Heinrich von Treitschke (1834 – 1896)

Deutscher Geschichtsschreiber und Publizist, der die deutsche Einigung unter preußischer Führung forcierte und die Meinung vertrat, dass echte persönliche Freiheit nur in einem starken und toleranten Staat sich frei entfalten könne.


Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Religiöse Freiheit

Wie jedes staatliche Übel die Sitten der Bürger berührt, so hat auch die lange unselige Gewohnheit, vor dem Staate zu schweigen und sich zu beugen, entsittlichend eingewirkt auf das religiöse Verhalten des Volkes. Die Furcht vor einer streng-gläubigen Behörde, ja die Furcht vor dem Naserümpfen der so genannten guten Gesellschaft reicht hin, Unzählige zum Verleugnen ihres Glaubens zu bewegen. In den vornehmen Klassen ist man stillschweigend übereingekommen, gewisse hochwichtige religiöse Fragen nie zu berühren, und so träumen der Gebildeten viele dahin, welche mit Absicht den Kreis ihrer Gedanken verengern, sich grundsätzlich ihres Rechtes zu begeben, über religiöse Dinge zu denken. In erschreckender Stärke wuchert auf dem religiösen Gebiete der Geist der Unwahrhaftigkeit. Geheime Worterklärungen, Mentalreservationen aller Art zwingt man dem widerstrebenden Denken auf; damit gepanzert geht man dahin, teilzunehmen an kirchlichen Gebräuchen, deren eigentlichen Sinn man verwirft. Ganze Richtungen der Theologie, mächtige Zweige des vulgären Rationalismus hängen mit diesem Triebe zusammen: man leugnet die Dogmen der Offenbarung, aber man leiht den alten Worten einen fremden Sinn, statts mannhaft dem Widerwillen der trägen Welt zu trotzen und offen ein Band zu lösen, das für die Seelen nicht mehr besteht.

Doch wie? Ist dies Geschlecht wirklich so tief gesunken? Steht es so gar jämmerlich um die innere Freiheit des Menschen, wie es nach diesen bedenklichen und unleugbaren Erscheinungen der Gegenwart scheinen sollte? Man muss sehr unerfahren sein in den Geheimnissen der Menschenbrust, um auf einem Gebiete, das der unberechenbaren Macht der Selbsttäuschung einen unermesslichen Spielraum gewährt, einfach mit den Vorwürfen der Lüge und der Gleisnerei hervorzutreten. Und noch weniger wird ein besonnener Kenner der Geschichte die schlichtfriedliche Anhänglichkeit an die Gebräuche der Väter kurzerhand als Trägheit verdammen.. Denn die ganze Bewegung der Geschichte besteht in einer fortwährenden Ausgleichung und Versöhnung zwischen den gleichberechtigten Mächten des Beharrens und der fortschreitenden Geistesfreiheit.

Wirklich erklärt aber wird die befremdende Tatsache, dass in diesen hellen Tagen der Kritik der große Mittelschlag der Menschen am Leben der Kirche mit offenbar geringerer geistiger Regsamkeit teilnimmt, als vor dreihundert Jahren, nur durch die andere Tatsache, dass die helleren Köpfe unseres Volkes dem religiösen Meinungsstreite bereits entwachsen sind. Und dies gerade verbürgt uns den schließlichen unvermeidlichen Sieg der Ideen der Duldung, der inneren Freiheit. Nur wenige unserer Denker sind erfüllt von Verbitterung gegen das, was sie den falschen Idealismus der Theologen nennen. Die meisten leben der klaren, ruhigen Meinung: wie gebrechlich immer die Einrichtung der Welt, so gebrechlich ist sie nicht, dass der sittliche Wert des Menschen von Dingen abhängen sollte, die ein fester Wille, ein besonnenes Denken nicht bemeistern kann. Sie haben erfahren, dass von allen Meinungskämpfen allein der Streit über religiöse Fragen notwendig zur Verbitterung und Gehässigkeit führt. So sind sie zu jener Auffassung der Religion emporgehoben worden, welche allein eines freien Mannes würdig ist. Sie erkennen: religiöse Wahrheiten sind Gemütswahrheiten, für den Gläubigen ebenso sicher, ja noch sicherer, als was sich messen und greifen lässt, doch für den Ungläubigen gar nicht vorhanden; die Religion; die Religion ist ein subjektives Bedürfnis des schwachen Menschenherzens und ebendarum kein Gegenstand des Meinungskampfes. Denn über des Menschen sittliche Würde entscheidet nicht, was er glaubt, sondern wie er glaubt. Allzuoft haben wir erlebt, wie ein und derselbe Glaube den einen zum Größten begeisterte, den anderen in widrige Gemeinschaft stürzte.

Über diese Fragen denken die kühneren Geister der Gegenwart radikaler, als das achtzehnte Jahrhundert. Die Philosophen jener Epoche meinten zumeist, ohne Glauben an Gott und Unsterblichkeit bestehe echte Tugend nicht. Die Gegenwart bestreitet dies, sie erklärt rund und nett: die Sittlichkeit ist unabhängig vom Dogma. Wir haben inzwischen gelernt, wie grundverschiedene Dinge unter dem Namen der Unsterblichkeit begriffen werden. Dass, wie wir das Schaffen großer Männer und ganzer Völker handgreiflich fortwirken sehen von Geschlecht zu Geschlecht, so auch der schwächste Sterbliche ein notwendiges Glied ist in der großen Kette der Geschichte, dass darum keine unserer Taten ganz verloren geht, keine wieder zu vertilgen ist durch äußerliche Buße – dieser Gedanke ist allerdings die Grundlage jeder streng gewissenhaften Sittlichkeit.

Diese Unsterblichkeit soll der Mensch – nicht glauben, denn wer darf beim Glauben von einem Sollen reden? – sondern ernst und klar erkennen. Wer den Mut dazu nicht findet, wird durch die Unsicherheit seines sittlichen Verhaltens seine Buße zahlen. Wie anders der Glaube an ein bewusstes Dasein nach dem Tode! Unser Wissen über diese Frage bleibt bisher noch unzureichend, sie fällt noch nicht in das Gebiet des Erkennens, und ebendeshalb hat die Überzeugung von der Fortdauer nach dem Tode mit unserem Glücke, unserer Tugend an sich nicht das mindeste gemein. Für schwache oder gemeine Kreaturen kann der Glaube an ein Jenseits ebensowohl eine Quelle der Unsittlichkeit werden wie das Leugnen derselben. Wenn es Menschen gibt, welche zugleich mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der christlichen Dogmatik jede Lebensfreude, jeden sittlichen Halt verlieren würden, so leben auch sittliche Asketen, welche über den entnervenden Träumen von der besseren Welt des Menschen erste Pflicht, die werktätige Liebe gegen den Nächsten, verabsäumen. Nein, unser Urteil über den Menschen und seinen Glauben hängt allein ab von der Frage, ob sein Glaube harmonisch und notwendig aus seinem innersten Wesen heraus sich gebildet habe, ob er in der Tat und Wahrheit sagen dürfe: »Das ist mein Glaube«. Jede Überredung kann wohl auf die Erkenntnis, doch schwerlich auf den Willen wirken, kann zwar den Inhalt des Glaubens ändern, aber selten oder nie des Wesentliche, die Form der Überzeugung.

Von dieser Erkenntnis werden sich die freieren Köpfe der Gegenwart auch durch die scheinbarsten Gegengründe nicht abbringen lassen. Man sagt wohl: was ein Mensch glaubt, übt doch unmittelbaren Einfluss auf seine Tugend; wer sich das Jenseits mit rohem, begehrlichen Sinne ausmalt und für jede Liebestat hier unten ein noch reicheres Geschenk droben erwartet, der kann unmöglich, wenn er folgerichtig handelt, ein wahrhaft sittlicher Mensch sein. Gewiss, wenn er folgerichtig handelt! Aber nur die wenigsten sind dazu imstande; und wer nicht Herz und Nieren prüfen kann, der soll diese geheimen Tiefen der Herzen seiner Nebenmenschen nicht ergründen wollen, sondern ruhig erklären: dies Gebiet des Glaubens ist ein Reich absoluter Freiheit. Solcher Einsicht voll hat sich ein großer Teil der Denkenden von jedem religiösen Meinungsstreite zurückgezogen. Und es zählt diese Ansicht, welche sich mit jedem religiösen Bekenntnisse sehr wohl verträgt, ihre stillen Anhänger bereits nach Tausenden. Denn wer unter unseren Freidenkern ist so roh, dass er lachen sollte, dass er lachen sollte, weil ein Geist wie Stein an den geschmacklosen Verslein des alten Gleim sich erbauen konnte? Wer, wie verwegen oder bescheiden seine religiösen Begriffe, sollte nicht vielmehr seine bewundernde Lust haben an einem Glauben, der den Gläubigen mit so unerschütterlicher Festigkeit des Gemütes segnete? - Diese humane Auffassung der Religion entbehrt offenbar des Triebes, neue kirchliche Genossenschaften zu gründen, sie sieht in dem Christentume das unvergleichlich wichtigste Element der modernen Kultur, aber doch nur ein Kulturelement, das mit anderen des antiken Heidentums sich vermischen und vertragen muss.

Täuschen wir uns nicht, die Kultur der Gegenwart ist durch und durch weltlich. Die Kirche, weiland der Bannerträger der Gesittung, ist heute unzweifelhaft ärmer an geistigen Kräften als der Staat, die Wissenschaft, der Volkswirtschaft. Durch jahrhundertelange Arbeit ist ein Schatz weltlicher Kenntnis und Erkenntnis aufgestapelt worden, welcher alle Denkenden in schönem Frieden verbindet und sicherlich weit bedeutsamer ist als jene Dogmen, welche die Menschen trennen. Der deutsche Katholik – wenn er nicht zu dem kleinen herrschsüchtigen Kreise derer zählt, welche sich als »römische Bürger« gebärden – unser Katholik steht dem deutschen Protestanten auch in seinen religiösen Vorstellungen näher als dem spanischen Katholiken. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen lebt heute unbefangen ihren endlichen Zwecken, und sie hat darum nichts an Sittlichkeit verloren, denn im irdischen Wirken erprobt sich die echte Tugend. Dieser Weltsinn der modernen Welt bricht endlich jedem konfessionellen Fanatismus die Spitze ab. Wie oft haben eifrige Protestanten versichert, e sei unmöglich, eine Kirche im Staate zu dulden, welche sich für die alleinseligmachende ausgibt; und wie wenig hat die Erfahrung dies bestätigt! Wohl zeigt das kirchliche Leben der Gegenwart so ungeheure Gegensätze, dass sorgenvolle Gemüter verzweifelt fragen, wie so grundverschiedene Bestrebungen sich je versöhnen sollen. Abermals träumt der Stuhl von Rom von den Tagen, da die weite Erde römisch sein wird, er gründet von neuem jene Bistümer, welche die Reformation beseitigt hat, er verkündet ungescheut die ungeheuerlichen Grundsätze heidnischen Gewissenszwanges. Und zur gleichen Zeit schreitet eine mächtige Richtung des Protestantismus bereits weit über Luther und Calvin hinaus, sie stellt die verhängnisvolle Frage, wie es denn mit jenen heiligen Schriften stehe, welche von den Reformatoren als ein Offenbarung anerkannt wurden. Wer tiefer blickt, wird trotzdem auf eine Versöhnung hoffen. Sie ist möglich, aber nicht auf kirchlichem Boden. Schon heute ist von dem unvergänglichen Kerne des Christentumes bei den Weltlichen mehr zu finden als in der Kirche.

Die christliche Liebe vornehmlich lebt unter den viel gescholtenen Ungläubigen häufiger als unter den Geistlichen. An dem großen Werke der jüngsten hundert Jahre, an der die Befreiung des Menschen von tausend Schranken unchristlicher Willkür, hat die Kirche gar keinen Anteil genommen. Die Verteidiger der Kirche beanspruchen das Vorrecht, auch die beste Sache durch die unvergleichbare Gemeinheit ihrer Vereidigungsmittel zu verderben. Und diese Erscheinung wird nach menschlichem Ermessen fortdauern. Mehr und mehr wird der sittliche Gehalt des Christentumes von weltlichen Händen ergründet und ausgebildet werden, und mehr und mehr wird sich herausstellen, dass geschlossene Kirchen den geistigen Bedürfnissen reifer Völker nicht genügen.

Es besteht außerhalb der Kirche ein hochwichtiges, tiefbewegtes religiöses Leben, welches voraussichtlich nie zu einer neuen Kirche sich zusammenschließen werden. Und weil von den fortschreitenden regsamen Geistern, welche allein Bewegung bringen in das geistige Leben, eine große Zahl die Hallen der Kirchen nicht mehr betritt, ebendeshalb treibt in der Kirche die gedankenlose Trägheit, die beschränkte Unduldsamkeit ein so arges Wesen, ebendeshalb gehen Staat und Kirche dahin in dem behaglichen Wahne, dass unser Volk noch immer aus lauter gläubigen Katholiken, Protestanten, Juden bestehe. Eine lange Frist mag noch verfließen, bis die humane Auffassung der Religion so allgemein und unwiderstehlich geworden, dass die Fiktion, der sittliche Mensch müsse einer Kirche angehören, aus unseren Gesetzen verbannt werden kann. Bis dahin bleibt uns noch ein unermessliches Feld der Arbeit offen, des Kampfes gegen die unduldsame Herrschaft der Gesellschaft und gegen die theokratischen Überlieferungen der Staaten, auf dass endlich die persönliche Freiheit des Menschen zu ihrem unveräußerlichen Rechte gelange.

Die völlige Ungebundenheit, welche hier für die religiösen Anschauungen gefordert ward, ist nicht minder unerlässlich für alle andern menschlichen Meinungen als solche. Denn unter jeder, politischen oder sozialen, Unterdrückung des Denkens leidet nicht bloß der einzelne von dem Banne der Gesellschaft Betroffene, sondern das gesamte Menschengeschlecht. Eine entscheidende Gewalt steht der Mehrheit der Gesellschaft überhaupt nur da zu, wo der Drang der Not einen Entschluss, eine Tat verlangt, also in allen politischen Geschäften. Die Wahrheit aber darf sich Zeit nehmen auf ihrem erhabenen Gange, sie dient nicht dem Augenblicke: darum unterliegt sie nicht dem Belieben der Gesellschaft. Keine Kunst der Rede hat je vermocht, den ketzerrichtlichen Geist zu bemänteln, der aus der Behauptung redet, die Gesellschaft habe das Recht, zwar nicht die Wahrheit, wohl aber die Gefährlichkeit der Meinungen zu prüfen. Ist einmal der Staat den rohen Formen der Theokratie, der Massen-Aristokratie entwachsen, hat er einmal die persönliche Freiheit des Bürgers im Grundsatze anerkannt, so hilft kein Sträuben mehr, so muss er auch ganz und mit allen Folgerungen das Recht des freien Denkens gewähren, das den Menschen erst zum Menschen macht. Denn bei der grenzenlosen Macht der Trägheit in der Welt ist die Gefahr, dass eine vor der Zeit verkündete Wahrheit die Ruhe der Gesellschaft störe, verschwindend klein gegen die andere Gefahr, dass auch nur ein wahrer Gedanke infolge von Gewalt wieder verschwinde. S. 34-41
Nach Heinrich von Treitschke: Die Freiheit, Insel-Bücherei Nr. 15 im Insel-Verlag zu Leipzig