbewußtseins
oder der alle Zweifel überwindenden Gewißheit gehoben werde, ist
lediglich eine Abblassung des alten Erbsünden- und des alten Erlösungsgedankens.
Sie hat offenkundig lediglich das Motiv, die alte Stellung Christi als Erlöser
und Glaubensgegenstand zu wahren und doch den neuen Erlösungsgedanken im
Wesen der Sache durchzuführen. Auf dieser relativen Annäherungsmöglichkeit
an die alte Lehre beruht auch ihre starke Wirkung auf die Theologie.
Auf dem inneren Widerspruch der hier vereinigten Interessen und dem Widerspruch
gegen die allem modernen Denken zu Grunde liegende Idee einer in verschiedenen
Knotenpunkten aus der Tiefe des göttlichen Lebens aufsteigenden Geistesentwickelung
und einer nie zum voraus auszumessenden Möglichkeit der Zukunftsentwickelungen
beruht aber andererseits ihre Wirkungslosigkeit gegenüber dem allgemeinen
modernen Denken.
Der Versuch, alle Zukunftsentwickelung des religiösen Lebens durch diesen
Rest der Erbsündenlehre und die darauf begründete Behauptung, daß
Kraft und Gewißheit des religiösen Lebens niemals ohne Selbstunterstellung
unter die Wirkung Christi gewonnen werden könne, ist das dem ganzen heutigen
Denken Unterträgliche. Und es bedarf nur des Hinzukommens der historisch-kritischen
Evangelienforschung zu diesen religiös-philosophischen Bedenken, um die
ganze Lehre trotz der hohen geistigen und religiösen Bedeutung ihrer Urheber
in alle Winde zu zerstreuen.
So bliebe also nichts als eine rein historisch-faktische und eine pädagogisch-symbolische
Bedeutung der Person Jesu für die christliche Idee! Wir kämen auf
Lessings Satz von dem dritten Evangelium oder auf Ibsens Satz vom dritten Reich
zurück, wo der religiöse Glaube ohne historische Stützen rein
durch die ei¬gene reinigende und erlösende Macht sich behauptet und
fortpflanzt und im Zusammenhang des Gesamtlebens sich frei aus dessen inneren
Tiefen fortentwickeln würde!
Das scheint in der Tat die Folge von allem zu sein. Aber man wird nicht leugnen
können, daß von einer solchen Fortentwicklung unter uns wenig zu
sehen ist, daß man ehrlicherweise ihr schwerlich eine besondere Zukunft
weissagen kann, daß in Wahrheit fast alle heutige Religiosität von
Umwandelungen der in den Kirchen fortgepflanzten und in ihr allein starken religiösen
Schätze lebt, daß einem bei der Vorstellung solcher Fortentwicklung
ein leises Frösteln anwandelt. Das alles muß einen Grund in dem inneren
Wesen der Sache haben. Es hat ihn auch in der Tat.
Die rein der innern Überzeugungskraft überlassene Fortbildung der
christlichen Idee sieht ab von jedem Gedanken einer religiösen Gemeinschaft,
von jedem Gedanken eines Kultus. Sie kann freilich von einer gemeinsamen Bindung
aller Frommen an geschichtliche Urbilder und Autoritäten absehen und aller
historischen Problematik sich entschlagen, um nur im Persönlich-Gegenwärtigen
zu leben. Aber sie verzichtet eben damit bewußt oder unbewußt auf
jede Gemeinschaft, die auf dem Boden einer geistig-ethischen Religion ja nicht
in Riten und Zauber, sondern nur in der Vergegenwärtigung eines geistigen
Besitzes bestehen kann und diese Vergegenwärtigung nicht ohne persönlich-lebendige
Darstellung ihres Besitzes in einem maßgebenden Urbild vollziehen kann.
Sie verzichtet auf jeden Kultus oder jede Verehrung und Anbetung Gottes mit
der Rückwirkung auf eine im Glauben an Gott sich darstellende Gemeinde,
weil für das Christentum ein Kult im Sinne der Magie und der Erlösungsmysterien
nicht möglich ist und weil das, was allein ihm als Kultus übrig bleibt,
die Scharung um das Haupt der Gemeinde und die Nährung aus seinem Geist
und Leben, die Anbetung Gottes in einer Gott bestimmt und konkret sich vergegenwärtigenden
Gemeinde, durch die Ausschaltung des Historischen beseitigt ist.
Die persönliche einsame Andacht und Meditation, die anarchische und zufällige
Äußerung persönlicher Enthusiasmen oder mehr oder minder verstandesmäßige
religiöse Lehrvorträge treten an die Stelle des Kultus und der Gemeinschaft,
die sich um die Anbetung und Vergegenwärtigung Gotte in dem unendlich konkreten
und doch unendlich vieldeutigen Christusbilde schart. Diese Gemeinschafts- und
Kultlosigkeit ist die eigentliche Krankheit des modernen Christentums und der
modernen Religiosität überhaupt. Sie bekommt dadurch das Zerfließende
und Chaotische, das Zufällig-Persönliche, Enthusiastische und Amateurhafte,
das Intellektualistische und Weltanschauungsmäßige.
Sie hat keinen beherrschenden Mittelpunkt, aus dem sie sich nährte, sondern
ebensoviel Zentren als es fühlende und suchende Individuen gibt. Aber nicht
bloß chaotisch und unbestimmt ist die moderne Religion geworden. Sie ist
auch schwächlich und matt geworden, weil ihr die Rückwirkung des Gesamtgeistes
und der Gemeinschaft auf das Individuum, die hebende und tragende, steigernde
und vervielfältigende, vor allem auch praktische Gemeinsamkeitsziele stellende
Kraft der Gemeinschaft und des Gemeinsinns fehlt.
Nun aber ist es eines der klarsten Ergebnisse aller Religionsgeschichte und
Religionspsychologie, daß das Wesentliche in aller Religion nicht Dogma
und Idee, sondern Kultus und Gemeinschaft ist, der lebendige Verkehr mit der
Gottheit, und zwar als ein Verkehr der Gesamtheit, die ihre Lebenswurzeln überhaupt
im Religiösen und ihre letzte die Individuen verbindende Kraft im Gottesglauben
hat.
Auch wo der Verkehr stellvertretend durch ein Priestertum vollzogen wird, ist
es immer ein mit seinen Wirkungen auf die Gesamtheit zurückflutender Verkehr.
Das ist auf dem Boden der Naturreligionen selbstverständlich. Aber es gilt
auch auf dem Boden der Geistesreligion, die den Verkehr nicht durch Opfer und
Riten, sondern durch Gebet und Erbauung vollzieht. Das ist der Grund, warum
Platonismus und Stoizismus,
in denen bereits die Geistesreligion sich zu regen begann, vom Christentum aufgezehrt
wurden, und das ist der Grund, weshalb das Christentum sofort mit seiner Lösung
vom Judentum zum Christuskult wurde.
Es ist nicht die Verehrung eines neuen Gottes, sondern die Verehrung des alten
Gottes Is¬raels und aller Vernunft in seiner lebendigen und konkreten Höchstoffenbarung.
Der Gottesglaube der Christusgläubigen hatte zunächst kein Dogma und
keine Lehre, er hatte nur die Darstellung alles Religiösen in dem durch
den Auferstehungs¬glauben verklärten Jesus. Er hatte keine Opfer und
Riten, keine Magie und keine Mysterien, sondern nur die Anbetung Gottes in Christo
und die Lebenseinigung mit Christus in dem Herrenmahl. Was auch immer nachher
aus dieser Urgestaltung der christlichen Gemeinschaft als Christuskult geworden
ist, das ursprüngliche Motiv ist klar.
Gemeinschaftsbedürfnis und Kultbedürfnis hatten kein anderes Mittel
als die Sammlung um die Verehrung Christi als Offenbarung Gottes, und das aus
diesem Christuskult entstandene Christusdogma sollte ja immer nur den einen
und ewigen Gott in Christus anschaubar und zugänglich machen, um eine neue
Gemeinde zu schaffen, die sich als neue und als feste Gemeinde nur durch einen
eigenen Kult erweisen konnte. Was Mythologie und Mysterien, heidnische und gnostische
Analogien beigesteuert haben mögen, sie haben nur einen Vorgang umkleidet
und dem antiken Bewußtsein verständlich gemacht, der in der inneren
Logik der Sache lag.
Was aber das ursprüngliche Motiv für die Entstehung des Christusglaubens
und für die Bindung des neuen Gottesglaubens an den Christuskult gewesen
ist, das ist es unter anderen Formen und Bedingungen auch heute. Es ist ein
sozial-psychologisches Gesetz, daß nirgends auf die Dauer lediglich parallel
empfindende und denkende Individuen, wie sie überhaupt erst eine sehr verfeinerte
und individualisierte Kultur erzeugt, ohne Wechselwirkung und Zusammenhang bestehen
können, sondern daß sich aus den tausendfachen Beziehungen überall
Gemeinschaftskreise mit Über- und Unterordnungen erzeugen, die sämtlich
eines konkreten Mittelpunktes bedürfen.
Es ist ein Gesetz, das auch für das religiöse Leben gilt. Daher entstehen
hier überall solche Kreise mit bestimmten Über- und Unterordnungen,
festen Zentren, Fortpflanzungsmitteln und Kräftezentren, aus denen die
Macht des religiösen Denkens immer erneuert wird.
In den Naturreligionen sind die Gliederungen durch die von Natur oder Gesellschaft
geschaffenen Gemeinschaften gege¬ben und ist der Beziehungspunkt die alte
kultische Tradition.
In den Geistesreligionen sind es die Propheten und Stifterpersönlichkeiten,
die als Urbilder, Autoritäten, Kraftquellen, Sammelpunkte dienen und als
Bilder persönlich konkreten Lebens jener unendlich beweglichen und anpassenden
Deutung fähig sind, die keine bloße Lehre und kein bloßes Dogma
hat, die zugleich eine Anschaulichkeit und Plastik besitzen, welche sich nicht
an Theorie und Verstand, sondern an Phantasie und Gefühl wendet.
Daher sind alle großen Geistesreligionen religiöse Verehrungen ihrer
Stifter und Propheten, wie das schon für die religiösen Philosophenschulen
des Platonismus, der Stoa
und dann später für die christliche Orden und Sekten gilt. Die Vergegenwärtigung
der Propheten, auf dem Gipfel ihrer göttlichen Verehrung als Ausdruck der
allgemeinen göttlichen Wahrheit, nicht als Bereicherung eines Pantheons:
das ist überall für Gemeinschaft und Kultus grundlegend.
Es ist auch äußerst unwahrscheinlich, daß das jemals anders
werde. Eine wirkliche neue Religion wäre sicherlich nicht eine rein individuelle
Fortentwicklung persönlich-religiöser Überzeugungen, sondern
eine neue Prophetenreligion, die wie die alte, nur so lange Kraft, Wirkungs-
und Fortpflanzungsfähigkeit behielte, als sie diese ihre Grundlage in einem
gemeinsamen Kult lebendig halten könne. Das dritte Reich, wo in der Religion
alle auf sich selber stehen und der Geist völlig frei und isoliert in den
Individuen sich entwickelt, wird vermutlich niemals kommen, sowenig wie der
Staat und die Wirtschaft, die lediglich auf dem naturnotwendigen Zusammenfallen
der individuellen Interessen und Vernünfte beruhen.
So wird es auch keine kräftige Wirklichkeit der christlichen Idee geben
ohne Gemeinschaft und Kult. Ob die bestehenden Kirchen zu diesem Leben zu erwecken
sind, ist eine Frage für sich. Möglich, daß sie bei einer Änderung
unserer allgemeinen politischen Verhältnisse gezwungen werden, sich auf
die Kreise zurückzuziehen, die dem altkirchlichen Dogma noch anhängen.
Möglich aber auch, daß sie angesichts einer solchen Entwickelung
sich als breite Volkskirchen gestalten lernen, in denen die Vielgestaltigkeit
des heutigen protestantisch religiösen Denkens zum Ausdruck kommen darf.
Aber was auch immer kommen mag, eine Gewißheit und Kraft der erlösenden
Gotteserkenntnis wird man ohne Gemeinschaft und Kult sich nicht denken dürfen.
Ein von der christlichen Idee erleuchteter Kultus wird daher stets zum Zentrum
haben müssen die Sammlung der Gemeinde um ihr Haupt, die Nährung und
Kräftigung der Gemeinde durch die Versenkung in die dem Christusbilde enthaltenen
Gottesoffenbarung, die Fortpflanzung nicht durch Dogmen, Lehren und Philosophien,
sondern durch die Überlieferung und Lebendighaltung des Christusbildes,
die Anbetung Gottes in Christo.
Solange es ein Christentum in irgend einem Sinne überhaupt geben wird,
wird es mit der kultischen Zentralstellung Christi verbunden sein. Es wird nur
so sein oder es wird nicht sein. Das beruht auf sozialpsychologischen Gesetzen,
die ganz die gleiche Erscheinung auch auf anderen Religionsgebieten hervorgebracht
haben und sie im Kleinen tausendfach wiederholen bis heute, die den ganzen Gedanken
einer lediglich aus jedem Innenleben quellenden und doch übereinstimmenden,
der Wechselwirkung nicht bedürfenden und doch lebendig kräftigen Frömmigkeit
als Utopie erscheinen lassen. Dieser sozialpsychologische Gesichtspunkt ist
daher auch derjenige, unter dem unser Problem vor allem gesehen werden muß.
Die Verbindung der christlichen Idee mit der Zentralstellung Christi in Kult
und Lehre ist keine begriffliche aus dem Begriff des Heils folgende Notwendigkeit.
Denn auch wenn man mit Recht auf das Anlehnungs- und Stärkungsbedürfnis
der durchschnittlichen Frömmigkeit hinweisen kann, so braucht man dazu
nicht gerade schlechterdings die Person Jesu, mit der ein wirklich persönlicher
Verkehr ja gar nicht möglich ist.
Sie ist aber auch keine rein historische, lediglich den Entstehungsvorgang erleuchtende
und dann nicht mehr wesentliche Tatsache. Sie ist sozialpsychologisch für
Kult, Wirkungskraft und Fortpflanzung unentbehrlich, und das mag genügen,
um die Verbindung zu rechtfertigen und zu behaupten.
Ohne sie ist eine Fortentwicklung der christlichen Idee nicht zu denken. Eine
neue Religion wurde ein neuer Kult eines historischen Propheten sein müssen,
und die Hoffnung auf eine kultlose, rein persönlich-individuelle Überzeugungs-
und Erkenntnisreligion ist ein bloßer Wahn. Bedürfen wir aber des
Kultus und der Gemeinschaft, so bedürfen wir auch Christi als des Hauptes
und Sammelpunktes der Gemeinde. Denn ein anderes Einigungs- und Veranschaulichungsmittel
hat die christliche Gotteserkenntnis überhaupt nicht, und religionsphilosophische
Lehrvorträge werden eine wirkliche Religion niemals bilden und niemals
ersetzen.
Steht die Sache aber so, dann ist freilich eine wirkliche und grundsätzliche
Gleichgültigkeit auch gegen die historisch-kritischen Fragen nicht möglich.
Freilich ist in diesem Sinne Jesus das Symbol des christlichen Glaubens überhaupt.
Aber diejenigen, welche meinen, daß für ein solches Symbol die Wurzelung
in geschichtlicher Tatsachlichkeit gleichgültig sei und daß gerade
die mythische Verkörperung von Ideen das große Werk der Religionsgeschichte
sei, sind für ihre Person selbst weit entfernt, in einen religiösen
Glaubenskreis einzutreten und sich ihm innerlich mit Begeisterung oder praktischer
Arbeit hinzugeben, dessen Idee durch dieses mythische Symbol verkörpert
ist. Sie muten nur den Gläubigen zu, daß sie bei geringerer Beschränktheit
mit einem mythischen Symbol völlig zufrieden sein könnten.
Solche Zumutungen, wie sie z.B. Samuel Lubhinski
stellt, sind nichts anderes als Beispiele des heute so häufigen ästhetisierenden
Spiels mit den Realitäten, wo der Ästhet den Gläubigen zumutet,
seinen Lebenshunger an einem mythischen Symbol zu befriedigen, weil er selbst
gar nicht daran denkt, einen wirklichen Überzeugungs- und Gewißheitshunger,
sondern nur ein spielendes Bedürfnis der Phantasie zu stillen.
Für einen wirklich der christlichen Lebenswelt innerlich Angehörigen
ist es unmöglich, das Zentrum und Haupt der Gemeinde, den Beziehungspunkt
alles Kultus und aller Gottesanschauung lediglich für einen, wenn auch
noch so schönen Mythos zu halten. Wie ihm Gott nicht Gedanke und Möglichkeit,
sondern heilige Realität ist, so will er mit diesem seinem Symbol Gottes
auch auf dem festen Grunde wirklichen Lebens stehen.
Es ist für ihn von wahrer Bedeutung, daß ein wirklicher Mensch so
gelebt, gekämpft, geglaubt und gesiegt hat und daß von diesem wirklichen
Leben her ein Strom der Kraft und der Gewißheit sich bis auf ihn ergießt.
Das Symbol ist ihm wirkliches Symbol nur dadurch, daß hinter ihm die Größe
eines überlegenen wirklichen religiösen Propheten steht, an dem er
sich Gott nicht nur veranschaulicht, sondern an dem er sich auch in eigener
Unsicherheit aufrichten und stärken kann, wie er auch sonst des Haltes
an überlegener persönlich-religiöser Autorität bedarf und
solche im Leben vielfach erfährt.
Das ist das Berechtigte an der Herrmann‘schen Rede von der
»Tatsache Christus«. Es handelt sich nur nicht darum, daß
die Heilsgewißheit des Individuums erst durch die Gewißwerdung an
Jesus gewonnen werden könne, sondern darum, daß es keinen tragenden
und stärkenden Lebenszusammenhang des christlichen Geistes ohne Sammlung
um Jesus geben kann und eine Sammlung um Jesus auch auf ein reales lebendiges
Leben zurückgehen muß, wenn sie innere Kraft und Wahrhaftigkeit haben
soll.
Unter diesen Umständen ist dann freilich ein Absehen von der historisch-kritischen
Forschung nicht möglich. Die »Tatsache«
kann, wie alle anderen historischen Tatsachen, die zunächst nur
in der Gestalt von Berichten gegeben sind, lediglich durch historische Forschung
festgestellt werden.
Der Glaube kann Tatsachen deuten, aber nicht feststellen. Darüber sollte
es nicht nötig sein, irgend ein Wort zu verlieren, obwohl gerade an diesem
Punkte die Theologie mit den verwirrendsten Methoden zu arbeiten pflegt. Es
handelt sich nicht um Einzelheiten, aber um die Tatsächlichkeiten der ganzen
Erscheinung Jesu und um die Grundzüge seiner Predigt und seiner religiösen
Persönlichkeit. Diese müssen als geschichtliche Wirklichkeit mit historisch-kritischen
Mitteln festgestellt werden können, wenn das »Symbol
Christus« einen festen und starken inneren Grund in der »Tatsache«
Jesus haben soll. Dessen bedurfte freilich eine unhistorisch denkende Welt nicht,
und so hat man bis zum 18. Jahrhundert an diese Probleme nicht gedacht.
Aber innerhalb einer grundsätzlich historischen Denkweise, wie es die der
Gegenwart ist, kann sich der Glaube dieser Einmischung der historisch-wissenschaftlichen
Denkweise nicht entziehen, sondern muß ihr Stand halten und ihr gegenüber
sich die geschichtlichen Grundlagen seiner Gemeinschaft und seines Kultus sichern,
soweit die geschichtlichen Fragen hierfür von Bedeutung sind.
Da gibt es kein Ausweichen und auch kein Ignorieren. Der Kampf muß ausgefochten
werden, und, wäre er zu Ungunsten der Geschichtlichkeit oder überhaupt
der Erkennbarkeit Jesu entschieden, so wäre das in der Tat der Anfang vom
Ende des Christussymbols in den Schichten des wissenschaftlich gebildeten Volkes.
Und von da würden Zweifel und Auflösung bald in die Unterschichten
herabsinken, soweit sie bei deren sozialreformerischen und antikirchlichen Neigungen
dort nicht schon lange zu Hause sind. Es ist bloß eine Redensart, sich
an das christliche Prinzip halten und die geschichtlichen Fragen ganz sich selbst
überlassen zu wollen.
Das ist ein praktischer Ausweg für einzelne in schwierigen Unklarheiten,
aber unmöglich für eine religiöse und kultische Gemeinschaft.
Es ist aber auch ebenso eine bloße Redensart, wenn man sagt, der schlichte
Glaube dürfe nicht von Gelehrten und Professoren abhängig gemacht
werden. Auch das ist richtig für den einzelnen Fall, wo einer sich den
Umschlingungen des wissenschaftlichen Getriebes mit starkem Instinkt entwindet.
Aber es ist unmöglich, historische Tatsachen im allgemeinen und im Prinzip
der wissenschaftlichen Kritik entziehen zu wollen. In dieser Hinsicht bleibt,
wenn man es so ausdrücken will, in der Tat eine Abhängigkeit von Gelehrten
und Professoren, oder besser gesagt, von dem allgemeinen Gefühl historischer
Zuverlässigkeit, das durch den Eindruck der wissenschaftlichen Forschung
sich erzeugt. Darüber darf man sich nicht beklagen. Es ist das doch nicht
eine auf die historischen Probleme des Glaubens sich beschränkende Schwierigkeit.
Der Glaube innerhalb einer wissenschaftlich gebildeten Welt ist nie unabhängig
gewesen von den Einwirkungen der Wissenschaft. Er stand Jahrhunderte lang unter
den Einwirkungen der antiken Philosophie; er mußte sich dann messen und
ausgleichen mit der die antike und christliche Philosophie von Grund aus verwandelnden
Naturwissenschaft; heute kommt dazu die Historisierung und Psychologisierung
unser ganzen Anschauung vom Menschen und seinem irdischen Dasein.
Es ist ein Wahn, daß der Glaube Auseinandersetzung, Anpassung und Gegensatz
gegenüber den jeweils als wissenschaftliche Erkenntnis sich darbietenden
Anschauungen vermeiden und daß er sich unter Einziehung aller ihn in Gegensatz
bringenden Positionen rein auf sich selber zurückziehen könne. In
den ersten enthusiastischen Anfängen und in der praktisch-sozialen Herrschaft
über wissenschaftlich gleichgültige Volksschichten kann er das, aber
nicht innerhalb einer von wissenschaftlicher Bildung und Denkweise erfüllten
Welt.
Die Rettung durch Preisgabe aller der Wissenschaft ausgesetzten Elemente ist
der Verzicht auf Inhalt, Bestimmtheit, Kraft und Gemeinschaftsbildung. Damit
hat freilich schon Kant begonnen, der eben daher
auch Christus für eine Allegorie des christlichen Prinzips erklärte
und der nur durch eine wunderliche Gewaltsamkeit zum Patron eines um Metaphysik
und Naturwissenschaft unbekümmerten, aber auf die »Tatsache
Christus« sich stützenden Erlösungsglaubens geworden
ist. Soweit Kant jedoch in seiner theologisch-idealistischen
Geschichtsauffassung und seiner dualistischen Moralphilosophie und seinem Unsterblichkeitsglauben
Elemente konkreter Christlichkeit festhielt, hat sich ja auch weiter hiergegen
die Wissenschaft gewendet.
Kampf und Anpassung ihr gegenüber hört erst auf, wenn die Religionsphilosophie
sich völlig auf die bloße Tatsächlichkeit und Zuständlichkeit
religiöser Stimmungen zurückzieht, die das Leben der Seele durchfärben
und durchwachsen, die aber immer erst die Illusion zu konkreten Inhalten und
Anschauungen von einer diese Stimmungen bewirkenden, von der bloßen Seelengegebenheit
der religiösen Zustände sich unterscheidenden Gottheit macht.
Damit ist dann allerdings jeder Konflikt mit der Wissenschaft vermieden, aber
auch jede praktische Leistung und Gemeinschaftsbildung der Religion ausgeschlossen,
von der völligen Preisgabe jeder Christlichkeit zu geschweigen. Das aber
ist eine Kapitulation des Glaubens vor dem Intellekt, ein Verzicht auf jede
praktische Bedeutung und Gemeinschaft, die gerade an der Anschauung einer konkreten
verpflichtenden und das praktische Gemeinschaftsleben bestimmenden Gottesidee
hängt.
Diese aber wiederum hängt in ihrer Konkretheit an der Anerkennung der großen
Prophetenpersönlichkeiten als Führer und Bürgen. So wird eine
aus jener Umklammerung und Mediatisierung sich befreiende Gläubigkeit auf
all diese Auseinandersetzungen mit der Wissenschaft hingewiesen, damit auch
zur Klarwerdung über die Tatsächlichkeit der historischen Grundlagen
genötigt.
Gegen diese Notwendigkeit ist kein Kraut gewachsen. Wie viele immer, davon unberührt,
bloß ihrem religiösen Trieb und Gefühl folgen mögen, für
die Selbstverständlichkeit und Möglichkeit ihres rein praktischen
Daseins ist eine Atmosphäre und Stimmung der Zuversicht zur Zuverlässigkeit
der historischen Grundlagen nötig, die unter den Verhältnissen der
Gegenwart nur die wissenschaftliche Forschung bewirken kann. All die Schwierigkeiten,
Nöte und Schwankungen, auch die Abhängigkeiten von der Gelehrsamkeit,
die damit verbunden sind, müssen in den Kauf genommen werden. Es geht nicht
ohne sie, und man darf hier nicht wehleidig sein, freilich auch nicht eine Unbekümmertheit
zur Schau tragen, die in Wahrheit unmöglich ist.
Nur das wird man sagen können, daß ein Teil der geschichtlichen Forschungen
allerdings gleichgültig ist für den religiösen Zweck. Damit ergibt
sich dann aber doch eine gewisse Einschränkung der religiös bedeutsamen
wissenschaftlichen Forschung. Nicht um alle Einzelheiten und Kleinigkeiten historisch-theologischer
Forschung, sondern um die grundlegenden Tatsachen handelt es sich, um die entscheidende
Bedeutung der Persönlichkeit Jesu für die Entstehung und Bildung des
Christusglaubens, um den religiös-ethischen Grundcharakter der Predigt
Jesu und um die Wandelungen, die seine Predigt in den ältesten christlichen
Gemeinden des Christuskultus erfahren hat. Hier sind die entscheidenden Haupttatsachen
trotz aller noch offener Fragen meines Erachtens in der Tat mit Sicherheit festzustellen.
Das genügt für den eigentlich religiösen Zweck, für die
Anerkennung der Geschichtlichkeit Jesu und für die religiöse Deutung
seiner Lehre. Es bedarf nur eines grundsätzlichen Gesamtbildes. Das würde
freilich nicht genügen, wäre die geschichtliche Person Jesu die einzige
Quelle christlicher Glaubenserkenntnisse und Lebenskräfte. Allein sie steht
ja in einem großen Zusammenhang geschichtlicher Vorbereitungen und Auswirkungen.
Sie ist nicht zu verstehen ohne die Vorbereitung der Propheten und Psalmen,
ohne die Auswirkung im paulinischen Christusglauben und der Fülle christlicher
Persönlichkeiten bis auf Luther und Schleiermacher.
Wo sie wesentlich in ihrer sozial-psychologischen Bedeutung und nicht als die
einzige der Erbsünde entgegengesetzte Autorität und Kraftquelle betrachtet
wird, da hindert nichts, sie beständig in diesem Zusammenhang geschichtlichen
Lebens zu sehen und Vorbereitung und Auswirkung in sie hineinzusehen und hineinzudeuten.
Für die Predigt und das Gemeindeleben kommt es ja nicht auf die philologische
Genauigkeit des Einzelbildes Jesu an, wo man dann freilich von einem Kritiker
zum anderen irren könnte, sondern auf die Ausdeutung des Christusbildes
aus der ganzen vorausgehenden und folgenden Geschichte. Nur muß diese
Ausdeutung mit dem Bewußtsein verbunden sein, wahrhaftig und ehrlich Jesus
als Zentrum dieser Lebenswelt betrachten zu dürfen. Sie darf nicht Gefühl
oder Angst haben, daß sie einen gegenstandslosen, des Wirklichkeitsgrundes
entbehrenden Mythus zur Verkörperung einer aus tausend Quellen zusammenfließenden
Idee dichte.
Unter dieser Voraussetzung kann sie in der praktischen Verkündigung sehr
frei und beweglich das Bild Christi deuten aus allem, was in ihm zusammenströmte
und aus allem, was in ihn hineingelebt und hineingeliebt worden ist im Laufe
der Jahrtausende. Auch wird sie nicht alles in Jesus konzentrieren.
Jesus wird ihr nicht die einzige für unseren Glauben bedeutsame geschichtliche
Tatsache sein. Sie wird neben ihm die andern geschichtlichen Persönlichkeiten
zu ihrem Rechte kommen lassen, die neben ihm in irgend einem Sinne als anschauliche
Symbole und kraftstärkende Bürgschaften des Glaubens betrachtet werden
können. Auch hat sie keinen Anlaß dabei bloß bis zum Reformationszeitalter
zu gehen, sie wird solche geschichtliche Tatsachen finden bis zur Gegenwart.
Die Christlichkeit und damit überhaupt die Bestimmtheit
des Prinzips wird sie dadurch wahren, daß sie alles das doch immer wieder
bezieht auf den einen Sammelpunkt, auf die Persönlichkeit Jesu.
Somit müssen wir im Kampf der wissenschaftlichen Meinungen uns allerdings
auch mit den Mitteln der historischen Wissenschaft der Tatsächlichkeit
und Erkennbarkeit Jesu versichern, wenn es einen Fortbestand des Christentums
geben soll.
Die Antwort darauf ist von der Wissenschaft des Urchristentums trotz aller verbleibenden
Lücken im wesentlichen gegeben, und die sensationellen Leugnungen werden
verschwinden, wenn man sachlich an diesen Dingen arbeitet. Eine Einschränkung
der Wichtigkeit der geschichtlichen Forschung ergibt sich nur insofern, als
praktisch bedeutsam eine solche sich nur auf die Hauptsache der Person und Predigt
Jesu und der Entstehung der ältesten Gemeinde erstreckt, sowie daraus,
daß diese historische Tatsache durch zahlreiche andere sich verstärkt
und nicht allein alles zu tragen hat. Das ist eine Bemeisterung und Einschränkung
des Problems, wie sie von dem oben geschilderten Standpunkte aus möglich
ist, während beides für die rechtgläubige Theologie natürlich
sinnlos und überflüssig ist.
IV.
Es möchte scheinen, als ob diese Lösung dem früher geschilderten
Vermittlungstypus der Schleiermacher-Ritschl-Herrmannschen
Schule im Grunde doch sehr nahe stände. Das ist auch mehr als ein Schein.
Es ist wirklich so. Die Ergebnisse für die praktische Verkündigung
sind einigermaßen ähnlich. Und auch der wichtige Gedanke eines Haltes
für die religiöse Subjektivität an der durch alle geschichtliche
Vermittelung hindurch noch spürbaren religiösen Größe und
Kraft einer wirklichen Persönlichkeit ist von hier aus in seiner vollen
Bedeutung erkannt. Über eine solche Berührung kann man sich nur freuen.
Denn es kommt nicht darauf an, daß wir unsere Denkweisen fortwährend
gegen einander abgrenzen und an den Tischtüchern schneiden. Das wirkt nur
abstoßend oder lächerlich. Man muß vielmehr in unserem Wirrsal
nachdrücklich die Berührungspunkte suchen.
Gleichwohl ist doch Sinn und Begründung des Gedankens und damit der Gedanke
selbst ein nicht unerheblich verschiedener, eine Verschiedenheit, deren Bedeutung
nicht auf der Liebhaberei für die scholastischen Knifflichkeiten und Schulgegensätze
theologischer Systembereitungen, sondern auf einem praktischen Unterschied in
Stimmung und Gefühl, in der religiösen Gesamthaltung beruht.
Die von mir gegebene Begründung ist eine allgemein sozial-psychologische,
die für das Christentum so gut gilt wie für jeden andern geistig-ethischen,
nicht an die natürliche Gesellschaftsgliederung gebundenen und nicht im
magischen Kult sich bewegenden, religiösen Glauben. Es ist nicht die Erbsünde,
die alle außerchristliche Gottesgewißheit und Gotteskraft unmöglich
macht. Es ist nicht der Sondervorzug des Christentums, das allein über
eine gewißmachende historische Tatsache verfügte.
Es ist vielmehr ein allgemeines, alle menschlichen Dinge durchdringendes, bei
der Religion und insbesondere der geistig-ethischen Religion sich nur besonders
bestimmendes Gesetz, das mit der Erbsünde und der Unfähigkeit der
außerchristlichen Menschen zum wahren Gottesglauben so wenig zu tun hat
wie Tod und Leiden, Kampf ums Dasein und Zweckwidrigkeit des Naturgeschehens
mit der Sündenstrafe.
Alle diese Dinge hat die alte Lehre von der Erbsünde, der Störung
der vollkommenen Urwelt durch die Sünde Adams und Evas oder der Dämonen
und Teufel, hergeleitet. Aber wie wir heute alle diese Dinge aus der inneren
und notwendigen Verfassung der Natur verstehen, so verstehen wir auch jenes
sozialpsychologische Gesetz nicht als einen Ausfluß der Ursünde,
sondern als eine Eigentümlichkeit des Menschentums in seinem rätselvollen
Verhältnis von Einzelwesen und Gemeinschaft.
Das Christentum hat in der Zentralstellung der Persönlichkeit
Jesu nicht eine es von allen andern Religionen unterscheidende und ihm
allein erst die Erlösung ermöglichende Sondereigentümlichkeit,
sondern erfüllt hierin nur ein allgemeines Gesetz des menschlichen Geistesle¬bens
auf eine ihm eigentümliche Weise.
Entscheidend für die Würdigung der Bedeutung Jesu ist daher nicht
die außerchristliche Erlösungsunfähigkeit, sondern das Bedürfnis
der religiösen Gemeinschaft nach einem Halt, Zentrum und Symbol ihres religiösen
Lebens.
Das Große ist, daß dann nicht ein starres Dogma und nicht ein ebenso
starres Moralgesetz das Zentrum und Symbol bildet, sondern das Bild einer lebendigen,
vielseitigen und zugleich erhebenden und stärkenden Persönlichkeit,
deren innerste Lebensrichtung es in sich aufzunehmen gilt und aus der in voller
Freiheit der Anwendung jedesmal die Gestaltung der gegenwärtigen religiös-sittlichen
Aufgaben herausgeholt werden kann.
Auch ist wiederum diese Persönlichkeit nichts Vereinzeltes, sondern steht
im Zusammenhang eines reichen weiteren geschichtlichen Lebens, das neben und
mit ihr zur Bestimmtheit der christlichen Idee und zur Erfüllung mit lebendiger
Kraft unbefangen verwertet werden kann. Es hat ja freilich nie an Versuchen
gefehlt, die Person Jesu in ein Dogma zu verwandeln oder aus ihr ein Sittengesetz
zu machen.
Aber die lebendige Grundlage eines undefinierbaren persönlichen Lebens
hat hier doch immer wieder durchgeschlagen, und darauf beruht geradezu die immer
neue Vereinfachungs- und Verjüngungsfähigkeit des Christentums. Auch
daran hat es nie gefehlt, daß man Jesus isolierte gegen die ganze Geschichte
vor ihm und nach ihm und ihn zum einzigen Halt und Grund des Glaubens machen
wollte.
Auch in der neuesten Christuslehre fehlt es nicht daran. Aber das wird stets
von neuem unmöglich infolge der ganz unverkennbaren Gebundenheit der Vorstellungswelt
und des Ethos Jesu durch die ganz bestimmte Lage des Spätjudentums und
infolge der schroffen Einseitigkeit des rein religiösen Propheten, der
eine neue Welt und Menschheit unter neuen, rein vom religiösen Ideal bestimmten
Bedingungen in seiner Gottes-Reich-Predigt vorausnimmt und in Bälde erwartet.
Demgegenüber hat schon der Glaube der Urgemeinde den Geist Christi befreit
von der historischen Erscheinung Christi und als ein entwicklungsfähiges
Prinzip betrachtet. Nur liegt aber diese Entwickelung nicht sowohl in ideellen
Folgen und systematischen Lebensauffassungen als in einer weiteren Reihe starker
religiöser Persönlichkeiten, die aus ihm geschöpft haben und
neues aus seinem Geiste hervorgebracht haben, gerade so wie in Jesus der Geist
der Propheten liegt und neues Wachstum in ihm aus diesem prophetischen Samen
aufgeht. So ist es nicht die absolute Einzigkeit des Erlösers, auf die
es ankommt, sondern das Zentrum, um das sich alle Vorbereitungen und Auswirkungen
der christlich-prophetischen Gläubigkeit sammeln und von dem aus sie eine
einheitliche Deutung erfahren.
Liegt alles Schwergewicht auf sozialpsychologischen Notwendigkeiten, so entspringt
von da aus auch ein starker Druck auf die Ideen der Gemeinschaft und des Kultus.
Die Notwendigkeit der Gemeinschaft und des Kultus haben die Zentralstellung
der Christuspersönlichkeit geschaffen. Sie bewirken auch dauernd diese
Zentralstellung.
Wo die Gemeinschaft sich auflöst in freie, isolierte Überzeugungsreligion
des Individuums und der Kultus sich verwandelt in Stimmung oder Beschaulichkeit,
da wird auch die Beziehung auf Jesu zurücktreten; und wenn in Worten der
Zusammenhang mit ihm gewahrt werden soll, da wird an seine Stelle der innere
Christus oder die freie mystische Gegenwart Gottes in den Seelen treten.
Wo man aber von solcher Zersplitterung und Ermattung zu Gemeinschaft und Kult
zurückkehrt, da wird immer wieder die Bedeutung der geschichtlichen Persönlichkeit
Jesu hervortreten. Das ist ganz deutlich an Schleiermacher
zu verfolgen. In seinen Reden, die nur der Unverstand für exoterisch halten
kann, tritt die Bedeutung des Historischen stark zurück, während sie
in den gleichzeitigen Predigten stärker hervortritt. Vor allem aber seit
seiner Beteiligung an kirchlichen Aufgaben und seinem Entwurf einer kirchlichen
Glaubenslehre wurde die Person Jesu der Zentralgegenstand
der ganzen Betrachtung als Symbol und Kraftquelle des christlichen Glaubens
und Mittelpunkt der Predigt und des Kultus.
Nur die bewußte Begründung ist von ihm nicht sozialpsychologisch
gefaßt, während das Motiv zu dieser Wendung es zweifellos ist. Seine
dogmatische Begründung dagegen arbeitet mit der Unkräftigkeit des
außerchristlichen Gottesbewußtseins und mit der Eröffnung einer
neuen Menschheitsperiode durch den zweiten Adam oder den Bringer der Kräftigkeit
des sonst unkräftigen Gottesbewußtseins, eine Auffassung, die Schleiermacher
sonstigem entwickelungsgeschichtlichen Denken grob widerspricht und wohl überhaupt
ein wenig Anpassung an die herrschende biblisch-kirchliche Sprache ist.
Noch mehr ist das sozialpsychologische Motiv verhüllt bei
Ritschl und Herrmann, wo das erlösende
Wunder der Autorität Christi der entscheidende Gedanke ist. Aber tatsächlich
steht doch auch bei ihnen die Bildung der Gemeinschaft und der Kultus in Verbindung
mit der Hervorhebung der geschichtlichen Persönlichkeit. Wenige haben so
stark wie Ritschl und Herrmann
die Bedeutung des Christusglaubens für Gemeinde, Kultus und Gottesreich
betont. Es ist nur notwendig, dies tatsächlich beherrschende Motiv auch
als den sachlichen Grund und die innere Notwendigkeit der Jesus-Verehrung erscheinen
zu lassen.
Bei Schleiermacher finden sich in seinen Reden,
wo er die um überlegene Zentren sich sammelnden, aber fließenden
Gruppenbildungen schildert, die ersten Ansätze zu einer solchen Begründung.
Er hat sie leider nicht weiter verfolgt, sondern die endgültig eingesetzte
Begründung nach Möglichkeit der kirchlichen Ausdrucksweise angenähert.
In der Sache aber haben sie alle zweifellos recht. Damit stehen wir freilich
im Gegensatz gegen religiöse Lieblingsstimmungen der Zeit, die wohl dem
kult- und geschichtslosen Idealismus der Mystik und der protestantischen Spiritualisten
sich verwandt fühlt, aber mit Gemeinschaft, Kirche, Kult und Predigt nichts
anzufangen weiß.
Es ist hier schwer zu sagen, wo die Ursache in diesem Wechselzusammenhang liegt,
ob die Gemeinschaftsidee verfiel wegen der Auflösung des Christusglaubens
oder ob der letztere sich verflüchtigt wegen Zersetzung der ersteren. Wie
dem auch sei, jedenfalls wird es unmöglich sein, auf dem Gebiet der Religion
einen Individualismus festzuhalten, den man auf dem Gebiete aller andern Lebensinteressen
wieder zu überwinden gezwungen worden ist. Unter seiner Einwirkung werden
die Kräfte der Religion zersplittern, verdampfen und ermatten, und es wird
wieder ein starker Durchbruch des Bedürfnisses nach Gemeinschaft und Kult
erfolgen.
Ob innerhalb unserer gegenwärtigen Kirchen oder neben ihnen, das ist eine
Frage für sich, die erst die Zukunft entscheiden kann. Aber eine solche
Umkehr wird erfolgen und mit ihr wird auch die Bedeutung der Geschichtlichkeit
Jesu wieder besser begriffen werden. So wie es ist, kann das religiöse
Chaos und das religiöse Elend nicht dauern. Eine andere Religiosität
als die christliche, die das Ergebnis und die Grundlage der westasiatisch-europäischamerikanischen
Gei¬stesgeschichte ist, wird man innerhalb unseres Kulturkreises nicht erwarten
können und dürfen. Erhebt sich innerhalb unserer Kultur das religiöse
Leben überhaupt wieder, so wird es in allem Wesentlichen aus dem Christentum
strömen und sein Symbol in der Person Jesu
haben.
Damit stehen wir dann auch bei dem letzten Unterschiede gegenüber der Lehre
des hier besprochenen Vermittelungstypus. Wie der Sinn und die Begründung,
so ist auch die Folgerung eine andere. Und hier wird der Unterschied vor allem
deutlich. Begründet man die Zentralstellung Jesu mit dem Wunder einer alle
erbsündige Schwäche und Glaubensunfähigkeit überwindenden
Kraft und Gewißmachung, dann wird die Religion der Menschheit immer das
Christentum bleiben müssen und wird alle religiöse Gemeinschaft in
alle Ewigkeit um das Zentrum der Person Jesu kreisen müssen.
Dann wird man mit Schleiermacher Christus als den
zweiten Adam oder mit Ritschl ihn und seine Gemeinde
als den mit dem Weltzweck identischen Wesenszweck Gottes bezeichnen und vom
einen wie vom anderen eine Brücke zur alten Christologie von Nicaea und
Chalcedon schlagen können. Begründet man sie aber auf allgemeine sozialpsychologische
Notwendigkeiten, dann kann man daraus nur folgern: solange die eigentümliche
christlich-prophetische, Stoa und Platonismus
und so manches andere zugleich in sich tragende Frömmigkeit besteht,
wird alle Möglichkeit einer Gemeinschaft und eines Kultus, damit alle wirkliche
Kraft und Fortpflanzung der Gläubigkeit, an die Zentralstellung Christi
im Glauben gebunden sein.
Eine andere Frage ist, ob das Christentum selber ewig bis ans Ende die Religion
der Menschheit bleiben wird, ob es das durch die Mission in nichtchristlichen
Ländern und Völkern für alle Ewigkeit werden wird. Das ist eine
Frage, die natürlich überhaupt nicht mit Sicherheit zu beantworten
ist, deren Aufwerfung selber aber schon sehr wichtig ist für die ganze
Auffassung unseres religiösen Wesens.
Solange unsere den Mittelmeerländern wesentlich entsprungene Kultur dauert,
ist es schwerlich wahrscheinlich, daß aus ihr eine neue, an Beweglichkeit,
Tiefe und Größe dem Christentum vergleichbare Religion entspringe.
Unser religiöses Leben hat wohl in ihm für immer sein Bett und seine
Triebkräfte erhalten. Die modernen Surrogate des Christentums und die wissenschaftlichen
Religionen sind nur stark in der Kritik, aber überaus schwach in der erbauenden
religiösen Kraft und verwechseln oft Wissenschaft, Kunst oder Moral mit
Religion. Aber ob diese Kultur selbst ewig dauern und auf die gesamte Welt sich
ausdehnen wird, das ist eine Frage, die niemand beantworten kann.
So kann man auch die Frage nach einer ewigen Dauer des Christentums und der
Bindung von Gemeinschaft und Kult an die geschichtliche Persönlichkeit
Jesu nicht bejahen und nicht verneinen. Man kann an die Möglichkeiten von
vielen Jahrhunderttausenden menschlicher Zukunft denken, und man wird sich scheuen,
irgend eine Bindung der Zukunft an Gegenwärtiges auszusprechen.
Das aber entwertet nicht das Gegenwärtige. Was in ihm wahr ist und Leben
ist, wird erhalten bleiben oder wiederkehren und wird nicht zur Unwahrheit durch
irgend etwas, was kommen wird. Wir können nur die religiösen Kräfte
der Gegenwart zusammenhalten und fortbilden und gewiß sein, darin das
von der Gegenwart Verlangte zu tun und in der inneren Bewegung des göttlichen
Lebens zu stehen.
Was in unserem heutigen Glauben wahr, groß und tief ist, wird es auch
in zwei Jahrhunderttausenden, wenn auch vielleicht in völlig anderer Form,
sein. Da wir aber diese unsere religiösen Gegenwartskräfte nur im
Zusammenhange mit der Vergegenwärtigung und Verehrung der Person Christi
haben, so scharen wir uns um sie, unbekümmert darum, ob in hunderttausend
Jahren die Frömmigkeit sich noch aus Jesus nähren wird oder ein anderes
Zentrum haben wird. Unbestimmte Zukunftsmöglichkeiten entwerten nicht das,
was an gefühlter Kraft und Wahrheit die Gegenwart besitzt.
Diese gespenstische Sorge eines mit der großen Zahl spielenden Relativismus
muß man sich aus dem Kopfe schlagen und entschlossen das Göttliche
so ergreifen, wie es in der Gegenwart sich darbietet. In der Gegenwart aber
bietet es sich nicht dar ohne Geschichte und ohne Bindung der religiösen
Einzelsubjektivität an die Substanz eines übergeordneten geschichtlichen
Gesamtlebens, das seinerseits seine wichtigste Kraft und Gewißheit aus
der geschichtlichen Person Jesu empfing.
»Gott in Christo« kann für uns nur heißen, daß
wir in Jesus die höchste uns zugängliche Gottesoffenbarung verehren
und daß wir das Bild Jesu zum Sammelpunkt aller in unserem Lebenskreise
sich findenden Selbstbezeugungen Gottes machen. Und wir verzichten am besten
überhaupt darauf, diesen Sinn in die — freilich sehr dehnbaren —
christologischen Dogmen von Nicaea und Chalcedon überhaupt hineinzudeuten.
Man braucht jene Seite des Gedankens nicht in den Vordergrund zu rücken.
In Predigt, Andacht, Katechismus hat sie nichts zu suchen, und auch im akademisch-theologischen
Unterricht kann man sie zurückstellen. Aber wo es sich um die Klarstellung
des prinzipiellen Gedankens handelt, darf sie nicht verschwiegen werden.
Andrerseits wäre es für die Praxis gut, wenn sie nicht gerade die
ewige Bindung noch ungeborener Millionen an die Person Jesu vor allem betonte
und lieber die eigene Bindung der Gegenwart an sie praktisch lebendig machte.
Die Leute, die ihres eigenen Glaubens nur froh werden können, wenn sie
alle kommenden Jahrmillionen daran binden, wissen nichts von der eigentlichen
Freiheit und Größe des Glaubens.
Das ist entscheidend und muß die religiöse Arbeit der Gegenwart bestimmen.
Diese hat darum allerdings ein Interesse an der Geschichtlichkeit Jesu und würde,
ohne diese voraussetzen zu dürfen, völlig neue Bahnen einschlagen
müssen, mindestens in allem, was Gemeinschaft und Kultus betrifft. Das
aber wäre überhaupt eine völlige Auflösung. Insofern steht
sehr viel in der ganzen Frage auf dem Spiel.
Die Entscheidung kann in der Tat nur die strenge geschichtliche Wissenschaft
bringen. Aber es ist außer Zweifel, daß sie einen Kern der Tatsachen
uns gibt, auf den wir unsere gemeinsame Deutung und Schätzung Jesu als
Verkörperung des Glaubens begründen können. Mehr aber bedürfen
wir nicht, wenn es sich nicht um das kirchliche Christusdogma, sondern um die
erlösende Wahrheit der christlichen Gotteserkenntnis handelt und um die
Sammlung einer Gemeinde, von der diese Wahrheit fortgepflanzt und wirksam gemacht
wird. S.61ff.
Aus: Ernst Troeltsch, Lesebuch, Ausgewählte Texte. Herausgegeben von Friedemann
Voigt .