Lew Nikolajewitsch Tolstoj (1828 – 1910)
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Russischer
Schriftsteller, der von 1844 bis 1847 in Kasan orientalische Sprachen und Jura studierte. Seit 1855 lebte Tolstoj teils auf seinem Gut Jasnaja Poljana, teils in Moskau und St. Petersburg. Westeuropa besuchte er mehrmals. 1862 heiratete
er Sofja Andrejewna Bers (1844
-1919). Am 10. 11. 1910 verließ er seine Familie, um in asketischer Einsamkeit zu leben. Er starb auf der
Reise. Tolstoj begann seine literarische Arbeit
mit dem autobiographischen Roman »Kindheit« (1852). Ein Aufenthalt im belagerten Sewastopol gab die Anregung
zu den »Sewastopoler Erzählungen«
(1855), die ihm literarischen Erfolg brachten. Sein historischer
und geschichtsphilosophischer Roman »Krieg und
Frieden« der vor dem Hintergrund der Napoleonischen Kriege spielt, und der Eheroman »Anna Karenina«
(1878), in dem der russische Gesellschaft der 60er Jahre geschildert
wird, gelten als größte Leistungen des Romans im 19. Jahrhundert. Tolstoj war ein typischer Vertreter des psychologischen
Realismus - ein Meister der präzisen, anschaulichen, farbigen und nuancenreichen
Darstellung der menschlichen Natur. Kennzeichnend seine Darstellungsweise ist mehrschichtige Konstruktion von zwei und mehr ineinander verflochtenen
Handlungen. Seit seiner »Bekehrung«, die ihn vor dem Selbstmord bewahrt und von der er in seiner 1882 erschienen »Beichte« berichtet,
versuchte er, seine religiösen und sozialen Anschauungen in verschiedenen
theoretischen Schriften zu publizieren. Seine Lehre der Gewaltlosigkeit ist ein Ergebnis des Versuchs, ein reines Urchristentum zu rekonstruieren.
Durch die Idealisierung des naturnahen Lebens und des »einfachen
Volkes« sowie durch die Kritik der gesellschaftlichen Konvention und des sozialen Unrechts gelangte Tolstoj schließlich
zu einem Kulturnihilismus. Er leugnete den Fortschritt, den Wert von Kunst
und Wissenschaft, bekämpfte jede politische, soziale und kirchliche
Organisation, was dazu führte, dass er 1901 er
aus der Kirche ausgestoßen wurde. In seinem
»Ein Aufruf an die Menschheit« versucht Tolstoj anarchistisches Gedankengut mit urchristlichen Prinzipien zu integrieren
und zu popularisieren. Mit den Tolstojanern, einer
sektenartige Gruppierung von Anhängern, die seine Lehre verkündigte,
konnte er sich nicht befreunden. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Die
Rettung vor dem Selbstmord (Meine Beichte
1880 – 1882)
Ich bin nach den Grundsätzen der orthodoxen, christlichen Kirche getauft
und erzogen worden. Man lehrte mich diese Grundsätze in den ersten Jahren
meines Lebens während meiner Kindheit und meines reiferen Jünglingsalters.
Aber als ich achtzehn Jahr alt war und zwei Jahre die Universität besucht
hatte, glaubte ich schon nicht mehr an das, was man mich gelehrt hatte. ...
In dieser Weise lebte ich 15 Jahre dahin.
Inzwischen fing ich aus Eitelkeit, aus Begehrlichkeit und aus Hochmut zu schriftstellern
an. Meine Schriften standen mit
meinem Leben in vollem Einklang.
Um den Ruhm und das Geld — denn dafür schrieb ich nur — zu
erwerben, mußte ich das Gute, das in mir lebte, verbergen und das Schlechte
zeigen. Und so tat ich auch.
So lebte ich denn, aber vor fünf Jahren geschah etwas Seltsames mit mir.
Zuerst waren es zeitweise Augenblicke der allgemeinen Verstörtheit, Augenblicke,
in denen das Leben so zu sagen stillstand, wo ich nicht wußte, wie ich
leben sollte, was ich tun sollte, und ich fühlte mich geistesabwesend und
verfiel in Abspannung. Aber das ging vorbei, und ich lebte dann wieder nach
wie vor wie früher.
Dann kamen diese Augenblicke der Ermattung immer häufiger und in derselben
Weise wieder.
Dieser Stillstand des Lebens kennzeichnete sich stets in den¬selben Fragen:
Weshalb? Und was dann?
In meinem Leben trat ein Stillstand ein. Ich konnte atmen, essen. trinken, schlafen,
denn ich konnte nicht nicht essen, nicht trinken, nicht schlafen; aber das eigentliche
Leben kam in mir zu keinem Ausdruck, da ich nicht den Grund meiner Wünsche
noch die Befriedigung, sie erfüllt zu sehen, fühlte.
Wenn ich etwas wollte, so wußte ich im voraus, daß es von keinerlei
Tragweite war, ob mein Wunsch erfüllt wurde oder nicht.
Wäre eine Fee gekommen und hätte mir den Vorschlag gemacht, sie wolle
meine Wünsche erfüllen, ich hätte nicht gewußt, was ich
wünschen sollte.
Wenn mir manchmal im Augenblick des Gedankenrausches. gleichsam die Erinnerung
an meine alten Hoffnungen in den Sinn kam, so wußte ich, daß dies
nur ein Selbstbetrug war, und daß ich nichts davon erwarten durfte. Ich
konnte nicht einmal wünschen, die Wahrheit kennen zu lernen, denn ich wußte
bereits, worin sie bestand.
Die Wahrheit besteht darin, daß das Leben ein Unsinn
ist.
Ich hatte gelebt, gearbeitet, vorwärts gestrebt und war an einen Abgrund
gelangt, und vor mir lag nichts als der Tod.
Und dennoch konnte ich weder stillstehen noch rückwärts schreiten,
noch die Augen schließen, um nicht zu sehen, was jenseits der Leiden lag,
und ich machte den Versuch so zu leben.
Die Fragen erschienen zuerst so lächerlich, so einfach, so kindisch. Aber
in demselben Augenblick, als ich näher an sie herantrat und sie zu lösen
versuchte, war ich sofort überzeugt, daß die Fragen nicht kindisch
oder albern, sondern daß dieselben die tiefsten und ernstesten Fragen
des Lebens seien, und zweitens, daß es mir ganz und gar unmöglich
war, sie zu lösen, mochte ich auch noch soviel darüber nachgrübeln.
Bevor ich mich mit meinem Landgute Samarra, der Erziehung meines Sohnes, der
Herausgabe eines Buches beschäftigte, mußte ich erst wissen, warum
ich das tun wollte.
Solange ich nicht wußte warum, konnte ich nichts tun, konnte ich nicht
leben. ...
Und es gibt keine Antwort darauf.
Ich fühlte, daß das Etwas, auf dem das Leben beruht, zerbrach, daß
es nichts mehr gab, an das ich mich hätte halten können, daß
das Leben, welches ich führte, schon nicht mehr bestand, und daß
ich moralisch nicht mehr leben konnte....
Da geschah, was immer eintritt, wenn eine innerliche Krankheit im Begriff ist
auszubrechen.
Zuerst erschienen unbedeutende Symptome, Unbehaglichkeiten, auf welche der Kranke
gar nicht achtet; dann wiederholen sich diese Symptome immer häufiger und
vereinigen sich schließlich zu einer fortlaufenden und beständigen
Krankheit. Das Leiden wächst, und bevor der Kranke noch Zeit hat, zur eigentlichen
Erkenntnis desselben zu gelangen, begreift er, daß das, was er für
ein Unwohlsein gehalten, für ihn das wichtigste auf der Welt, nämlich
den Tod, bedeutet. So geschah es auch mit mir.
Ich erkannte, daß es kein vorübergehendes Unbehagen, sondern etwas
sehr Ernstes sei, und daß, wenn dieselben Fragen sich immer wiederholten,
man auch darauf antworten müsse.
Des Todes Schrecken, vollständige Öde und Leere lag vor mir. So geschah
es, daß ich, der wohlhabende und glückliche Mann, fühlte, ich
könne nicht mehr leben.
Ich strebte mit allen meinen Kräften danach, mich
des Lebens zu entledigen.
Der Gedanke des Selbstmords kam mir ebenso natürlich,
wie mir früher der, mein Leben besser zu gestalten, gekommen war.
Dieser Gedanke war so verführerisch, daß
ich gegen mich selbst List anwenden mußte, um ihn nicht allzu hastig zur
Ausführung zu bringen. Ich wollte mich nicht beeilen, einzig und allein,
weil ich in meiner Seele klar sehen wollte; wenn mir das gelang, war es noch
immer Zeit. ...
Dies geschah in einem Augenblick, wo mir alles zu Gebote stand, was vielleicht
als das vollkommenste Glück betrachtet werden kann; ich war noch nicht
50 Jahre alt; ich hatte ein gutes, geliebtes Weib, das mich ebenfalls liebte;
gute Kinder, ein großes Vermögen, das sich ohne irgend welche Bemühungen
von meiner Seite vermehrte. Ich wurde von meinen Nächsten und meinen Bekannten
mehr geachtet, als ich es je gewesen war, ich wurde von den Fremden mit Lobeserhebungen
überschüttet und konnte ohne Übertreibung glauben, daß
mein Name berühmt geworden sei. Dabei war ich nicht etwa toll oder physisch
krank. Im Gegenteil, ich besaß eine moralische und physische Kraft, die
ich unter den Leuten meines Alters nie angetroffen habe. Was die physische Kraft
anbelangt, so konnte ich ebenso gut mähen wie die Bauern. Geistig konnte
ich 8 Stunden hintereinander arbeiten, ohne irgend welche störende Folgen
einer solchen Anstrengung zu verspüren.
Und in diesem Zustand gelangte ich zu der Überzeugung, daß ich nicht
mehr leben könne; und da ich Furcht vor dem
Tode empfand, so mußte ich listig zu
Werke gehen, um mich nicht zu töten.
Aber das ist noch nicht alles. Hätte ich einfach eingesehen, daß
das Leben keinen Sinn hat, ich hätte es ganz ruhig wissen können,
ich hätte wissen können, daß das eben mein Schicksal ist. Aber
ich konnte mich damit nicht beruhigen. Wäre ich in der Lage eines Mannes
gewesen, der sich in einem Walde befindet, der, wie er weiß, ohne Ausgang
ist, ich hätte leben können; ich aber war wie ein Mann, der sich in
einem Walde verirrt hat und nun nach allen Seiten läuft, um den Ausgang
zu finden; er weiß, daß er bei jedem Schritt immer tiefer in die
Irre hineinläuft, und dennoch kann er sieh nicht enthalten, überall
nach einem Ausgang zu suchen.
Das war entsetzlich.
Meine Frage, die mich mit fünfzig Jahren zum Selbstmord
trieb, war höchst einfach; sie ruht in der Seele jedes Menschen,
vom einfältigen Kinde bis zum weisesten Greise; ohne sie ist das Leben
unmöglich, wie ich es selbst an mir erprobt habe.
Sie lautet so:
Was folgt aus dem, was ich heute tue? aus dem, was ich
morgen tun werde? Was folgt aus meinem ganzen Leben?
Man kann die Frage auch so stellen:
Warum soll ich leben? warum soll ich etwas tun?
Oder auch so:
Gibt es in der Welt ein Ziel, das nicht durch den unvermeidlichen
Tod, der meiner wartet, vernichtet wird?...
Alle diese Zweifel, welche ich heute mehr oder weniger zu wiederholen im Stande
bin, ich hätte sie damals nicht formulieren können. Ich fühlte
nur, daß sich trotz aller Logik meiner Schlüsse auf die Nutzlosigkeit
des Lebens, die von den größten Denkern bestätigt wurden, irgend
etwas Falsches eingeschlichen haben mußte.
Lag es in der Schlußfolgerung selbst, in der Form der Frage? Ich wußte
es nicht, ich fühlte nur, daß meine Intelligenz und meine Überzeugung
vollkommen waren, daß sie aber doch nicht genügten.
Ich sträubte mich lange närrischer Weise, und diese Torheit ist besonders
uns freien und aufgeklärten Menschen eigen. Vielleicht geschah es aufgrund
dieser sonderbaren Vorliebe, welche ich für das wirkliche Volk der Arbeiter
empfinde, daß ich genötigt war zu begreifen und zu sehen, daß
dieses Volk nicht so dumm ist, wie wir glauben; und es geschah ferner, dank
dieser Aufrichtigkeit meiner Überzeugung, daß es besser sei, als
mich zu hängen, ich, wenn ich leben wollte und die Bedeutung des Lebens
begreifen, diese Bedeutung suchen mußte. Ich suchte diese Bedeutung nicht
bei denen, die sich schon verloren hatten und sich töten wollten, nein,
bei den Millionen von Menschen, die gelebt haben und noch leben. Und nun betrachtete
ich die ungeheure Masse einfacher, unwissender und wenig begüterter Menschen,
die leben — und gelebt haben — und ich konstatierte ganz etwas anderes.
Ich sah, daß alle diese Milliarden von Menschen, die noch leben oder gelebt
haben. ich sah, daß alle, mit nur sehr, sehr seltenen Ausnahmen. unter
die, von denen ich eben gesprochen, rangiert werden konnten; es war mir unmöglich,
anzunehmen, sie verständen die Frage nicht, da ja gerade sie dieselbe aufwerfen
und mit wunderbarer Klarheit darauf antworteten.
Sie halten den Selbstmord für ein ungeheures Übel.
— Daraus folgt, meiner Ansicht nach, daß die Menschheit irgendeine
Kenntnis von der Bedeutung des Lebens hatte, die ich nicht zugestand
und die ich verachtete. Daraus folgte, daß, da die grübelnde Wissenschaft
mir nicht allein die Bedeutung des Lebens nicht erklärte, sondern sie sogar
ausschloß, während Milliarden von Menschen ihr eine Bedeutung gaben,
daraus folgt, daß die ganze Menschheit auf irgend einem falschen und verachtungswerten
Wissen gegründet war.
Also, sagte ich mir, die Vernunft in Gestalt des Gelehrten und Weisen leugnet
das Leben und die Bedeutung des Lebens:
während die ungeheuren Massen von Menschen — die ganze Menschheit
— ihr diese Bedeutung in einem allerdings abgeschmackten Wissen zuerkennen.
Und dieses abgeschmackte Wissen ruht auf demselben Glauben, den ich nicht abzuschütteln
vermag: Gott und die Dreifaltigkeit, die Schöpfung
in sechs Tagen, die Dämonen und Engel.
Meine Lage war entsetzlich. Ich wußte, daß ich auf dem Wege der
grübelnden Wissenschaft nichts finden würde, außer der Verleugnung
des Lebens; noch weniger im Glauben, außer der Verleugnung der Vernunft,
die noch weniger möglich ist, als die des Lebens. Daraus ging also wieder
hervor, daß das Leben ein Übel ist.
Die Menschen wissen das also, es hängt von ihnen ab, nicht zu leben, und
doch haben sie gelebt, sie leben, und ich selbst lebe ja, obwohl ich seit langer
Zeit weiß, daß das Leben ein Unsinn, daß
es ein Übel ist.
Nun, der Glaube sagt mir, daß ich, um die Bedeutung
des Lebens zu begreifen, auf die Vernunft verzichten muß, auf dieselbe
Vernunft, für welche die Bedeutung des Lebens notwendig ist. ...
Nachdem ich dies erkannt hatte, erkannte ich auch, daß man in der intellektuellen
Betrachtung die Antwort auf meine Frage nicht suchen könnte, und daß
die von dieser Betrachtung gegebene Antwort nichts anderes ist als die Weisung,
daß die Antwort nur dadurch gewonnen werden kann, daß man die Frage
anders stellt, das heißt, daß man die Beziehung
des Endlichen zum Unendlichen in die Frage hineinträgt. Ich sah
schließlich ein, daß trotz aller Abgeschmacktheit und Ungeheuerlichkeit
der von dem Glauben gegebenen Antworten, sie das Privilegium besitzen, in jede
Antwort die Beziehung des Endlichen zum Unendlichen hineinzutragen, ohne welche
die Antwort nicht bestehen kann.
Ich mag mir die Frage: Wie soll ich leben? in jeder möglichen Weise vorlegen
—, die Antwort lautet: durch das Gesetz Gottes!
...
Was wird Wahres aus meinem Leben hervorgehen? —
Ewige Leiden oder ewige Glückseligkeit. Welcher Sinn wird durch
den Tod nicht zerstört? Die Vereinigung mit dem unendlichen
Gott, dem Paradies.
So war ich unvermeidlich gezwungen anzuerkennen, daß unabhängig von
dem gelehrten Wissen, welches mir seinerzeit als das einzige erschien, die ganze
Menschheit noch eine andere Kenntnis besitzt, die
mit dem gelehrten Wissen gar nichts zu tun hat, nämlich den Glauben,
welcher die Möglichkeit zu leben verleiht. Der Glaube blieb für mich
ganz so töricht wie vorher, aber ich konnte nicht umhin anzuerkennen, daß
er allein der Menschheit die Antworten auf die Fragen des Lebens liefert und
infolgedessen auch die Möglichkeit zu leben.
Das Nachdenken hatte mich zu dem Geständnis von der Bedeutungslosigkeit
des Lebens geführt, welches nun keine Berechtigung mehr zu existieren
hatte, und ich wollte mich töten. Als ich
die ganze Menschheit ins Auge faßte, sah ich, daß die Menschen lebten
und dabei behaupteten, sie kennen die Bedeutung des Lebens.
Wie den anderen Menschen, so wurden auch mir durch den Glauben das Leben und
die Möglichkeit des Lebens eröffnet.
Als ich meine Augen weiter schweifen ließ, die Menschen anderer Länder,
meine Zeitgenossen, und die, welche gelebt hatten, sah, bemerkte ich immer und
ewig dasselbe.
Seit die Menschheit existiert, ist da, wo das Leben ist,
auch der Glaube, welcher die Möglichkeit zu leben verleiht, und
die hauptsächlichen Charakterzüge des Glaubens sind stets und überall
dieselben.
Wie dem auch sei, der Glaube antwortet allen, daß das Leben, wenn auch
sterblich, doch unendlich ist, und daß weder Leiden noch Entbehrungen
noch der Tod es zerstören können. Das soll heißen, daß
man nur im Glauben die Bedeutung und die Möglichkeit zu leben finden kann.
Was ist also der Glaube?...
Der Glaube ist die Kenntnis von der Bedeutung des menschlichen
Lebens, eine Kenntnis, welche es zustande bringt, dass der Mensch sich nicht
selbst vernichtet, sondern lebt.
Der Glaube ist die Kraft des Lebens.
Ohne Glauben kann man nicht leben. ...
Nun fing ich an, mich den Gläubigen unter dem Volke zu nähern, einfachen,
unwissenden Leuten, armen Pilgern, Mönchen, Sektierern, Bauern.
Der Glaube dieser Leute war auch der christliche Glaube
, es war dieselbe Lehre wie die der angeblichen Gläubigen unserer Gesellschaft.
Mit den christlichen Wahrheiten waren viele Irrtümer vermischt, aber mit
dem Unterschiede, daß die Irrtümer der Gläubigen unserer Klasse
durchaus gar nicht notwendig waren, mit ihrem Leben nicht im Einklang standen,
daß sie mit einem Wort nur epikureische Vergnügungen gewisser Art
waren, während die Irrtümer der Gläubigen aus dem Volke der Arbeiter
bis zu einem gewissen Punkt so eng mit ihrem Leben verknüpft waren, daß
man sich ihr Leben ohne diese Irrtümer gar nicht vorstellen konnte. Sie
waren eine unerläßliche Bedingung dieses Lebens.
Das ganze Leben der Gläubigen unserer Klasse stand im Widerspruch mit ihrem
Glauben, und das ganze Leben der Gläubigen unter dem Arbeitervolke war
eine Bestätigung dieser Bedeutung des Lebens, die die Kenntnis des Glaubens
verleiht.
Ich fing also an, das Leben dieser Leute zu beobachten; und je mehr ich es beobachtete,
desto klarer ward mir die Überzeugung, daß ihr Glaube ihnen notwendig
sei, und daß er allein ihnen die Bedeutung und die Möglichkeit des
Lebens verlieh.
Im Gegensatz zu dem, was ich in unsern Kreisen sah, wo das Leben ohne jeden
Glauben möglich ist, und wo ich zweifle, daß auf tausend ein einziger
sich als gläubig bekennt, gibt es auf mehrere 1000 Gläubige im Volke
wohl kaum einen einzigen Ungläubigen. Im Gegensatz zu dem, was ich in unsern
Kreisen sah, wo das ganze Leben im Müßiggang, in Vergnügen und
in Unzufriedenheit mit dem Leben vergeht, sah ich, daß das ganze Leben
dieser Leute mit harter Arbeit zugebracht wird, und daß sie zufrieden
sind.
Entgegen den Leuten unserer Gesellschaft, welche gegen die Bestimmung murren
und sich dagegen auflehnen, nehmen diese Leute Krankheiten und Kummer ohne die
geringste Auflehnung, ohne den geringsten Widerspruch entgegen, ja sie zeigen
sogar eine feste Zuversicht darauf, daß alles so sein müßte.
daß es nicht anders sein konnte, und daß all das gut war.
Je mehr wir geistig leben, desto weniger begreifen wir die Bedeutung des Lebens;
wir sehen nur einen boshaften Spaß in den Leiden des Todes, während
diese Leute leiden, leben und sich dem Tode mit Ruhe und sehr häufig mit
Freude nähern. ...
Und alle, unendlich verschieden an Charakter, Verstand, Erziehung, Stellung,
alle kannten die Bedeutung des Lebens und des Todes in derselben Art und Weise,
die in grellem Gegensatz zu meiner Unkenntnis stand.
Sie arbeiteten ruhig, erlitten die Entbehrungen und Leiden, lebten und starben,
und in all dem sahen sie das Gute. Nicht aber das Eitle und Richtige.
Und ich liebte diese Leute.
Je tiefer ich in ihr Leben eindrang, sowohl das der Lebenden wie das der Toten,
seit ich sie kennenlernte durch das, was ich las oder das, was ich von ihnen
hörte, desto mehr liebte ich sie. und desto mehr wurde es mir möglich,
ebenfalls zu leben.
So lebte ich ungefähr zwei Jahre, und im Laufe dieser zwei Jahre ging in
mir eine Veränderung vor, welche sich seit langer Zeit vorbereitete, und
für die ich stets Vorkehrungen getroffen hatte.
Es trat der Fall ein, daß mich das Leben unserer Gesellschaft —
der Gelehrten, der Reichen — anwiderte, nicht nur anwiderte. sondern auch
jede Bedeutung in meinen Augen verlor.
Alle unsere Handlungen, unsere Beratungen, unsere Wissenschaften, unsere Künste
— alles erschien mir in einem neuen Lichte.
Ich erkannte, alle diese Dinge seien ein reizender Zeitvertreib, aber man dürfe
keine tiefere Bedeutung darin suchen. während das Leben des arbeitenden
Volkes, das Leben der ganzen Menschheit, welches zur Arbeit beiträgt, mir
in seiner wahren Gestalt erschien.
Ich erkannte, daß hierin Wahrheit des Lebens liegt, daß die Bedeutung,
die man diesem Leben verleiht, die Wahrheit ist, und darum trat ich diesem Leben
bei. . . .
Ich fühlte, dass, wollte ich dieses Leben verstehen, ich leben mußte,
aber nicht das Leben des Schmarotzers und Nichtstuers, sondern das wirkliche
Leben.
Nachdem ich so die von der wirklichen Menschheit, mit der ich mich von nun an
verband, dem Leben gegebene Bedeutung in mich aufgenommen hatte, mußte
ich diese Bedeutung auch an mir selbst betätigen.
Zur selben Zeit ging folgendes mit mir vor: Während der ganzen Dauer dieses
Jahres, als ich mich fast unaufhörlich fragte, wie ein Ende machen, ob
mit Strick oder mit Kugel, während dieser ganzen Zeit, welche unausgesetzt
mit den Gedanken und Beobachtungen, von denen ich soeben gesprochen, ausgefüllt
waren, verblutete mein Herz unter einem schmerzlichen (ich kann dies Gefühl
nicht anders nennen) Forschen nach Gott.
Ich sage, dieses Forschen nach Gott war keine Gedankenarbeit,
sondern ein Gefühl, weil diese Suche nicht
Ausfluß meiner Ideen war — es war das gerade Gegenteil der Fall
—, sondern weil sie aus dem Herzen stammte.
Es war gleichsam ein Gefühl der Furcht, welches mich einer Waise vergleichbar
machte, so vereinsamt stand ich unter lauter Dingen, die mir fremd waren; dennoch
wurde dies Gefühl der Furcht durch die Hoffnung geläutert,
den Beistand irgend Jemandes zu finden.
Trotzdem war ich vollständig überzeugt, daß es
unmöglich sei, die Existenz Gottes zu beweisen.
Ich hatte mit Kant
eingesehen, daß man es nicht vermochte.
Dennoch suchte ich Gott.
Und Verzweiflung im Herzen darüber, daß es keinen Gott gäbe,
sagte ich: »Herr, vergib mir, und rette mich! Herr,
mein Gott, erleuchte mich!«
Aber Niemand erwies mir diese Gnade, und ich fühlte, daß mein moralisches
Leben stillstand. Aber mein Bewußtsein, das unaufhörlich auf dies
Problem zurückkam, sagte mir, daß ich nicht ohne einen Grund, einen
Sinn oder eine Bedeutung auf der Welt sein könne, daß ich nicht leben
könnte wie der arme Vogel, der aus dem Nest gefallen, mit dem ich mich
stets verglich.
Er liegt da auf dem Rücken und schreit nach seiner Mutter, weil er weiß,
daß seine Mutter ihn ausgebrütet, ihn gewärmt, ernährt
und geliebt hat. Aber, wo ist sie denn, diese Mutter?
Und wenn ich, wie der Vogel, verlassen bin, wer hat mich verlassen? Ich darf
mir nicht verhehlen, daß mich jemand liebend in die Welt gesetzt hat!
Wer ist also dieser Jemand?
Wieder Gott.
Er weiß und sieht meine Trostlosigkeit, mein Verzweiflung, meinen Kampf.
Er existiert, sagte ich mir.
Und ich brauche das nur für einen Augenblick anzuerkennen
und sofort erstand das Leben in mir, ich fühlte die Möglichkeit
zu leben und die Freude am Dasein.
Nun wurde alles hell in mir und um mich, und dieses Licht
verläßt mich nicht mehr.
Ich war vor dem Selbstmord gerettet. Wann und wie
diese Veränderung in mir vorging? Ich kann es nicht sagen, Ebenso unwillkürlich
und schrittweise, wie die Kraft des Lebens in mir zerstört worden war,
und ich zu der Unmöglichkeit zu leben, zu der Notwendigkeit
des Selbstmords, zur moralischen Agonie gelangt war, ganz ebenso schrittweise
und unwillkürlich wurde ich wieder Herr meiner Lebenskraft.
Und das Seltsame dabei, diese Lebenskraft, welche ich wiedererlangte, war keine
neue. Es war jene alte Kraft, welche mich seinerzeit fortgerissen, und mit ganz
jugendlichem Gefühl kehrte ich wieder zurück zum Glauben, zu jener
Willenskraft, die mich hervorgebracht, und die etwas von mir verlangte; ich
kehrte zurück zu der Ansicht, daß der hauptsächliche und einzige
Zweck meines Lebens der sei, besser zu sein, das heißt besser im Einklang
mit dieser Willenskraft zu leben, das heißt, ich kehrte zurück zu
dem Glauben an Gott, an die moralische Verbesserung und an die Tradition, welche
die Bedeutung des Lebens fortpflanzt.
Der einzige Unterschied war, daß ich damals alles das, ohne die Ursache
zu kennen, in mich aufnahm, während ich jetzt wußte, daß ich
ohne dies nicht leben könne. ...
So erwachte die Kraft zum Leben wieder in mir, und ich
fing wieder an zu leben.
Ich verzichtete auf das weltliche Leben, denn ich hatte erkannt, daß dies
nicht das Leben sei, sondern nur eine Parodie auf das Leben, und daß die
Bedingungen des Überflusses, in denen wir leben, uns hindern, das Leben
zu verstehen. In der Tat darf ich mich nicht an die Ausnahmen, an die Parasiten
des Lebens anschließen, sondern an das Leben des arbeitenden Volkes, derer,
die das Leben hervorbringen und ihm eine Bedeutung geben.
Das einfache Volk, die Arbeiter, die mich umgaben, war das russische Volk, und
an dieses wendete ich mich.
Die Bedeutung. die es mir vom Leben gibt, ist, wenn sie überhaupt ausgedrückt
werden kann, die folgende:
Jeder Mensch kommt mit dem Willen Gottes auf diese Welt.
Gott schuf den Menschen so, daß jeder Mensch seine Seele verderben oder
retten kann.
Das Ziel des Menschen im Leben ist: sein Heil zu erlangen,
darum muß er in Gott leben und, um in Gott zu leben, muß er auf
alle Genüsse des Lebens verzichten, muß arbeiten, sich erniedrigen,
leiden und barmherzig sein.
Diesen Satz übt das Volk im Glauben aus, der ihm von den Priestern und
der Tradition überliefert worden ist.
Diese Bedeutung war mir klar und meinem Herzen teuer. Aber dabei und unzertrennlich
mit ihm verbunden, fanden sich bei unserm orthodoxen Volke, unter dem ich lebte,
viele Dinge, welche mich abstießen, mir geradezu unerklärlich erschienen:
die Sakramente, die Gottesdienste in der Kirche, die Fasten, die Anbetung der
Reliquien und der Heiligenbilder.
Das Volk kann sich von all diesen Dingen nicht trennen, und ich konnte es auch
nicht. So seltsam sie mir erschienen, huldigte auch ich ihnen, ich ging zum
Gottesdienst, verrichtete morgens und abends meine Gebete, fastete, verrichtete
meine Andacht, und zuerst widersetzte sich mein Verstand dem nicht einmal.
Was mir unmöglich erschienen war, erregte jetzt keinerlei Widerspruch in
mir.
Was der Glaube mir einstens verkündigt, war ganz verschieden von dem, was
er mir jetzt verkündigte.
Die Argumente des Glaubens erschienen mir nicht nur nicht unnütz, sondern
wieder wurde ich durch die unzweifelhafte Erfahrung zur Überzeugung gebracht,
daß diese Argumente des Glaubens einzig und allein die Bedeutung des Lebens
verbürgen.
Früher betrachtete ich sie als völlig unnütze und nicht zu entziffernde
Satzungen, während ich jetzt, selbst wenn ich sie nicht verstand, wußte,
daß sie eine Bedeutung enthielten, und mir sagte, daß ich lernen
müßte, sie zu verstehen. Ich stellte folgenden Ausspruch auf: die
Kenntnis des Glaubens hat ebenso wie die ganze menschliche Verstandskraft ihre
Quelle in einem geheimnisvollen Ursprung.
Dieser Ursprung ist Gott, der Ursprung des menschlichen Körpers ebenso
wie der seines Verstandes. ...
Ich sagte mir noch: Jede Glaubenslehre besteht darin, dass sie die Bedeutung
vom Leben entwirft, die vom Tode nicht zerstört wird. ...
Ich wünschte, mit aller meiner Seele im Stande zu sein, mich mit dem Volke
für seine Glaubenszeremonien zu vereinigen, aber ich konnte das nicht.
Ich fühlte, ich würde mich selbst belügen, ich würde mich
lustig machen über das, was mir geheiligt schien, wenn ich es täte.
Hier kamen mir unsere neuen theologischen russischen Werke zur Hilfe.
Nach diesen Theologen ist das Grunddogma des Glaubens die Unfehlbarkeit der
Kirche. Die Wahrheit alles dessen, was die Kirche bekennt, ist die unvermeidliche
Folge der Anerkennung dieses Dogmas.
Die Kirche, als Vereinigung der in Liebe vereinigten Gläubigen, und als
solche die Besitzerin der wirklichen Wissenschaft, diese Kirche wurde die Basis
meines Glaubens. ...
Ich beteiligte mich an den Zeremonien der Kirche, und dabei legte ich meinem
Verstande Zügel an, ich unterwarf mich der Tradition, an der die ganze
Menschheit festhielt; ich vereinigte mich mit meinen Großeltern, mit denen,
die ich liebte, meinem Vater, meiner Mutter. Sie und alle die, welche vorher
gelebt hatten, glaubten und liebten, sie hatten mich erzeugt. Ich vereinigte
mich auch mit dem Millionen umfassenden Volke, das ich achtete.
Ich zweifelte nicht mehr und war vollkommen überzeugt, daß in der
Doktrin des Glaubens, dem ich mich angeschlossen hatte, nicht alles Wahrheit
sei.
Früher hätte ich gesagt, die ganze Lehre sei falsch, aber jetzt konnte
ich das nicht mehr.
Das ganze Volk hatte die Kenntnis der Wahrheit, da es sonst. das stand außer
jedem Zweifel, da es sonst nicht hätte leben können. Außerdem
war mir diese Kenntnis der Wahrheit von nun an zugänglich, ich lebte bereits
darin und fühlte die ganze Wahrhaftigkeit derselben; aber auch in diesem
Wissen lag Lüge. Und daran konnte ich nicht zweifeln. Alles was mich sonst
zurückgestoßen, stand jetzt lebhaft vor meinem Geiste. Obwohl ich
sah, daß in den Lehren des gesamten Volkes weniger Lug und Trug lag als
in der Doktrin der Kirchenlehren, so sah ich doch, daß auch in die Ansicht
des Volkes die Lüge sich eingedrängt hatte.
Aber woher kam die Lüge und woher kam die Wahrheit?
Die Lüge wie die Wahrheit werden uns durch die Kirche oder vielmehr
das, was man die Kirche nennt, überliefert.
Die Lüge wie die Wahrheit sind in der Tradition enthalten, in dem, was
man die heilige Überlieferung nennt, in der Heiligen Schrift.
Und wider meinen Willen vertiefte ich mich in das Studium dieser heiligen Schrift,
ein Studium, vor dem ich bis dahin große Furcht gehabt hatte. Ich machte
mich an das Studium derselben Theologie, die ich bereits einmal mit so großer
Verachtung als bedeutungslos verworfen hatte. Damals schien mir alles ein fortlaufender
Unsinn und Torheit zu sein, damals umgaben mich auf allen Seiten die Erscheinungen
des Lebens, welche mir klar und bedeutungsvoll erschienen.
In dieser Doktrin, und davon unzertrennlich, klammert sich die einzige Kenntnis,
die mir offen stand, und sie war meine einzige Hoffnung
auf Rettung.
Ich will keine Erklärung für alles suchen; ich weiß, daß
die Erklärung für alle Dinge ebenso wie der
Anfang aller Dinge im Unendlichen liegen muß. Aber ich will zu
verstehen suchen, daß ich dazu gelange; ich will, daß alles, was
nicht auszudrücken ist, auch so bleibt, nicht weil die Forderungen meines
Geistes unberechtigt sind (sie sind berechtigt und ich kann nichts verstehen,
was außer ihrem Bereiche liegt), sondern weil ich die
Grenzen meines Geistes sehe.
Ich will zu begreifen suchen, daß jede unnatürliche These mir als
eine absolute Notwendigkeit meiner Vernunft und nicht als eine Verpflichtung
zu glauben, erscheint. Mag Wahrheit in der Doktrin liegen,
ich zweifle nicht daran; aber es steht außer jedem Zweifel, daß
auch Lüge mit unterläuft, und ich muß das Wahre und Falsche
finden und eins vom andern trennen. Und diesen Versuch will ich unternehmen.
Was ich Falsches in dieser Doktrin gefunden, und zu welchen Resultaten ich gelangt
bin, das sollen die anderen Teile dieses Werkes sagen, welches wahrscheinlich
der drucken wird, der es für notwendig erachten und beurteilen wird, ob
das Werk der Mühe auch verlohnt.
Aus: Leo Tolstoj, Meine Beichte. Deutsch von Wilhelm
Lilienthal. Berlin 1901
Aus dem
Tagebuch 1895 – 1898
Tod
13. Februar 1896. Moskau
Ach, würden wir doch keinen Augenblick den Tod
vergessen, den Tod, in den wir in jedem Nu hinabgleiten können! Würden
wir doch daran denken, daß wir nicht auf ebener Fläche stehen
(sonst glauben wir, der Dahingegangene sei abgestürzt, und wir selbst fürchten,
ebenso abzustürzen) — würden wir doch daran denken, daß
wir rollen; unaufhörlich rollen wir, mit den anderen zusammenstoßend,
bald die anderen einholend, bald von den anderen eingeholt, dahin, hinter jenen
Vorhang, der die Dahingegangenen vor uns verbirgt und uns selbst den Zurückgebliebenen
verbergen wird. Würden wir stets daran denken, so könnte man leicht
und freudig leben und gemeinsam dahinrollen, dieselbe schiefe Bahn hinab, in
der Macht desselben Gottes,
der über uns war, ist und sein wird, nach uns und ewig.
Das alles fühlte ich sehr lebhaft. —
Es gibt keinen überzeugenderen Beweis für die
Existenz Gottes als die
Eigenschaft unserer Seele, wonach wir uns in andere
Geschöpfe einfühlen können. Aus dieser Eigenschaft folgt
sowohl die Liebe wie die Vernunft. Das eine wie das andere ist nicht in uns,
sondern außerhalb von uns, wir stimmen nur mit ihnen überein. (Unklar.)
—
12. Juni 1898. Jasnaja Poljana
Der Tod ist der Übergang
von dem einen Bewußtsein in ein anderes, von einer Welteinstellung
zu einer anderen. Es ist wie ein Dekorationswechsel. Im Moment
des Überganges wird ersichtlich, daß das, was wir für
die Wirklichkeit gehalten haben, nur eine Vorstellung
ist, da wir selbst von der einen Vorstellung zu einer anderen übergehen.
Während des Überganges sieht man oder ahnt man wenigstens das wirklich
Reale. Das macht den Augenblick des Sterbens wertvoll
und wichtig. —
Das universelle Bewußtsein, Gott, kennt keine
Materie. Materie existiert lediglich für die voneinander gesonderten Wesen.
Die Grenze der Teilung ist das, was wir Materie nennen, mit allen ihren endlosen
Formen. —
Man kann sich nicht eindringlich genug vorhalten, daß das Leben
aller Wesen beständige Bewegung ist. Fast unser ganzes Unglück
kommt daher, daß wir es verkennen oder vergessen. Da wir uns einbilden,
daß wir nicht vorwärtsgehen, sondern stehen, so greifen wir nach
den Wesen, die sich neben uns und schneller oder langsamer als wir bewegen,
greifen nach ihnen und halten uns an ihnen fest, bis wir von der Kraft der Bewegung
auseinandergerissen werden. Und so leiden wir. —
Wir rollen alle eine schiefe, immer mehr sinkende Ebene hinab. Jeder Versuch,
sich an einer Stelle festzuhalten, beschleunigt den Sturz um so mehr, je länger
der Aufenthalt währte. —
Wir sind gesandt, diese schräge Bahn zu durchwandern und das uns
gegebene Licht ihr entlang zu tragen. Alles, was
wir tun können, ist; unterwegs beim Tragen des Lichtes einander zu helfen;
aber wir hemmen einander, stoßen aufeinander, löschen unser Licht
und das der anderen. (Boshaft, nicht zutreffend.)
S. 180ff.
Selbstmord
13. Februar 1896. Moskau
Die Möglichkeit, sich selbst zu töten, ist eine den Menschen gegebene
Freiheit. Gott
wollte in diesem Leben keine Sklaven, sondern freie
Arbeiter. Wenn du in diesem Leben bleibst, so heißt das, daß
die Bedingungen dir passen; dann arbeite auch. Wenn du dich aber durch freiwilligen
Tod diesen Bedingungen entziehst, so werden sie dir dort, wohin du gehst, wieder
bevorstehen. Man kann also der auferlegten Arbeit nicht
entrinnen.
Wie gut wäre es, wenn man die Erlebnisse eines Menschen
schildern könnte, der in seinem früheren Leben sich selbst getötet
hat. Er stößt stets auf dieselben Anforderungen, die ihm früher
entgegenstanden und so gelangt er zum Bewußtsein, er müsse diese
Anforderungen erfüllen. Durch die Erfahrung belehrt, wird dieser Mensch
vernünftiger sein als die anderen. S.16ff.
Seele
13. Februar 1896. Moskau
Es gibt keinen überzeugenderen Beweis für die Existenz
Gottes als die Eigenschaft unserer Seele, wonach wir uns in andere Geschöpfe
einfühlen können. Aus dieser Eigenschaft
folgt sowohl die Liebe wie die Vernunft. Das eine wie das andere ist nicht in
uns, sondern außerhalb von uns, wir stimmen nur mit ihnen überein.
(Unklar.) — S.16
16. Oktober 1897. Jasnaja Poljana.
Ich habe viel Erwägungen und Regeln aufgeschrieben, denen man nur zu folgen
braucht, um ein gutes Leben zu führen. Aber es sind zuviel Regeln, und
man kann nicht stets aller eingedenk sein. Genau so steht es mit der Nachahmung
in der Kunst: man hat viel zu viel Regeln und kann sie nicht alle behalten;
das Echte muß von innen kommen, vom Gefühl geleitet werden. So geht
es auch im Leben. Wer vom Gefühl durchdrungen ist, der lebt in Gott, der
weicht von keiner Regel ab und tut mehr als die Regeln fordern. In diesem Zustande
müßte man immer verbleiben.
Und heute gerade war ich schlecht aufgelegt, alles ärgerte mich. Was heißt
das? Wie soll ich mir diesen Zustand erklären?
Mir schwebt diese Erklärung vor: die Seele, die geistige Wesenheit kann
in ihrem Zentrum oder an ihren Grenzen leben. Während
sie in sich lebt, kennt sie keine Grenzen; lebt sie aber in der Peripherie,
so empfindet sie fortwährend und schmerzlich die Grenzen. Die Rettung
vor diesem Zustande ist: einsehen, daß die materielle Welt illusorisch
ist, sich von den Grenzen fern halten, sich in sich sammeln. (Unklar.)
S.122f.
29. Dezember 1897. Moskau
Die Spiritisten behaupten, die Seelen der Menschen leben nach dem Tode weiter
und verkehrten mit uns. Ich weiß noch, wie der Historiker
Solowjew behauptete, dies sei nichts anderes als der Kirchenglaube an
die Heiligen, an ihre Fürsprache und die Wirkung unserer Gebete an sie.
E. J. hat auch recht, wenn er sagt, daß das Sektentum, das Paschkow
gegründet hat, nur eine Absonderung des Sühnedogmas sei, von
dem aus dann alles andere angesehen werde, genau so wie im Spiritismus
das Dogma der Heiligen gesondert und ihm alles andere angepaßt wurde.
Ich aber spreche vom Dogma der
Seele und meine folgendes. Seele nennen wir das
Göttliche, Geistige, das in uns durch unseren
Körper Abgegrenzte. Nur der Körper begrenzt
dieses Göttlich-Geistige. Die
Begrenzung verleiht dem Körper die Form, wie das Gefäß die Form
der Flüssigkeit oder des in ihm enthaltenen Gases bestimmt. Wir aber keimen
nur diese Form. Zerschlage das Gefäß — und sein Inhalt verliert
seine jetzige Form und zerfließt, zerstreut sich. Ob der Stoff sich mit
anderen Stoffen vereinigt und eine neue Form erhält,
das wissen wir nicht, aber wir wissen mit Bestimmtheit,
daß er die Form verliert, die er durch die Begrenzung hatte, denn
das Begrenzende ist zerstört. So ist es auch mit der Seele. Nach dem Tode
hört die Seele auf, Seele zu sein, bleibt aber Geist,
göttliche Substanz und wird so etwas anderes, etwas, worüber
wir nicht urteilen können. S.142f.
Gut
und Böse
12. Juni 1898. Jasnaja Poljana
Widerstehe nicht dem Bösen — das ist
nicht allein deshalb wichtig, weil der Mensch in seinem eigenen Interesse, zur
Erreichung der Vollkommenheit in der Liebe so handeln muß, sondern auch
deshalb, weil der Nichtwiderstand allein das Böse
abschneidet, es aufsaugt, neutralisiert, es in seiner Bewegung aufhält,
die wie bei elastischen Kugeln sich unvermeidlich weiter ausbreitet, wenn keine
Gegenkraft sie auslöscht. Das aktive Christentum heißt nicht: etwas
Neues schaffen, erzeugen, sondern: das Böse verzehren.
S. 180
17. Mai 1896. Jasnaja Poljana
Der Wunsch nach dem Guten ist nicht
Gott, sondern eine
seiner Manifestationen, eine Seite, in der wir Gott
erblicken. Gott offenbart
sich in mir, indem ich das Gute
suche. S.
31
Der
göttliche Strom der Liebe
17. Mai 1896. Jasnaja Poljana
Dieser im Menschen eingeschlossene Gott
sucht sich zu befreien zunächst durch Erweiterung, Vergrößerung
des Geschöpf es, in dem er eingeschlossen ist; da er aber auf die unüberschreitbaren
Grenzen des Einzelwesens stößt, sucht er sich so zu befreien, daß
er die Einzelperson verläßt und alle anderen Geschöpfe umfaßt.
Das mit Vernunft begabte Geschöpf beschränkt sich nicht auf ein persönliches
Leben und strebt danach, sich davon zu befreien, sobald es zur Vernunft gelangt.
Das Christentum eröffnet dem Menschen, dass das Wesen seines Lebens nicht
seine Individualexistenz ist, sondern Gott, der ihm innewohnt.
Zur Erkenntnis Gottes gelangt der Mensch durch Vernunft und Liebe ...
Wesentlich ist, daß das Streben nach persönlichem Wohl, die Liebe
zum eigenen Ich, nur solange im Menschen herrschen kann, als seine Vernunft
schläft. Sobald aber seine Vernunft erwacht ist, wird dem Menschen klar,
daß dieses Streben eitel sei; denn es ist für das einzelne und sterbliche
Geschöpf unerreichbar. Die Vernunft kennt nur ein Streben, das nach dem
Guten für die Gesamtheit; denn nur so tritt an Stelle des Kampfes Gemeinschaft
und an Stelle des Todes Lebensübertragung. Gott ist
nicht Liebe, offenbart sich aber in den lebenden unvernünftigen Wesen als
Liebe zur eigenen Person (Egoismus), in den lebenden
vernünftigen Wesen aber als Liebe zur Gesamtheit
(Altruismus).
S.31f. […]
Die im Menschen eingeschlossene und von der Vernunft befreite Liebe äußert
sich zweifach: durch ihre Ausdehnung und in der Aufrichtung des Reiches Gottes.
Sie ist wie der Dampf, der Arbeit leistet, indem er sich ausdehnt. —
In der letzten Zeit empfinde ich so viel Kraft und Festigkeit — nicht
aus mir selbst, sondern durch die Tat Gottes, Dem ich dienen will — daß
mich die Erregung, Vorwürfe und Hohn über Menschen, die dem Werke
Gottes fern sind, nur als seltsam berühren: sie tun mir leid, sie rühren
mich. —
Die unbewußt lebende Welt und der Mensch in seiner Kindheit tun das Werk
Gottes unbewußt. Zum Bewußtsein erwacht, tut der Mensch dasselbe
bewußt. Geraten die beiden Prinzipien in Konflikt, so soll der Mensch
wissen, daß das Unbewußte in das Bewußte übergeht und
übergehen wird, und nicht umgekehrt. Man soll sich daher der Zukunft hingeben
und nicht der Vergangenheit (Dumm).
Ein Mensch, der zum Bewußtsein erwacht ist und dennoch sein Ich im Individuum
weiter sieht, begeht den Irrtum, daß er das Werkzeug mit seinem Ich verwechselt.
Empfinden wir Schmerz beim Übertreten der Gesetze unserer Einzelexistenz,
so ist es dasselbe, als wenn wir den Schlag auf das Werkzeug empfinden, mit
dem wir arbeiten. Das Werkzeug soll geschont, geschliffen werden, es darf aber
mit uns selbst nicht identifiziert werden. —
Gott selbst ist ökonomisch. Er muß alles mit
Liebe tränken. So hat Er im Menschen allein die Liebe gezündet
und überließ es ihm, alles übrige zu zünden. Nichts verändert
so unsere religiöse Weltauffassung als die Gedanken, die wir uns vom Weltall
machen. Hat die Welt einen Anfang und ein Ende, wie man im Altertum dachte;
oder ist die Welt endlos, wie man es jetzt annimmt? Denkt man sich die Welt
endlich, so kann man
dem sterblichen einzelnen Menschen noch eine vernünftige Rolle zuerkennen;
in einer unendlichen
Welt hat das Leben dieser Einzelexistenz keinen Sinn. —
Wer ein völlig geistiges Leben führt, dem wird das Leben auf Erden
so uninteressant und schwer, daß es ihm leicht fällt daraus zu scheiden.
— S.40f.
28. November 1897 . Jasnaja Poljana
Alle Plage und Qual kommt daher, daß man in einer bestimmten Richtung
schwimmen will. Aber daneben fließt stets, nah und
unaufhörlich, der göttliche und unendliche
Strom der Liebe, immer in einer und derselben Richtung. Wenn du bei deinen
Versuchen, etwas für dich selbst zu tun, deine Person zu retten, zu sichern,
erlahmst — dann laß von deiner Richtung ab, stürz dich in jenen
Strom, und er wird dich tragen. Dann wirst du fühlen, daß die Grenzen
weichen, und du bist gesichert und frei und selig in aller Ewigkeit. —
Nur nicht sein eigenes Ich, seinen Lew Nikolajewitsch
Tolstoi lieben — so wirst du Gott lieben und die Menschen. Du bist
entzündet und mußt brennen, und im Brennen wirst du die anderen anzünden
und mit der anderen Flamme verschmelzen. Nur sein eigenes
Selbst lieben, heißt: sein eigenes Licht
sparen und die Flamme auslöschen. —
Wenn dir jemand eine offensichtliche Unwahrheit oder Beschimpfung sagt, so tut
er es gewiß nicht aus Vergnügen: sowohl das eine wie das andere fällt
sehr schwer. Tut das der Mensch dennoch, so kann er wohl nicht anders und er
leidet selbst dabei. Aber anstatt ihn zu bedauern, zürnst du ihm. Du sollst
ihm im Gegenteil helfen. — S.130
Beten?
19. Juli 1896. Jasnaja Poljana
Beten? Man sagt, Beten sei notwendig, man brauche
die Rührung, die der Gottesdienst mit seinem Gesang, den Zeremonien der
Litanei und der Heiligenbilder in uns hervorrufe. Aber
was ist das Gebet? Vereinigung mit Gott, Erkenntnis meines Verhältnisses
zu Gott, gehobener Seelenzustand. Aber wieso kann dieser Seelenzustand
durch eine Einwirkung auf unsere Sinnesorgane erzeugt, durch Beeinflussung unserer
niedrigsten Funktionen hervorgerufen werden? Ist es nicht viel wahrscheinlicher,
daß der Zustand des Gebetes nur in seltenen, besonderen Momenten erreicht
werden kann, und zwar nur in der Einsamkeit, wie
es Christus gesagt hat? Nicht im Sturm erblickte
Elias Gott, sondern im sanften
Säuseln des Windes. S.48f.
2. Dezember 1897. Jasnaja Poljana
Mir war sehr schwer zumute aus lauter Angst vor Aufregung und schlimmen Zusammenstößen,
und ich betete zu Gott — ich betete fast ohne Hilfe zu erwarten, aber
betete doch: »Herr, hilf mir heraus. Erlöse
mich«. So betete ich, dann stand ich auf, ging bis ans Ende des
Zimmers, und auf einmal fragte ich mich: Sollte ich nicht
nachgeben? Ja, gewiß, nachgeben. So hatte mir Gott geholfen, der
Gott, der in mir ist, und mir wurde leicht und
fest. Ich trat in jenen göttlichen Strom, der stets
neben uns fließt und dem wir uns stets hingeben sollen, wenn es
uns schlecht geht. – S.133
3. August 1898. Pirogowo
Ich bete zu Gott, Er möge mich vom Leid erlösen, das mich
quält. Aber dieses Leid ist mir von Gott geschickt, um mich vom
Bösen zu erlösen. So
peitscht der Wirt das Vieh, um, es aus dem brennenden Hof hinauszujagen
und zu retten, während das Vieh betet, es möge von der Peitsche verschont
bleiben.
S. 195
Was
ist das Leben?
10. Oktober 1896.
Jasnaja Poljana
Die Menschen glauben, daß ihr Leben im Körper sei, daß das
Leben aus den Vorgängen des Körpers bestehe, wie Atmen, Ernährung,
Blutkreislauf usw. Das eine scheint unzweifelhaft zu sein: hört die Ernährung,
das Atmen, die Blutzirkulation auf, so ist auch das Leben zu Ende. Aber da hört
ja bloß das Leben des Körpers, das Leben in diesem unserem Körper
auf. . . .
In der Tat, nimmt man an, daß das Leben sich nur im Körper und infolge
der Funktionen des Körpers vollzieht, so muß mit diesen Funktionen
das Leben selbst aufhören. Aber das ist ja eine ganz willkürliche
Behauptung. Noch hat niemand bewiesen und wird es nie beweisen können,
daß das Leben ohne den Körper unmöglich bestehen kann. Das zu
behaupten ist ebenso, als ob man behaupten wollte: wenn die Sonne untergegangen
ist die Sonne zu Ende. Zunächst muß man sich
darüber klar werden, was das Leben ist. Ist Leben dasjenige, was
ich bei den anderen anfangen und aufhören sehe, oder das, was ich in mir
erkenne? Wenn das, was ich in mir erkenne Leben ist, so ist das Leben nur das
allein und kann nicht vernichtet werden. Daß in den Körpern vor meinen
Augen Prozesse ablaufen, die bei mir und den anderen an das Leben geknüpft
sind, beweist mir nur, daß das Leben vor meinem sinnlichen Wahrnehmen
verschwindet. Aber weggehen, verschwinden kann das Leben nicht, denn außer
ihm gibt es nichts in der Welt.
Die Frage ist also die: wird mein Leben vernichtet, kann es vernichtet werden?
Ist die Vernichtung des Körpers ein Zeichen für die Vernichtung des
Lebens? Um diese Frage zu beantworten, muß man zunächst entscheiden:
was ist Leben?
Das Leben ist das Bewußtsein meiner Abgesondertheit von den anderen Wesen,
der Existenz anderer Wesen und der Grenzen, die mich von ihnen trennen. Mein
Leben ist nicht an meinen Körper geknüpft. Es kann einen Körper
ohne das Bewußtsein der Abgesondertheit geben, wie bei dem Schlafenden,
dem Idioten, dem Embryo, den Epileptikern.
Ohne das Bewußtsein des Körpers kann es freilich kein Leben geben;
aber das rührt daher, daß das Leben selbst das Bewußtsein der
Abgesondertheit und der Grenzen ist. Das Bewußtsein unserer Abgesondertheit
und unserer Grenzen vollzieht sich in unserem Leben im Raume und in der Zeit;
es kann sich aber auch auf andere Weise vollziehen, so daß die Vernichtung
des Körpers noch keine Vernichtung des Lebens bedeutet.
(Unklar, auch nicht das Richtige). S.
59ff.
Wenn ich
an einen persönlichen Gott glauben würde
20. Dezember 1896. Moskau
Wenn ich an einen persönlichen Gott glauben würde, dem man Fragen
stellen könnte, so hätte ich gesagt: Warum,
wozu hat es Gott so eingerichtet, daß die
einen im Besitz der unzweifelhaften Wahrheit sind und ihr Feuer tragen, die
anderen dagegen die Wahrheit nicht begreifen und nicht annehmen wollen und können,
ja sie gar hassen?
Es ist jetzt zwei Uhr. Immer diese Schwäche. Aber ich bin im Geiste wach,
wenn ich an die Bedeutung meines Lebens denke, nicht aber an das Leben, das
ich als Leo Tolstoi verbracht habe. Herr,
steh mir bei, daß ich stets, überall Deinen Willen tue, mit Dir sei.
Nicht mein Wille geschehe, sondern der Deine. S.84
Aber
was ist dieser Gott?
5. Januar 1897 . Moskau
Die Welt ist sicher nicht so, wie wir sie wahrnehmen; sobald wir andere Werkzeuge
der Erkenntnis haben, ist auch die Welt anders.
Aber so veränderlich auch das, was wir die Welt nennen und unser Verhältnis
zu ihr sein mag, eins ist
unzweifelhaft stets unveränderlich und genau so, wie wir es kennen, nämlich
das erkennende Ich
in mir und in den anderen. Dieses erkennende Etwas
ist überall und in allem und in sich. Das ist Gott
und jenes aus irgend einem Grunde abgegrenzte Teilchen Gottes,
das unser wirkliches Ich ausmacht.
Aber was ist dieser Gott,
das heißt, das Ewige, Unendliche und Allmächtige,
das zum Sterblichen, Begrenzten und Schwachen geworden ist? Warum hat sich Gott
in sich selbst geteilt? Ich weiß es nicht, aber ich weiß,
daß es so ist, daß darin das Leben besteht. Alles, was wir kennen,
ist nichts anderes, als nur ebensolche Teilungen Gottes.
Alles, was wir als Welt erkennen, ist die Erkenntnis dieser
Teilungen. Unsere Erkenntnis der Welt (dessen,
was wir Materie im Raum und in der Zeit nennen), das ist die Berührung
der Grenzen des Göttlichen in uns mit seinen
anderen Teilungen.
Geburt und Tod sind die Übergänge von der einen Teilung zu der anderen.
—
Der Unterschied zwischen der Glückseligkeit des Christen und der des Heiden
besteht darin, daß der Heide das Glück sucht, es bereitet, erwartet
und danach verlangt, während der Christ das Reich Gottes sucht, bereitet,
erwartet und danach verlangt, und wenn das Glück kommt, es aufnimmt, wie
etwas Unerwartetes, Unverdientes, Unvorbereitetes. Aber deshalb ist dieses Glück
nicht minder. S.89f.
Die
falsche Religion
10. November 1897. Jastnaja Poljana.
Die Lage der Menschen, die von der falschen Religion betäubt sind, ist
wie beim Blinde-Kuh-Spiel: man bindet einem die Augen zu, greift ihm unter die
Achseln, dreht ihn herum und läßt ihn los. So geht es allen. Nicht
eher wird man losgelassen. (Zum Aufruf.)
Das übliche Urteil über das Christentum, besonders von
seiten der Nietzscheaner: das Christentum sei Verzicht
auf Würde, sei Schwäche und Ergebenheit. Es ist gerade umgekehrt:
das wahre Christentum verlangt vor allem höchste Würde, eine ungeheure
Kraft und Unerschütterlichkeit. Dagegen müssen
die Anbeter der Macht vor der Macht zu Kreuze kriechen. S.
123f.
»In
meines Vaters Hause sind viele Wohnungen«
17. November 1897 . Jasnaja Poljana
»In meines Vaters Hause sind viel Wohnungen«.
Dies ist nicht so gemeint, daß es verschiedene Orte
gibt, sondern, daß die Bewußtseinzustände
der Persönlichkeit verschiedenartig sind: die einen schließen
die anderen ein, verflechten sich mit den anderen. Die ganze Welt, wie ich sie
kenne, mit ihrem Raum und der Zeit ist ein Produkt meiner
Person, meines Bewußtseins. Sobald eine andere Person, ein anderes
Bewußtsein auftritt — da gibt es eine andere Welt, deren Elemente
unsere Personen bilden. Wie während meiner Kindheit in mir allmählich
das Bewußtsein aufkeimte (dies bewirkt, daß
ich mich im Kindheitszustande, ja im embryonalen Zustande noch als gesondertes
Wesen erkenne); so wird es nach meinem Tode leben,
und es keimt schon jetzt in den Folgen meines Lebens,
in meinem künftigen Ich.
»Für seinen Leib, welcher ist die Gemeinde«.
Ja, Christus lebt jetzt in seinem neuen Bewußtsein durch das Leben aller
lebenden, gestorbenen und zukünftigen Mitglieder der christlichen Gemeinde.
Und so wird auch jeder von uns durch seine Gemeinde leben. Und der Unbedeutendste
wird seine, wenn auch unbedeutende oder gar schlechte Gemeinde haben, aber eine
Gemeinde, die seinen neuen Leib bilden wird. Aber wie? Dieses »wie«
können wir uns nicht denken, denn wir vermögen uns nichts außerhalb
unseres Bewußtseins vorzustellen. Und nicht der
Wohnungen, sondern der Bewußtseinsarten gibt es viele.
Aber da erhebt sich die letzte, furchtbarste unlösbare
Frage: wozu das? Wozu diese Bewegung, der Übergang aus dem einen
niederen, privateren Bewußtsein in ein allgemeineres, höheres? Wozu?
Das ist ein Geheimnis, das wir nicht wissen können.
Da ist Gott und der Glaube an Ihn nötig. Nur Er allein weiß es, und
man muß glauben, daß das so nötig ist. – S.127f.
Lebenssinn
4. Februar 1897 . Nikolskoje, bei
den Olssufjews
Der strengste und konsequenteste Agnostiker
muß, ob er will oder nicht, Gott anerkennen.
Er muß anerkennen, daß die Existenz seiner selbst und der ganzen
Welt einen ihm unzugänglichen Sinn birgt; außerdem muß er das
Gesetz seines Lebens anerkennen, das Gesetz, dem er folgen, oder dem er sich
entziehen kann. Diese Anerkennung des höchsten,
übersinnlichen, aber ganz gewiß vorhandenen, erhabensten Lebenssinnes
und Lebensgesetzes heißt Gott und Sein Wille. Und dieser Gottesglaube
ist viel fester als der Glaube an den Gott-Schöpfer, die Dreieinigkeit,
die Sühne usw. So glauben heißt durch die lockere Erde bis zum Fels
graben und darauf sein Haus bauen. – S.95
3. Februar 1898 . Moskau
Es gibt nur einen Lebenssinn:
Selbstvervollkommnung, indem man seine eigene Seele bessert.
»Seid vollkommen, wie euer himmlischer Vater«.
Wenn du durch etwas bedrückt und gequält wirst, so denke daran, daß
du das Leben bist, und sofort wird dir leicht zumute werden. Und freudig. Wie
der Reiche sich freut, wenn er seinen Reichtum sammelt, so freust du dich, wenn
du in innerem Reichtum allein dein Leben versorgt
hast. Um das zu erreichen, ist kein Hindernis zu hoch. Mies, was im Leben als
Kummer und Hemmnis erscheint, wird zur breiten Stufe, die sich dir von selbst
unter die Fuße legt, damit du auf sie trittst und emporsteigst. —
Wenn du Kraft zur Tätigkeit besitzest, so soll es Kraft der Liebe sein;
bist du aber kraftlos und schwach, so soll deine Schwäche die der Liebe
sein. —
Das Anorganische ist nur das, dessen Leben wir nicht erfassen können. Für
die Flöhe ist mein Nagel das Anorganische. Genau so ist das
Böse das unfaßbare Gute. —
Gott dienen und den Menschen.
Aber wie, womit? Vielleicht ist das unmöglich? Nicht wahr:
eine Möglichkeit bietet sich dir stets: besser zu
werden. —
Der Mensch ist ein Abgesandter, wie
Christus sagte, ja ein Bote, der seinen Auftrag
zu erfüllen hat und dem es einerlei ist, was man über ihn denkt.
Man mag schlecht über ihn denken — manchmal ist das nötig, nur
der Auftrag muß ausgerichtet werden. —
Einer der landläufigsten Irrtümer besteht darin, daß man die
Menschen für gut hält, für böse, für dumm oder für
klug. Der Mensch fließt; in ihm sind alle Möglichkeiten enthalten:
er war dumm, wurde klug; war böse, wurde gut, und umgekehrt. Darin besteht
die Größe des Menschen. Daher kann man den Menschen nicht beurteilen,
wie er ist. Kaum hast du ihn beurteilt, schon ist er anders geworden. Man
darf auch nicht sagen: ich liebe ihn nicht; kaum hast du so gesprochen, schon
ist er ein anderer geworden. – S.150f.
Der
fatale Irrtum der Marxisten
3. August 1898. Pirogowo
Man möchte die Mißbräuche der Gewalt mit Hilfe der Macht beseitigen,
also wiederum durch Gewalt. Das ist, als wollte man den Rauch durch eine Feuersbrunst
vernichten. (Der Vergleich ist nicht gut.)
Man kann sich vor den Mißbräuchen schützen, sie aber nicht beseitigen, denn jede Macht ist Mißbrauch der Kraft. Das ist der umgekehrte Sinn vom Darwinschen Gesetz. Bei Darwin überlebt »the fittest«, der von den Machthabern, der der stärkste, der rücksichtsloseste, der gewissenloseste ist. Infolgedessen wird immer, wo Gewalt Macht hat, auch Mißbrauch der Gewalt sein. —
Es gibt zwei Methoden menschlichen Handelns und dementsprechend
auch zwei Arten von Menschen: die einen wenden ihre Vernunft an, um das Gute
und Böse zu erkennen
und danach zu handeln; die anderen handeln, wie es ihnen behagt, und gebrauchen
ihre Vernunft, um nachträglich zu beweisen, daß das, was sie taten,
gut, und was sie unterließen, schlecht ist. —
Es ist ganz klar, daß es am vorteilhaftesten ist, alles gemeinschaftlich
zu tun; aber die bloße Einsicht genügt da nicht. Würde die Einsicht
allein genügen, so wären die Menschen schon längst so weit. Das
Beispiel der Kapitalisten überzeugt die Menschen noch nicht. Außer
der Einsicht, daß es vorteilhaft ist, muß auch das Herz
bereit sein, gemeinschaftlich zu leben (damit die
Weltauffassung mit den Forderungen der Vernunft zusammenfalle); aber
dies ist nicht der Fall und wird es solange nicht sein, bis die Wünsche
des Herzens, also die Weltauffassung der Menschen sich gewandelt hat. —
Wenn auch. alles nach der Voraussage von Marx gegangen wäre, so würde man es doch nur mit einem Übergang der Despotie aus der einen Hand in die andere zu tun haben. Erst herrschten die Kapitalisten, dann werden die Arbeiterführer herrschen. —
Der Irrtum der Marxisten (sowohl wie der ganzen materialistischen Schule) besteht darin, daß sie nicht sehen, daß das Leben der Menschheit vom Wachstum des Bewußtseins, der Entfaltung der Religion, einer immer klarer werdenden, allgemeinen, alle Fragen befriedigenden Lebensauffassung geleitet wird, und nicht von ökonomischen Ursachen. —
Das Halbe und der Irrtum in der Marx’schen Theorie besteht in der Voraussetzung, das Kapital würde aus den Händen der Privatpersonen in die Hände der Regierung übergehen und dann von der Regierung, die aus dem Volke bestünde, in die Hände der Arbeiter. Aber Regierung und Volk ist nicht dasselbe, die Regierung besteht dann wieder aus Privatpersonen, die über die Macht verfügen und sich von den Kapitalisten zwar in mancher Hinsicht unterscheiden, in anderer aber ihnen sehr ähnlich sind. Deshalb wird keine Regierung das Kapital auf die Arbeiter übertragen. Daß die Regierung mit dem Volk identisch sei, ist eine Fiktion, eine Täuschung. Wäre es möglich, daß die Regierung in der Tat den Volkswillen verkörpere, dann bedürfte sie der Gewalt nicht mehr, und dann wäre jede Regierung überhaupt überflüssig. —
Nichts erweicht das Herz so wie das Bewußtsein der eigenen Schuld, und nichts macht das Herz so steinhart wie das Bewußtsein, man habe recht. —
Die Arbeiter sind durch die Ermangelung von Grund und Boden, durch
die Steuern, den Militärdienst und den Betrug der falschen Religion so
geknebelt, daß es für sie keinen Ausweg zu geben scheint. Die Rettung
liegt in der Wahrheit, im Predigen und Bekennen der Wahrheit. S.
191ff.
Gott
offenbart sich in uns als Bewusstsein
14. November 1898 . Jasnaja Poljana
Wenn ein Mensch das Tierische seines Wesens mit seinem Ich identifiziert, so
muß er sich auch Gott als etwas Materielles denken,
etwas, was materiell über dem Materiellen herrscht. Aber Gott ist nicht
so, Gott ist Geist, herrscht
über nichts, aber lebt in allem. —
Ich sehe, wie die Leute das Heiligenbild küssen, auf den Knien davor rutschen,
es anbeten und es fürchten, und ich sage mir: wenn man die Menschen so
betrügen kann, dann gibt es keinen Betrug, dem sie nicht verfallen würden.
—
Gott offenbart sich in uns als Bewußtsein. Solange
kein Bewußtsein da ist, ist Gott nicht da. Nur das Bewußtsein
ergibt die Möglichkeit des Guten, des Verzichts, des Dienens, der Selbstaufopferung.
Alles hängt davon ab, worauf das Bewußtsein gerichtet ist. Ein
Bewußtsein, das auf das animalische Ich gerichtet ist, tötet, paralysiert
das Leben. Ein Bewußtsein, das auf das geistige Ich gerichtet ist, regt
an, erhöht, befreit das Leben. Ein Bewußtsein, das auf das animalische
Ich gerichtet ist, stärkt und entflammt die Leidenschaft, erzeugt Furcht,
Kampf und Todesangst. Ein Bewußtsein, das auf das geistige Ich gerichtet
ist, befreit die Liebe. Das ist sehr
wichtig, und wenn ich noch am Leben bin, will ich darüber schreiben. —
Der Tod ist ein Wechsel des Bewußtseins, eine Veränderung
dessen, was ich als mein Ich erkennen kann. Und deshalb ist die Angst
vor dem Tode ein entsetzlicher Aberglaube. Das Sterben
ist ein freudiges Ereignis, mit dem das Leben schließt. Die Leiden
sind den Menschen geschickt, um sie vom Tode zurückzuhalten. Sonst würden
alle, die Leben und Tod begreifen, zum Tode streben. Nun kann man aber zum
Tod nicht anders gelangen als durch Leiden. —
Der höchste Lebensakt ist, wenn der Mensch sich seines Ichs bewußt
wird; seine Folgen sind die wohltätigsten oder furchtbarsten, je nach dem,
worauf das Bewußtsein gerichtet wird: ob auf den Körper oder den
Geist. —
Um sich von moralischen (ja sogar auch physischen) Leiden
befreien zu können, gibt es zwei Mittel: entweder man vernichtet das Objekt
des Leidens, oder man vernichtet in sich das Gefühl, das Leiden erzeugt.
Das erste ist nicht in der Macht der Menschen, wohl aber das zweite. (Ich
wiederhole Epiktet.)
—
Der moralische Fortschritt der Menschheit ist nur möglich, weil es Greise
gibt. Die alten Leute werden gütiger und weiser und übermitteln ihre
Erfahrungen den folgenden Generationen. Ohne dieses würde die Menschheit
nicht vorwärts kommen. Und wie einfach ist das Mittel!
S.204f.
Raum-Zeit-Energie-Materie
3. August 1898. Pirogowo
Das Gesetz der Erhaltung der Energie wird bewiesen;
aber die Energie ist nichts anderes als ein abstrakter Begriff — ebenso
wie die Materie. Ein abstrakter Begriff
ist aber stets sich selber gleich. Es ist genau so, als wenn wir beweisen wollten,
das Gesetz der Gravitation sei, trotz seiner scheinbaren Abweichungen, doch
überall anwendbar. (Unklar und vielleicht auch unrichtig.)
— S. 193
28. September. Jasnaja
Poljana.
Der Mensch ist ein Wesen außerhalb
der Zeit und des Raumes, er sieht sich aber in Bedingungen von Zeit und Raum
gestellt. S. 223
2. Oktober 1899. Jasnaja
Poljana.
Ich notierte: »Raum entspringt dem Bewußtsein
der Grenzen, dem Bewußtsein der eigenen Abgesondertheit: ich bin eins
und die Welt ein anderes; und in der Welt gibt es ebenso in Grenzen befindliche
Wesen: 2, 3, 4 … unendlich. Diese Wesen können nur im Raum enthalten
sein. Dem Bewußtsein der Grenzen entspringt auch die Zeit.«
Ich habe das alles von neuem überdacht und kann es so ausdrücken:
Die Abgesondertheit, die Nichtallumfassendheit unseres Ichs kommt darin zum Ausdruck, daß wir uns als einen Teil der sich bewegenden Materie erkennen. Ein Teil der Materie, die wir als unser Ich erkennen, gibt uns den Begriff des Raumes; ein Teil der Bewegung, die wir als unser Ich erkennen, gibt uns den Begriff der Zeit.
Oder anders:
Einen Teil der Materie vermögen wir uns nicht anders vorzustellen als im Raume. Einen Teil der Bewegung vermögen wir uns nicht anders vorzustellen als in der Zeit. Raum entspringt der Unmöglichkeit, sich zwei oder mehrere Gegenstände außerhalb der Zeit vorzustellen. Zeit entspringt der Unmöglichkeit, sich zwei oder mehrere Gegenstände außerhalb des Raumes vorzustellen. Raum ist die Möglichkeit, sich zwei oder mehrere Gegenstände zu gleicher Zeit vorzustellen. Zeit ist die Möglichkeit, sich zwei oder mehrere Gegenstände in einem und demselben Raume vorzustellen (der eine geht, der andere kommt).
Teilung in einem und demselben Raume außerhalb der Zeit ist unmöglich. Gäbe es keine Zeit (Bewegung), so wären alle Gegenstände unbeweglich und würden nicht viele einzelne Gegenstände darstellen, sondern einen unteilbaren, stofferfüllten Raum. Gäbe es keinen Raum, so könnte es auch keine Bewegung geben, und mein Ich wäre durch nichts von allem übrigen getrennt.
Mein Körper, den ich als mein Ich erkenne, und der
alles übrige wahrnimmt, ist ein in bestimmter Zeit
sich bewegender Teil der Materie, die einen
bestimmten Raum einnimmt.
(Nicht gut, unklar und vielleicht auch unrichtig.)
S. 223ff.
Aus: Leo Tolstoi: Tagebuch 1895 – 1898. Nach
dem geistigen Zusammenhang ausgewählt, herausgegeben und eingeleitet von
Ludwig Rubiner, Rascher Verlag Zürich, Leipzig und Stuttgart 1917
Ein Aufruf an
die Menschheit
Muss
es denn wirklich so sein?
Erster Abschnitt
Es
steht mitten auf dem Felde, von einer Mauer umgeben, eine Gusseisenfabrik mit
unaufhörlich rauchenden riesigen Essen, mit rasselnden Ketten, mit Hochöfen,
einem Anschlussgeleise und kleinen Häusern für die Beamten und Arbeiter.
In dieser Fabrik und in den dazugehörenden Bergwerken wimmeln wie Ameisen
die Arbeiter. Die einen schlagen vom Morgen bis in die Nacht oder von der Nacht
bis zum Morgen das Erz in dunklen, schmalen, feuchten, immerfort mit dem Tode
drohenden Gängen los, hundert Arschin tief unter der Erde. Die anderen
fahren im Dunkel in gebeugter Stellung das Erz oder den Lehm zum Fahrschacht,
schieben die leeren Waggons zurück, füllen sie wieder und arbeiten
so zwölf bis vierzehn Stunden täglich die ganze Woche hindurch.
So wird im Bergwerk gearbeitet; in der Fabrik selbst arbeiten die einen bei
kaum erträglicher Hitze an den Hochöfen, die anderen bei dem Abfluss
des flüssigen Erzes, die dritten – die Maschinisten, die Heizer,
die Schlosser, die Ziegelarbeiter, die Zimmerleute – in den Werkstätten,
ebenfalls zwölf bis vierzehn Stunden hindurch die ganze Woche über.
An den Sonntagen erhalten alle diese Menschen ihren Lohn, waschen sich oder
betrinken sich zuweilen auch ungewaschen in den Schänken und Wirtschaften,
die die Fabrik von allen Seiten umgeben und die Arbeiter anlocken, und gehen
dann am Montag früh wieder an dieselbe Arbeit.
Gleich neben der Fabrik pflügen die Bauern mit abgearbeiteten, hageren
Pferden ein fremdes Feld. Die Bauern sind mit dem Morgengrauen aufgestanden,
wenn sie die Nacht nicht bei ihren Pferden am Sumpf verbracht haben –
der einzige Ort, wo sie dieselben weiden lassen können. Mit dem Morgengrauen
sind sie aufgestanden, sind nach Hause geritten, haben ihre Pferde angespannt,
sich ein Stück Brot eingesteckt und sind dann ans Pflügen eines fremden
Feldes gegangen.
Andere Bauern sitzen nicht weit von der Fabrik auf der Chaussee, haben sich
aus einer Bastmatte eine Schutzwand gemacht und klopfen Steine. Die Füße
dieser Leute sind zerschlagen, die Hände mit Schwielen bedeckt, ihr ganzer
Körper ist schmutzig und nicht nur ihr Gesicht, ihr Haupt und Barthaar
auch ihre Lungen sind mit Kalkstaub gesättigt.
Nachdem sie aus einem Haufen einen ganzen Stein genommen haben, legen diese
Menschen ihn zwischen die Sohlen ihrer mit Bastschuhen und Lappen bekleideten
Füße und schlagen mit einem schweren Hammer solange auf den Stein,
bis dieser gesprungen ist. Und wenn er gesprungen ist, nehmen sie die einzelnen
Stücke und klopfen auf dieselben solange, bis auch diese zu feinem Grand
zerspringen. Dann nehmen sie wieder ganze Steine und beginnen von Anfang . .
. Und so arbeiten diese Menschen von der Sommer-Morgenröte bis zur Nacht
– fünfzehn bis sechzehn Stunden –, ruhen nur zwei Stunden am
Nachmittag aus und stärken sich zweimal am Tage, zum Frühstück
und zu Mittag, mit Brot und mit Wasser.
Da fährt an der Fabrik, an den Steinklopfern, an den pflügenden Bauern,
zerlumpte Männer und Frauen, die mit ihren Bündeln von Ort zu Ort
irren und sich durch Christi Namen ernähren, überholend, ein schellenklirrender
Wagen vorbei, bespannt mit vier gleichfarbigen Fünfwerschok-Pferden, von
denen das schlechteste den ganzen Hof eines jeden der Bauern wert ist, die jetzt
dem Gespann bewundernd nachblicken.
In dem Wagen sitzen zwei junge Mädchen, strahlend in der Farbenpracht ihrer
Sonnenschirme, Bänder und Federhüte, die teurer bezahlt worden sind,
als jenes Pferd, mit denen der Bauer das Feld pflügt. Auf dem Vordersitz
sitzt in einem frischgewaschenen Sommerrock ein Offizier, dessen Knöpfe
und Achselstücke in der Sonne blitzen, auf dem Bock ein solider Kutscher
in blauseidenen Hemdsärmeln und samtenem ärmellosen Rock. Er hat beinahe
die Pilgerinnen überfahren und einen in schmutzigem rotbraunen Hemde im
klappernden leeren Wagen vorüber fahrenden Bauern in den Graben geworfen.
»Siehst Du das nicht?« schreit der
Kutscher den nicht schnell genug ausgewichenen Bauern an, ihm die Peitsche zeigend.
Und der Bauer zieht mit der einen Hand an der Leine und nimmt mit anderen erschrocken
die Mütze vom lausigen Kopf.
Hinter dem Wagen her fahren lautlos, mit den vernickelten Teilen ihrer Maschinen
in der Sonne blitzend, zwei Radfahrer und eine Radfahrerin; sie überholen
und erschrecken die sich bekreuzigenden Pilgerinnen und lachen fröhlich.
Seitwärts längs der Chaussee reiten ein Herr auf einem englischen
Hengst und eine Dame auf einem Passgänger. Abgesehen von dem Preise der
Pferde und der Sättel, kostet schon der schwarze Hut mit dem lila Schleier
allein soviel, wie ein Steinklopfer in zwei Monaten verdient, und für die
moderne englische Reitgerte ist soviel bezahlt worden, wie für eine Woche
unterirdischer Arbeit jener Bursche erhalten wird, der da, zufrieden damit,
dass er im Bergwerk Arbeit erhalten hat, einherschreitet und die satten gestalten
der Reiter, der Pferde und des fetten, riesigen ausländischen Hundes in
teurem Halsband, der mit ausgestreckter Zunge hintendrein läuft, bewundert.
Nicht weit hinter dieser Gesellschaft fahren in einem Bauernwagen ein lächelndes
Fräulein mit Stirnlöckchen und weißer Schürze und ein dicker
rotwangiger Mann mit wohl gepflegtem Backenbart und einer Zigarette zwischen
den Zähnen, der dem Fräulein etwas ins Ohr flüstert. In dem Wagen
liegen ein Samowar, in Servietten gehüllte Pakete, eine Maschine zum Bereiten
von Gefrorenem.
Das sind die Dienstboten der vorausfahrenden Herrschaften.
Der heutige Tag ist im Leben dieser Menschen keine Ausnahme. Sie leben so den
ganzen Sommer über, unternehmen fast jeden Tag Ausflüge und haben
heute Tee, Wein und Naschwerk mitgenommen, um nicht immer an demselben Platze,
sondern auch einmal an einem neuen Orte zu essen und zu trinken.
Diese Herrschaften bestehen aus drei Familien, die auf ihren Landgütern
oder in der Sommerfrische leben. Die eine Familie ist diejenige eines Gutsherrn,
in dessen Besitz sich zweitausend Desjatinen
[alte russische Flächeneinheit, die ungefähr
einem Hektar entspricht] Land
befinden, die andere, die eines Staatsbeamten, der ein Gehalt von dreitausend
Rubel bezieht, zu der dritten Familie – der allerreichsten – gehören
die Kinder des Fabrikanten.
Alle diese Menschen sind nicht im geringsten gerührt
oder erstaunt über den Anblick all des Elends und der Sträflingsarbeit,
die sie umgeben. Sie meinen, dass dies alles so sein müsse. Etwas ganz
anderes beschäftigt sie.
»Nein, das ist unmöglich«, sagt
die Dame zu Pferde, sich nach dem Hunde umblickend. »Ich
kann das nicht ansehen!«
Und sie hält den Wagen an. Alle sprechen durcheinander französisch,
lachen und setzen den Hund in den Wagen.
Dann fahren sie weiter, die Steinklopfer und die Pilger in eine Wolke von Kalkstaub
hüllend.
Der Wagen, die Reiter und die Radfahrer sind vorbeigeflogen, wie ein Phantom
aus einer anderen Welt; die Fabrikarbeiter aber, die Steinklopfer und die pflügenden
Bauern setzen ihre schwere, eintönige, fremde Arbeit fort, die nur mit
ihrem Leben ein Ende nehmen wird.
»Es gibt noch Leute, die zu leben wissen!« denken sie, die vorbeigefahrenen
mit den Augen begleitend.
Und noch qualvoller erscheint ihnen ihre qualvolle Existenz.
Zweiter
Abschnitt
Was ist den das?
Haben vielleicht diese arbeitenden Menschen irgend ein Verbrechen begangen,
für das sie so bestraft werden?
Oder ist das das Los aller Menschen,
und haben jene, die in dem Wagen und auf den Zweirädern vorbeigefahren
sind, irgend etwas besonders wichtiges oder nützliches getan oder tun es
noch, wofür sie so belohnt werden?
Nichts weniger als das! Im Gegenteil, diejenigen, die so angestrengt arbeiten,
sind meistenteils sittliche, enthaltsame, bescheidene, fleißige Menschen;
diejenigen aber, die vorbeifuhren, sind zum größten Teil demoralisierte,
sinnliche, freche, müßige Menschen.
Und alles das ist nur so, weil eine solche Einrichtung des Lebens für natürlich
und richtig in der Welt derjenigen gilt, die von sich behaupten – entweder,
dass sie sich zur Lehre Christi von der Liebe zum Nächsten bekennen, oder
dass sie Kulturmenschen, d. h. vervollkommnete Menschen sind.
Und solche Zustände bestehen nicht nur in jenem Winkel des Tulaschen Kreises,
den ich lebhaft vor mir sehe, weil ich ihn gut kenne, sondern überall,
und nicht nur in Russland, von Petersburg bis Batum, sondern auch in Frankreich,
von Paris bis Auvergne, in Italien, von Rom bis Palermo, in Deutschland, in
Spanien, in Amerika, in Australien und sogar in Indien und in China.
Überall leben zwei oder drei von tausend Menschen so, dass sie, ohne etwas
für sich zu tun, an einem Tage das aufessen und austrinken, mit dessen
Werte Hunderte von Menschen ein Jahr lang ernährt werden könnten;
sie tragen Kleider, die Tausende kosten, wohnen in Palästen, in denen tausende
von Arbeitern Platz finden könnten, geben für ihre Launen Tausende,
Millionen von Arbeitstagen aus. Die anderen dagegen schlafen und essen nicht
genug, arbeiten über ihre Kräfte, untergraben ihre körperliche
und seelische Gesundheit zum Nutzen jener Auserwählten.
Für die einen Menschen werden, noch ehe sie geboren sind, Hebammen und
Ärzte bestellt, wird eine ganze Aussteuer bereit gehalten, Jäckchen,
Windeln mit Seidenbändern, auf Federn schaukelnde Wiegen; die anderen dagegen,
die überwältigende Mehrzahl, gebären ihre Kinder wie und wo es
kommt, ohne jede Hilfe, wickeln sie in Lumpen ein, legen sie auf Stroh in Bastwiegen
und freuen sich wenn die Kinder sterben.
Die Kinder der einen pflegen, während die Mutter neun Tage zu Bette liegt,
Hebammen, Wärterinnen, Ammen, – die Kinder der anderen pflegt niemand,
weil niemand da ist, und die Mutter selbst steht nach der Entbindung auf, heizt
den Ofen an, melkt die Kuh und wäscht zuweilen sogar die Wäsche für
sich, für den Mann, für die Kinder.
Die einen Kinder wachsen unter Spielzeug, Vergnügungen und Belehrung auf,
die anderen klettern mit nackten Bäuchen über Türschwellen, werden
von Schweinen aufgefressen oder beginnen mit fünf Jahren ihre Zwangsarbeit
zu arbeiten.
Den einen wird die ganze wissenschaftliche Weisheit, dem Kindesalter angepasst,
gelehrt; die anderen werden in den gröbsten Schimpfreden und im niedersten
Aberglauben unterrichtet.
Die einen verlieben sich, durchleben Romane und heiraten dann, wenn sie schon
alle Freuden der Liebe durchkostet haben, die anderen werden mit sechzehn bis
zwanzig Jahren verheiratet, jenachdem ihre Eltern gerade jemand gefunden haben,
der ihnen bei der Arbeit helfen kann.
Die einen essen und trinken das beste und teuerste, was es nur gibt und füttern
ihre Hunde mit Weißbrot und Fleisch; die anderen essen nur Brot mit Kwaß
und auch dass nicht soviel sie wollen, und auch kein weiches Brot, um nicht
zu viel davon zu essen.
Die einen wechseln jeden Tag, ohne sich zu beschmutzen, ihre feine Wäsche;
die anderen, die ständig fremde Arbeit verrichten, wechseln ihr grobe,
zerrissene, lausige Wäsche einmal in zwei Wochen, oder wechseln sie auch
gar nicht und tragen die Wäsche bis sie ihnen vom Leibe fällt.
Die einen schlafen auf Pfühlen und sauberen Betttüchern; die anderen
schlafen auf der Erde und decken sich mit ihren zerlumpten Röcken zu.
Die einen fahren mit satten, wohlgenährten Pferden spazieren; die anderen
arbeiten qualvoll mit ungefütterten Pferden und gehen in Geschäften
zu Fuß.
Die einen können sich nicht ausdenken, womit sie ihre müßige
Zeit füllen könnten; die anderen finden keine Zeit sich zu säubern,
zu waschen, sich auszuruhen, ein Wort zu reden, ihre Verwandten zu besuchen.
Die einen wissen alles und glauben an nichts; die anderen wissen nichts und
glauben an allen möglichen Blödsinn, der ihnen erzählt wird.
Die einen, wenn sie krank sind, trinken alle möglichen Heilquellen, werden
gepflegt und in der peinlichsten Sauberkeit gehalten, bekommen Medikamente und
reisen von Ort zu Ort, um das beste heilbringende Klima zu finden,; die anderen
legen sich in der rauchigen Hütte auf den Ofen, niemand wäscht ihnen
ihre Wunden aus, sie haben keine Nahrung außer trockenem Brot, keine Luft
außer derjenigen, die durch zehn Familienangehörige, durch Kälber
und Schafe verdorben wird, sie verfaulen lebendig und sterben vor der Zeit.
Muss denn das wirklich so sein?
Wenn es eine höhere Vernunft und eine Liebe gibt, die die Welt regieren,
wenn es einen Gott gibt, so kann er nicht gewollt haben, dass eine solche Teilung
unter den Menschen existiere, bei der die einen nicht wissen, was sie mit ihrem
Überfluss ihrer Reichtümer machen sollen und mit den Früchten
der Arbeit anderer ohne Sinn und Verstand um sich werfen, während die anderen
dahinsiechen und vor der Zeit sterben und ein Leben voll über ihre Kräfte
gehender Arbeit führen.
Wenn es einen Gott gibt, so kann und darf das nicht sein.
Wenn es aber keinen Gott gibt, so ist auch vom allereinfachsten menschlichen
Standpunkt aus eine derartige Einrichtung des Lebens, bei der die Mehrzahl der
Menschen ihr Leben hingeben muss, damit ein kleiner Teil von Menschen einen
Überfluss genießt, der diese Minderheit nur belastet und entsittlicht,
– so ist auch von dem primitivsten menschlichen Standpunkt aus eine solche
Lebensordnung unsinnig, da sie für alle unvorteilhaft ist.
Dritter
Abschnitt
Wozu also leben die Menschen so?
Man kann es begreifen, dass die reichen Menschen, die an ihren Reichtum gewöhnt
sind und nicht klar sehen, dass dieser Reichtum ihnen kein Glück verleiht,
ihre Position zu erhalten suchen.
Aber jene überwältigende Mehrheit, in deren Händen sich doch
die Macht befindet, warum lebt jene Mehrheit, während auch sie ihr Glück
im Reichtum sieht, im Elend und unterwirft sich der Minderheit?
In der Tat, warum unterwerfen sich alle diese, durch ihre Muskeln, durch ihr
Können, durch ihre Arbeitsgewohnheit starken Menschen, warum unterwirft
sich die kolossale Mehrheit der Menschen einer Handvoll von schwachen, meistenteils
zu nichts tauglichen, verzärtelten Menschen, Greisen und besonders Frauen?
Gehen wir vor den Feiertagen oder zur Zeit der »billigen Waren«
durch die Kaufläden, beispielsweise der Moskauer Passagen. Zehn oder zwölf
dieser Passagen, die aus einer ununterbrochenen Reihe prachtvoller Magazine
mit riesigen Spiegelfenstern bestehen, sind angefüllt mit den verschiedensten
teuren Gegenständen – ausschließlich zum Gebrauche der Frauen.
Da gibt es Stoffe, Kleider, Spitzen, Edelsteine, Schuhe, Zimmerschmuck, Pelzwerk
u. s. w. u. s. w.
Alle diese Dinge kosten Millionen und Millionen, alle diese Dinge wurden in
Fabriken von Arbeitern angefertigt, die oft dabei ihre Gesundheit zu Grunde
richteten, und all diese Dinge sind vollständig unnütz nicht nur für
die Arbeiter selbst, sondern auch für die reichen Männer; sie dienen
alle nur zum Vergnügen und zum Schmucke der Frauen.
An den Türen stehen zu beiden Seiten goldbetresste Portiers, und Kutscher
in reichem Kostüm sitzen auf den Böcken teurer Equipagen, die mit
Tausende von Rubeln kostenden Trabern bespannt sind. Zu der Erzeugung all dieser
luxuriösen Wagen und Geschirre sind wiederum Millionen von Arbeitstagen
verwendet worden: Arbeiter, alte und junge Männer und Frauen haben oft
ein ganzes Leben an die Herstellung dieser Gegenstände verwendet.
Und alle diese Gegenstände sind im Bereich und Besitz einiger Hunderte
von Frauen, die, nach der letzten Mode gekleidet, in Pelzjackets und Hüten,
in diesen Magazinen ein und aus gehen und alle diese nur für sie angefertigten
Gegenstände kaufen.
Ein paar hundert Frauen verfügen nach ihrem Gutdünken über die
Arbeit von Millionen von Menschen, die zu ihrer eigenen und ihrer Familien Ernährung
diese Arbeit verrichten. Von der Willkür dieser Frauen hängt das Schicksal
und Leben von Millionen von Menschen ab.
Wie ist das geschehen?
Wozu unterwerfen sich alle diese Millionen von starken Menschen, die jene Gegenstände
angefertigt haben, diesen Frauen?
Da kommt mit einem Traberpaar eine Dame in samtenem Pelz und in einem Hut der
allerletzten Mode angefahren. Alles, was sie anhat, ist das Allerneueste und
Allerteuerste. Der Portier läuft ihr entgegen, um die Schlittendecke aufzuknöpfen
und hilft ihr, sie ehrerbietig unter dem Arm stützend, aus dem Schlitten.
Sie geht durch die Passage, wie durch ihr Königreich, tritt in eines der
Magazine, kauft für fünftausend Rubel Stoff zu einem Salon, lässt
sich denselben nach Hause schicken und geht dann weiter.
Diese Frau ist böse, dumm, nicht einmal schön, hat keine Kinder geboren
und hat nie etwas in ihrem Leben für andere getan. Warum kriechen denn
vor ihr so sklavisch der Portier, der Kutscher, die Kommis? Und warum ist alles
das, woran tausende von Arbeitern gearbeitet haben, ihr Eigentum geworden?
Weil sie Geld hat.
Der Portier aber, der Kutscher, die Kommis und die Arbeiter in den Fabriken
brauchen notwendig dieses Geld, um ihre Familien zu ernähren. Dieses Geld
aber können sie am bequemsten und zuweilen auch nur dadurch allein erwerben,
dass sie als Portier, Kutscher, Kommis oder Fabrikarbeiter dienen.
Warum aber hat diese Frau das Geld?
Das Geld hat diese Frau darum, weil die Menschen, die von ihrem Land verjagt
worden und jeder anderen Arbeit als dem mechanischen Weben von Stoffen entwöhnt
worden sind, in der Fabrik des Mannes dieser Frau arbeiten; der Mann aber gibt
den Arbeitern nur soviel, wie sie zu ihrer Ernährung unumgänglich
brauchen und behält den ganzen Gewinn – mehrere Hunderttausende –
für sich; da er aber nicht weiß, was er mit dem vielen Gelde anfangen
soll, so gibt er es seiner Frau, damit sie es nach freier Lust ausgibt.
Da ist z. B. eine andere Dame, in noch reicherer Equipage und Toilette, die
in verschiedenen Magazinen unnütze Dinge einkauft.
Woher hat diese das Geld?
Diese Dame ist die Maitresse eines reichen Gutsbesitzers, dessen Vorfahren eine
alte Kaiserin zwanzigtausend Desjatinen Land geschenkt hatte für die Unzucht,
die er mit ihr getrieben hat. Diesem Gutsbesitzer gehört alles Land, das
die inmitten desselben angesiedelten Bauern umgibt und er verpachtet dieses
Land zu siebzehn Rubel die Desjatine. Die Bauern zahlen die hohe Pacht, da sie
ohne Land vor Hunger sterben würden. Und dieses Geld befindet sich in den
Händen der Maitresse und für dieses Geld kauft sie Gegenstände,
die von anderen Bauern, die man von ihrem Boden vertrieben hat, angefertigt
worden sind.
Da geht durch die Passagen noch eine dritte reiche Dame, begleitet von ihrem
Bräutigam und ihrer Mutter. Diese Dame heiratet und kauft Bronzegegenstände
und teures Service ein. Sie hat das Geld von ihrem Vater, einem hohen Staatsbeamten,
der ein Gehalt von zwölftausend Rubel bezieht. Er hat der Tochter zur Aussteuer
siebentausend Rubel gegeben. Dieses Geld ist wiederum Bauern abgenommen worden
durch Steuern und Zölle. Diese selben Steuern haben sowohl den Portier,
der die Türe öffnet (er ist ein Kalugascher
Bauer und hat zu Hause Frau und Kinder), als auch den Droschkenkutscher
(er ist ein Tulacher Bauer), mit dem die Herrschaften
gekommen sind, und noch Hunderte, Tausende und Millionen von Menschen, die als
Dienstboten oder in den Fabriken arbeiten, gezwungen, ihre Häuser zu verlassen
und die Arbeit zu verrichten, die von den Damen gewünscht wird, welche
im Besitze des Geldes sind, das für sie von den Fabrikanten, Gutsbesitzern
und Staatsbeamten auf die oben beschriebene Weise gesammelt worden sind.
So haben sich denn die Millionen von Arbeitern diesen Damen daher unterworfen,
weil ein Mensch sich der Fabrik bemächtigt hat, in der die Menschen arbeiten,
ein anderer des Landes, ein dritter jener Steuern, die von Arbeitern eingesammelt
werden.
Aus demselben Grunde geschah auch das, was ich bei der Gusseisenfabrik gesehen
habe.
Die Bauern pflügten ein fremdes Feld darum, weil sie nicht genug eigenes
Land haben und der, dem das Land gehört, ihnen zur Nutznießung des
Landes nur unter der Bedingung gestattet, dass sie für ihn arbeiten.
Die Steinklopfer klopften darum die Steine, weil sie nur durch diese Arbeit
die von ihnen verlangten Steuern bezahlen können.
In der Fabrik und im Bergwerk arbeiteten die Menschen, weil sowohl der Boden,
dem das Erz entnommen wird, als auch die Fabrik, in der es gegossen wird, nicht
ihnen gehören.
Alle diese Arbeiter verrichten schwere fremde Arbeit darum, weil die reichen
Menschen sich den Boden und die Fabriken angeeignet haben und Steuern erheben.
Vierter
Abschnitt
Warum ist denn der Eigentümer des Bodens nicht der, der denselben bearbeitet,
sondern derjenige, der überhaupt nicht arbeitet?
Warum profitieren von den Steuern, die von allen erhoben werden, eine kleine
Anzahl von Menschen und nicht die, die sie zahlen?
Warum besitzen die Fabriken nicht diejenigen, die dieselben erbaut haben und
dort arbeiten, sondern diejenigen, die sie nicht erbaut haben und nicht in ihnen
arbeiten?
Auf die Frage, warum die Nichtarbeitenden das Land der Arbeitenden sich angeeignet
haben, ist die gewöhnliche Antwort die, dass das daher komme, weil das
Land den ersteren für ihre Verdienste geschenkt worden oder von ihnen für
ihr selbst erworbenes Geld gekauft worden sei.
Auf die Frage, warum die einen Menschen, eine kleine Anzahl nichtarbeitender
Menschen, die Regierenden und ihre Gehilfen, den größten Teil des
Vermögens aller arbeitenden Menschen einsammeln und darüber nach ihrem
Gutdünken verfügen, ist die gewöhnliche Antwort die, dass die
Menschen, die von dem vom Volke erhobenen Geld profitieren, dafür das Volk
regieren und beschützen, für die Wohlfahrt des Volkes und für
die Aufrechterhaltung der Ordnung unter demselben sorgen.
Auf die Frage aber, warum reiche, nichtarbeitende Menschen die Erzeugnisse und
Werkzeuge der Arbeit der Arbeitenden besitzen, ist die Antwort die, dass diese
Erzeugnisse und Werkzeuge der Arbeit von den ersteren oder deren Vorfahren seinerzeit
erarbeitet worden sind.
Und alle diese Menschen, die Gutsbesitzer, die Staatsbeamten, die Kaufleute
und Fabrikanten, sind aufrichtig überzeugt davon, dass ihr Besitz ein vollständig
gerechter ist, dass sie ein Recht auf diesen Besitz haben.
Und doch hat weder das Grundeigentum, noch die Erhebung und Utilisierung von
Steuern, noch der Besitz von Erzeugnissen und Werkzeugen fremder Arbeit, sofern
das alles den Nichtarbeitenden zu gute kommt, die geringste Rechtfertigung.
Der Besitz des Landes durch diejenigen, die es nicht bearbeiten, ist darum ungerechtfertigt,
weil der Boden, wie das Wasser, die Luft und die Sonnenstrahlen, eine notwendige
Lebensbedingung für jeden Menschen bildet, und daher nicht das Eigentum
eines einzelnen Menschen sein kann. (Wenn der Boden und
nicht das Wasser, die Luft oder die Sonnenstrahlen zum Gegenstande des Privateigentums
geworden sind, so ist das nicht daher gekommen, weil der Boden keine ebenso
notwendige und daher nicht annektierbare Bedingung der Existenz eines jeden
Menschen ist, sondern nur darum, weil es unmöglich war, die anderen des
Wassers, der Luft und der Sonnenstrahlen zu berauben, sie aber der Benutzung
des Bodens zu berauben wohl möglich war).
Wie der Grundbesitz durch Vergewaltigung entstanden
ist (der Boden durch Eroberungen annektiert, und dann
vergeben oder verkauft), so ist er auch, trotz aller Versuche, ihn zu
einem Rechte zu machen, eine Brutalisierung des Schwachen und Unbewaffneten
durch den Starken und Bewaffneten geblieben.
Es braucht nur ein Mensch, der das Land bearbeitet, dieses eingebildete Recht
verletzen, nur anzufangen, das Land, das für das Eigentum eines anderen
gehalten wird, zu beackern, – und sofort zeigt sich das, worauf dieses
vermeintliche Recht basiert ist: zuerst in Gestalt von Polizisten und auch in
Form der Militärgewalt, der Soldaten, die diejenigen schlagen und erschießen
werden, die die Absicht hatten, ihr wirkliches Recht, sich durch die Bearbeitung
zu ernähren, zu verwirklichen.
So ist denn das, was das Recht auf Grundbesitz genannt wird nur eine Vergewaltigung
all der Menschen, die diesen Boden benutzen könnten.
Das Recht auf den Boden ist dem Rechte an der Straße ähnlich, derer
sich die Räuber bemächtigt haben, die niemand ohne ein Lösegeld
passieren lassen.
Noch weniger findet auch nur der Schein einer Berechtigung das Recht der Regierung,
gewaltsam Steuern zu erheben.
Es wird behauptet, dass die Steuern zum Schutze des Staates vor äußeren
Feinden, zur Einrichtung und Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und zur Verwaltung
aller öffentlichen Angelegenheiten verwendet werden.
Aber, erstens, gibt es schon lange mehr keine äußeren Feinde, wie
es die Regierungen sogar selbst behaupten, indem sie alle ihre Völker überreden,
dass sie nur Frieden wünschen. Der Kaiser von Deutschland wünscht
Frieden, die Französische Republik wünscht den Frieden, England wünscht
den Friedenbund dasselbe wünscht Russland. Um so mehr wünschen das
nämliche die Boeren und die Chinesen. Vor wem also muss man beschützt
werden?
Zweitens aber muss man, um sein Geld zur Verwaltung der inneren Ordnung und
der öffentlichen Angelegenheiten herzugeben, davon überzeugt sein,
dass die Menschen, die die Ordnung einführen und aufrecht erhalten sollen,
diese wirklich mit Erfolg tun werden und dass außerdem diese Ordnung eine
gute und die öffentlichen Einrichtungen wirklich solche sein werden, die
der Allgemeinheit zu Gute kommen und notwendig sind. Wenn dagegen, wie sich
das stets und überall wiederholt, diejenigen die Steuern zahlen, von dem
Können und der Ehrlichkeit derer, die die Ordnung einführen, nicht
überzeugt sind und außerdem jene Ordnung für eine schlechte
und die öffentlichen Einrichtungen für durchaus nicht den Bedürfnissen
der Steuerzahler entsprechende halten, – dann ist es offenbar, das ein
Recht zur Erhebung von Steuern nicht existiert und dass diese Erhebung nur eine
Vergewaltigung ist.
Ich entsinne mich dem Wort eines religiösen und daher wahrhaft freidenkenden
russischen Bauern. Er hielt es ebenso wie Thoreau
für gerecht, keine Steuern für Zwecke zu zahlen, die von seinem Gewissen
nicht gebilligt werden, und fragte, als man zu ihm mit der Forderung, dass er
seine Steuern bezahle, kam, wozu die Steuern, die er zahlen würde, verwendet
würden, indem er sagte: wenn die Steuern für eine gute Sache verwendet
werden, so gebe ich sofort nicht nur das, was ihr verlangt, sondern auch mehr;
wenn aber die Steuern zu etwas Schlechtem gebraucht werden, so kann und werde
ich freiwillig nicht einen Kopeken geben.
Natürlich ließ man sich mit ihm in keine Gespräche ein, sondern
brach das von ihm verschlossene Tor auf, nahm ihm seine Kuh und verkaufte sie
für Rechnung der Steuern.
So ist also die wirkliche Ursache der Existenz von Steuern nur eine: die Gewalt,
die sie erhebt, die Möglichkeit, diejenigen, die sie nicht willig zahlen,
zu berauben und für die Weigerung sogar zu schlagen, ins Gefängnis
zu werfen, zu strafen – wie es auch gemacht wird.
Dass die Steuern in England, Frankreich und überhaupt in konstitutionellen
Staaten durch das Parlament, d. h. durch die vermeintlichen Vertreter des Volkes
festgesetzt werden, ändert die Sache nicht. Denn die Wahlen sind so eingerichtet,
dass die Mitglieder des Parlaments keine Vertreter des Volkes, sondern Politiker
sind; und wenn sie es auch von Haus aus nicht waren, so werden sie, sobald sie
ins Parlament gelangen, doch zu Politikern, für die nur der persönliche
Ehrgeiz und die Interessen der kämpfenden Parteien von Bedeutung sind.
Ebenso wenig stichhaltig sind auch die Beweise des Eigentumsrechts der Nichtarbeitenden
an den Erzeugnissen der Arbeit anderer.
Dieses Eigentumsrecht, das sogar ein heiliges Recht genannt wird, wird gewöhnlich
dadurch gerechtfertigt, dass der Besitz in der Regel das Resultat der Enthaltsamkeit
und einer gemeinnützigen Arbeitsliebe und Tätigkeit sei.
Und doch braucht man nur die Herkunft aller großen Vermögen zu untersuchen,
um vom Gegenteil überzeugt zu werden.
Die großen Vermögen entstehen immer entweder durch Vergewaltigung
– das ist das gewöhnlichste – oder durch Geiz, oder durch einen
großartigen Spitzbubenstreich oder durch kleinere aber chronische Betrügereien,
wie diejenigen, die durch die Kaufleute verübt werden.
Je moralischer ein Mensch ist, um so sicherer geht er des Vermögens, das
er besitzt, verlustig, und je unsittlicher er ist, um so sicherer erhält
und vermehrt er sein Vermögen. Die Volksweisheit sagt: »Ist
gerecht die Arbeit dein, baut sie dir kein Haus aus Stein« und
»Arbeit macht nicht reich, sondern bucklig«.
So war es in den alten Zeiten und so ist es umsomehr noch jetzt, wo die Verteilung
der Reichtümer schon längst auf die ungerechteste Weise geschehen
ist.
Wenn man auch zugeben kann, dass in einer primitiven Gesellschaft ein enthaltsamerer
und fleißigerer Mensch mehr erwerben wird, als einer, der maßlos
ist und wenig arbeitet, so kann in unserer Gesellschaft nichts Ähnliches
mehr Platz haben. Wie enthaltsam und fleißig auch ein Arbeiter sein mag,
der auf fremden Boden mit fremden Werkzeugen arbeitet und die ihm notwendigen
Gegenständen für den von ihm geforderten Preis kaufen muss, er wird
niemals zu Reichtum gelangen. Dagegen wird der unenthaltsamste und arbeitscheueste
Mensch, wie wir ihn an tausend Beispielen sehen können, wenn es ihm nur
gelingt, bei der Regierung oder bei reichen Menschen ein Plätzchen zu finden,
oder wenn er ein Wucherer wird, sich als Fabrikant, Bordellbesitzer, Bankier
oder Weinhändler etabliert, sich leicht ein Vermögen erwerben.
Die Gesetze, die angeblich den Besitz schützen, sind Gesetze, die nur den
geraubten Besitz, der sich schon in den Händen der Reichen befindet, schützen,
die Arbeiter aber, die kein anderes Eigentum haben als ihre Arbeit, schützen
sie nicht nur nicht, sondern protegieren auch noch die Exploitierung
[Ausbeutung]
dieses einzigen Besitzes der Arbeiter.
Wir sehen eine unendliche Zahl von Administratoren: den König, seine Brüder
und Onkel, Minister, Richter, geistliche Personen, die riesige, dem Volke abgenommene
Gehälter beziehen und nicht einmal jene leichten Pflichten erfüllen,
die zu erfüllen sie für diesen Lohn übernommen haben. Und daher
sollte man meinen, dass diese Menschen ihr dem Volk abgenommenen Gehälter
stehlen; es kommt aber doch niemand in den Sinn, sie dafür vors Gericht
zu ziehen.
Wenn aber ein Arbeiter sich einen Teil des von diesen Menschen bezogenen Geldes
oder irgend welche, von diesem Geld gekaufte Gegenstände zu Nutze macht,
so heißt es, dass er das heilige Gesetz des Eigentums übertreten
habe und er wird für die paar Groschen, die er genommen, gerichtet, ins
Gefängnis gesetzt, deportiert.
Der reiche Fabrikant verpflichtet sich dem Arbeiter einen Lohn zu zahlen, der
für ihn, nur ein Zehnmillionstel seines Vermögens, d. h. fast ein
Nichts ausmacht, der Arbeiter aber verpflichtet sich, durch die Not gezwungen,
im Laufe des Jahres (mit Ausnahme der Feiertage)
täglich eine zwölfstündige gesundheitsschädliche Arbeit
zu verrichten, d. h. an den Fabrikanten den größten Teil seines Lebens,
wenn nicht das ganze Leben zu geben; und die Regierung schützt in gleicher
Weise sowohl den einen, als auch den anderen Besitz.
Der Fabrikant stiehlt offenbar auf diese Weise jahrein, jahraus von dem Arbeiter
mehr als die Hälfte seines Verdienstes und eignet sich denselben an. Man
sollte glauben, dass er dafür zur Verantwortung gezogen werden müsste.
Die Regierung aber hält den auf diese Weise erworbenen Besitz des Fabrikanten
für ein Heiligtum, während sie den Arbeiter, der unter dem Rock zwei
Pfund Kupfer mitnimmt – ein Millionstel des Besitzes des Fabrikanten –
straft.
Versuche es nur ein Arbeiter, den Reichen einen Teil dessen, was sie ihm gesetzmäßig
abgenommen haben, zu entreißen, wie das zuweilen bei Judenhetzen geschieht;
versuche es nur ein Arbeiter, selbst wenn er hungrig ist, jenes Brot zu nehmen,
das die Reichen, sich die Hungersnot zu Nutze machend, ihm zu teuren Preisen
zu verkaufen, wie das kürzlich in Mailand geschah; versuche es nur ein
Arbeiter, durch Streik auch nur einen Teil dessen, was ihm abgenommen ist, wiederzunehmen
– er verletzt das heilige Eigentumsrecht, und die Regierung kommt mit
ihrem Heer sofort dem Grundbesitzer, dem Fabrikanten, dem Kaufmann gegen den
Arbeiter zu Hilfe.
So hat denn jenes Recht, auf das die Reichen ihren Grundbesitz, die Erhebung
von Steuern und den Besitz der Erzeugnisse fremder Arbeit gründen, mit
der Gerechtigkeit nichts gemein und basiert nur auf der durch das Heer erreichten
Gewalt.
Fünfter
Abschnitt
Versuche nur der Arbeiter das Land zu pflügen, das er zu seiner Ernährung
braucht, oder sich der Zahlung der direkten oder indirekten Steuern zu entziehen,
oder versuche er, sich die von ihm selbst erzeugten Getreidevorräte anzueignen
oder die Produktionswerkzeuge, ohne die er nicht arbeiten kann, – es wird
Militär erscheinen und ihn mit Gewalt daran hindern.
So dass die Annektierung des Bodens, die Erhebung der Steuern, die Macht der
Kapitalisten nicht die Grundursache der elenden Lage der Arbeiter bilden, sondern
nur eine Folge. Die Grundursache dessen, dass Millionen von Arbeitern nach dem
Willen der Minderheit leben und arbeiten, besteht nicht darin, dass diese Minderheit
den Boden und die Produktionswerkzeuge annektiert hat und Steuern erhebt, sondern
darin, dass sie das tun kann,
dass es eine Gewalt gibt, dass ein Heer existiert, welches sich in den Händen
der Minderheit befindet und bereit ist, diejenigen zu töten, die sich weigern,
den Willen dieser Minderheit zu erfüllen.
Wenn die Bauern sich des Bodens bemächtigen wollen, der für das Eigentum
eines nichtarbeitenden Menschen gilt, oder wenn ein Mensch seine Steuern nicht
zahlt, oder wenn die streikenden Arbeiter die Streikbrecher daran hindern wollen,
ihre Plätze einzunehmen, so erscheinen jene nämlichen Bauern, denen
das Land abgenommen war, jene nämlichen Steuerzahler und Arbeiter, nur
in Uniformen und mit Flinten bewaffnet, und zwingen ihre nichtuniformierten
Brüder, das Land herauszugeben, die Steuern zu zahlen, den Streik aufzugeben.
Wenn man sich dessen zum ersten Mal bewusst wird, so glaubt man sich selbst
nicht, so seltsam ist diese Erscheinung.
Die Arbeiter wollen sich befreien und dieselben Arbeiter zwingen sich selbst,
sich zu unterwerfen und in der Sklaverei zu verbleiben.
Warum tun sie denn das?
Sie tun es darum, weil die zu Soldaten gemachten oder gewordenen Arbeiter einer
so geschickten Prozedur der Verdummung unterworfen werden, dass sie nach derselben
nicht anders können, als blind ihnen Vorgesetzten zu gehorchen, was auch
von ihnen verlangt würde.
Es geschieht auf folgende Weise:
Es wird ein Knabe auf dem Lande oder in der Stadt geboren. Sobald dieser Knabe
jenes Alter erreicht, wo die Kraft, Geschicklichkeit und Biegsamkeit ihre höchste
Stufe erlangen, während die seelischen Kräfte sich noch in dem verworrensten,
unbestimmtesten Zustande befinden, als etwa im Alter von zwanzig Jahren, wird
er (in allen kontinentalen Staaten) zum Militärdienst
herangezogen, wie ein Arbeitsvieh besichtigt, und wenn er physisch gesund und
stark ist, je nach der Brauchbarkeit, irgend einer Heeresabteilung zugewiesen.
Man zwingt ihn, feierlich zu beschwören, dass er sklavisch seinen Vorgesetzten
gehorchen wird, entfernt ihn dann von seinen früheren Lebensbedingungen,
gibt ihm Schnaps oder Bier zu trinken, kleidet ihn in eine bunte Tracht und
sperrt ihn zusammen mit ebensolchen Burschen in eine Kaserne, wo ihm unter völligem
Müßiggang(d. h. ohne dass er irgend eine nützliche, vernünftige
Arbeit tut) die unsinnigsten militärischen Regeln und Namen von Dingen
und die Handhabung von Mordwaffen: Säbeln, Bajonetten, Flinten, Kanonen
gelehrt werden. Vor allem aber wird ihm ein nicht nur widerspruchloser, sondern
auch einfach mechanisch-reflektorischer Gehorsam den Vorgesetzten gegenüber
gelehrt.
So geschieht es in den Staaten, in denen die allgemeine Wehrpflicht existiert.
In den anderen Ländern aber suchen speziell dazu angestellte Leute überall
verbummelte, sich durch ehrliche Arbeit nicht zu ernähren wünschende
oder nicht verstehende, meistenteils unmoralische, aber starke Menschen auf,
machen sie trunken und bestechen sie, werben sie dann fürs Heer an, sperren
sie ebenso in Kasernen und unterwerfen sie demselben Drill.
Die Hauptaufgabe der Vorgesetzten besteht darin, diese Menschen bis zum Zustande
jenes Frosches zu bringen, der bei jeder Berührung mit dem Beine zuckt.
Ein guter Soldat ist der, der ebenso wie dieser Frosch auf einen gewissen Schrei
des Vorgesetzten unbewusst mit der verlangten Bewegung reagiert. Erreicht wird
dieses dadurch, dass man diese unglücklichen Menschen in gleiche bunte
Kleidung steckt, im Verlauf von Wochen, Monaten, Jahren zwingt, beim Rasseln
der Trommeln und den Tönen der Musik zu gehen, sich zu wenden, zu springen
und alles zugleich und auf Kommando zu tun. Für jede Zuwiderhandlung aber
bestraft man sie mit den grausamsten Strafen, sogar mit dem Tode. Dabei werden
Trunk, Unzucht, Müßiggang, Schimpfreden und Mord nicht nur nicht
verboten, sondern sogar organisiert: man gibt den Soldaten Schnaps, richtet
für sie Bordelle ein, lehrt sie unanständige Lieder und unterrichtet
sie im Morden. (Der Mord gilt in diesen Kreisen so sehr
für eine gute und löbliche Tat, dass in gewissen Fällen die Vorgesetzten
von den Offizieren verlangen, dass diese ihren Freund töten: die sogenannten
Duelle.)
Und so wird ein stiller, sanfter Junge, nachdem er in einer solchen Schule etwa
ein Jahr verblieben (unter einem Jahr ist der Soldat noch
nicht fertig, d. h. noch nicht frei von allen menschlichen Gefühlen),
zu dem, was man aus ihm machen wollte – zu einem sinnlosen und grausamen,
mächtigen und schrecklichen Werkzeug der Vergewaltigung in den Händen
seiner Vorgesetzten.
Jedesmal wenn ich im Winter an dem kaiserlichen Palais in Moskau vorübergehe
und dort bei dem Schildhäuschen einen jungen Burschen stehen sehe im schweren
Pelz und in großen Galoschen, auf der Schulter das neueste Gewehrmodell
mit geschliffenen Bajonett, stillstehend oder auf- und abgehend, – blicke
ich ihm in die Augen. Und jedesmal kehrt er sich ab von meinem Blicke und jedesmal
denke ich: vor ein oder zwei Jahren noch war er ein lustiger Bauernbursche,
harmlos und gutmütig, der heiter mit mir in guter russischer Sprache zu
sprechen begonnen hätte, mir in dem Bewusstsein seiner Bauernwürde
seine ganze Geschichte erzählt hätte, – jetzt aber sieht er
mich böse und finster an und versteht nur auf alle Fragen sein »zu
Befehl« zu antworten. Wenn ich – wozu ich immer versucht
bin – mich jener Tür, an der er steht, nähern, oder nach seiner
Flinte fassen würde, so würde er mir, ohne sich auch nur einen Augenblick
zu bedenken, sein Bajonett in den Magen treiben, würde es darauf aus der
Wunde ziehen, es abwischen und dann fortfahren, mit den Galoschen schlurfend
auf dem Asphalt auf- und abzugehen, bis die Ablösung käme und ihm
die Parole und Losung ins Ohr flüsterte. Und solcher gibt es nicht nur
einen, denke ich. Und solcher zu Maschinen gemachter, mit Flinten bewaffneter
Burschen – fast noch Kinder – gibt es in Moskau allein Tausende,
Millionen in ganz Russland und in der ganzen Welt. Man hat diese nicht gescheiten,
aber starken und gewandten Burschen genommen, sie demoralisiert und bestochen,
und herrscht nun, dank ihnen, über die ganze Welt.
Das ist doch schrecklich.
Schrecklich ist es, dass schlechte, müßige Menschen, dank diesen
betrogenen Burschen, im Besitze all jener Paläste und des auf verbrecherische
Weise erworbenen Reichtums, d. h. der Arbeit des ganzen Volkes sind. Aber am
schrecklichsten dabei ist, dass sie, um dieses zu vollführen, jene schlichten,
gutmütigen Burschen bestialisieren müssen und das zum Teil erreicht
haben.
Möchten jene, die im Besitze der Reichtümer sind, diese selbst schützen.
Das wäre nicht so widerwärtig. Aber schrecklich ist, dass sie, um
die Menschen zu berauben und um ihren Raub zu schützen, dazu die Beraubten
selbst gebrauchen und zu diesem Zwecke ihre Seelen demoralisieren.
So brutalisieren denn die Arbeiter-Soldaten für ihre eigenen Brüder,
die Arbeiter darum, weil es ein Mittel gibt, aus Menschen ein bewusstloses Werkzeug
des Mordes zu machen, und weil die Regierungen dieses Mittel gegenüber
den eingezogenen und geworbenen Soldaten gebrauchen.
Sechster Abschnitt
Aber wenn das so ist, so taucht unwillkürlich die Frage auf: warum werden
denn diese Menschen Soldaten? Warum gestatten es ihnen ihre Väter?
Sie konnten solange Soldaten werden und sich der Disziplin fügen, bis sie
die Folgen davon nicht sahen. Aber wenn sie einmal diese Folgen erkannt haben,
warum fahren sie fort, sich diesem Betruge auszusetzen?
Es geschieht darum, weil sie den Militärdienst nicht nur für etwas
Nützliches, sondern auch für etwas durchaus Achtbares und Gutes halten.
Für etwas Gutes und Achtbares aber halten sie den Militärdienst darum,
weil es ihnen so durch jene Lehre eingeflößt wird, in der sie von
Kind auf erzogen und später mit allen Mitteln erhalten werden.
Und daher ist auch die Existenz des Heeres keine Grundursache, sondern nur eine
Folge. Die Grundursache aber besteht in jener Lehre, die den Menschen einflößt,
dass der Militärdienst, der den Mord zum Zwecke hat, nicht nur etwas Nichtswürdiges,
sondern auch etwas Gutes, Heldenmütiges und Löbliches sei.
So liegt denn die Ursache des Elends der Menschen noch ferner, als es anfangs
scheint.
Anfangs scheint es, dass die ganze Sache darin besteht, dass die Grundbesitzer
sich den Boden annektiert, die Kapitalisten sich die Produktionswerkzeuge angeeignet
haben und die Regierungen mit Gewalt Steuern erheben.
Aber wenn man sich fragt, warum der Boden den Reichen gehört und die Arbeiter
ihn nicht benutzen können, warum die Arbeiter Steuern bezahlen müssen,
ohne von ihnen zu profitieren, warum die Kapitalisten im Besitze der Produktionswerkzeuge
sind, – so sieht man, dass es nur daher kommt, weil ein Heer existiert,
welches das Land im Besitze der Reichen, die Steuern den Arbeitern zum Besten
der Reichen abnimmt und den Reichen ihren Besitz an Fabriken und teuren Maschinen
sichert.
Fragt man sich aber, wieso das Heer, welches aus jenen selben Arbeitern besteht,
denen man das, was sie brauchen, weggenommen, sich selbst, seine Väter
und Brüder vergewaltigt, so sieht man, dass die Ursache darin liegt, dass
man die eingezogenen oder freiwillig angeworbenen Soldaten vermittelst eigens
dazu bestimmter Manipulationen so erzieht, dass sie alles Menschlichen verlustig
gehen und zu unbewussten, ihren Vorgesetzten ergebenen Werkzeugen des Mordes
werden.
Wenn man sich aber endlich fragt, warum denn die Menschen, die diesen Betrug
sehen, fortfahren, Militärdienste zu leisten oder Steuern zum Unterhalte
des Heeres zu zahlen, so sieht man, dass die Ursache dieser Erscheinung in jener
Lehre liegt, die nicht nur den Soldaten, sondern auch überhaupt allen Menschen
eingeflößt wird, – jener Lehre, der zufolge der Militärdienst
etwas Gutes und Löbliches und der Mord im Kriege etwas Nichtsündiges
ist.
So ist denn die Hauptursache von allem jene Lehre, die den Menschen eingeflößt
wird.
Daher das Elend, daher die Unsittlichkeit, daher der Hass, daher die Hinrichtungen,
daher die Mordtaten.
Was ist denn das für eine Lehre?
Diese Lehre wird die christliche genannt und besteht in folgendem:
Es gibt einen Gott, der vor sechstausend Jahren die Welt und einen Menschen
Adam erschaffen hat. Adam hat gesündigt, und Gott hat dafür alle Menschen
bestraft, dann aber seinen Sohn, einen ebensolchen Gott, wie der Vater, auf
die Erde gesandt, damit er dort gekreuzigt würde.
Diese Kreuzigung nun ist es, die den Menschen als Mittel zur Befreiung von der
Strafe für die Sünde Adams dient. Wenn die Menschen daran glauben,
so wir ihnen die Sünde Adams verziehen, glauben sie aber nicht, so werden
sie grausam bestraft werden.
Als Beweis dessen, dass das alles wahr sei, dient die Tatsache, dass das alles
den Menschen von jenem Gott offenbart sei, von dessen Existenz wir durch jene
nämlichen Menschen wissen, die das alles predigen.
Abgesehen von den verschiedenen Variationen – je nach den verschiedenen
Konfessionen – zu dieser Grundlehre, ist die allgemeine praktische Folgerung
aus derselben die nämliche: die Menschen müssen an diese ihnen gepredigte
Lehre glauben und den bestehenden Regierungen untertan sein.
Diese Lehre ist es, die die Hauptursache jenes Betruges bildet, demzufolge die
Menschen den Militärdienst für eine gute und nützliche Sache
halten, Soldaten und willenlose Werkzeuge werden und so sich selbst knechten.
Wenn es unter den betrogenen Menschen auch Ungläubige gibt, so glauben
diese Ungläubigen auch an nichts anderes, fügen sich so (da
sie keinen Stützpunkt haben) der allgemeinen Strömung und unterwerfen
sich dem Betruge wie die Gläubigen, obgleich sie ihn sehr wohl sehen.
Und daher ist zur Befreiung von dem Übel, unter dem die Menschen leiden,
nicht die Freigebung des Bodens, nicht die Vernichtung der Steuern, nicht die
Kommunalisierung der Produktionswerkzeuge und nicht mal die Stürzung der
bestehenden Regierungen nötig, sondern es ist nur die Vernichtung jener
Lehre nötig, die die christliche genannt wird und in der die Menschen unserer
Zeit erzogen werden.
Anfangs erscheint es dem Menschen, die das Evangelium kennen, seltsam, wie das
Christentum, dass die Gotteskindheit, die geistige Freiheit, die Brüderlichkeit
der Menschen, die Vernichtung jeder Gewalt und Liebe zu den Feinden lehrt, zu
jener sonderbaren, christlich genannten Lehre entarten konnte, zu jener Lehre,
die blinden Gehorsam der Obrigkeit und auf Verlangen derselben auch den Mord
predigt.
Aber wenn man sich den Prozess des Eindringens und der Verbreitung des Christentums
in unserer Welt vergegenwärtigt, so sieht man, dass es so und nicht anders
werden musste.
Als die heidnischen Herrscher, Konstantin, Karl der Große,
Wladimir, das in heidnische Formen gehüllte Christentum annahmen
und ihre Völker annehmen ließen, da war es ihnen nicht in den Sinn
gekommen, dass die von ihnen angenommene Lehre eine Aufhebung der königlichen
Gewalt, des Heeres, ja des Staates selbst bedeute, d. h. alles dessen, ohne
welches diese Adepten des Christentums sich überhaupt kein Leben vorstellen
konnten.
Die zerstörende Macht des Christentums wurde von den Menschen in der ersten
Zeit nicht nur nicht bemerkt, sondern es schienen ihnen sogar, als stütze
das Christentum ihre Macht. Aber je länger die christlichen Völker
lebten, um so mehr klärte sich das Wesen des Christentums auf und um so
offenbarer wurde die für die heidnische Weltordnung in dem Christentum
enthaltene Gefahr. Und je offenbarer diese Gefahr wurde, um so eifriger mühten
sich die herrschenden Klassen, jenes Feuer, das sie mit dem Christentum unbewusst
in ihre Welt getragen hatten, zu unterdrücken und, wenn möglich, gänzlich
auszulöschen. Sie benutzten dazu alle möglichen Mittel: das Verbot
der Übersetzung und der Lektüre des Evangeliums, die Verfolgung aller
derer, die auf den wahren Sinn der christlichen Lehre hinwiesen, die Hypnotisierung
der Massen durch den Pomp und den Glanz der Kirche und vor allem eine schlaue
und raffinierte Deutung der Lehre.
Je nach Anwendung dieser Mittel änderte sich das Christentum immer mehr
und mehr und artete endlich zu einer solchen Lehre aus, die jetzt nicht nur
nicht irgendwelche für das Heidentum gefährliche Prinzipien mehr enthielt,
sondern die heidnische Weltordnung vom christlichen Standpunkt aus sogar rechtfertigte.
Es zeigten sich christliche Herrscher, ein christliches Heer, christlicher Reichtum,
christliche Gerichte und christliche Hinrichtungen.
Die herrschenden Klassen machten mit dem Christentum das nämliche, was
die Ärzte in Bezug auf ansteckende Krankheiten tun. Sie arbeiteten eine
derartige Kultur unschädlichen Christentums aus, deren Einimpfung das wahre
Christentum gänzlich unschädlich machte.
Dieses kirchliche Christentum hat die Eigenschaft, dass es die Menschen unfehlbar
entweder abstößt, da es den Vernünftigen unter ihnen als eine
entsetzliche Sinnlosigkeit erscheint, oder aber, wenn es von ihnen angenommen
wird, sie soweit von dem wahren Christentum entfernt, dass sie seine wirkliche
Bedeutung überhaupt nicht mehr sehen und mit Feindschaft und Erbitterung
dieser Bedeutung gegenübertreten.
Dieses, von den herrschenden Klassen mit dem Instinkte der Selbsterhaltung durch
Jahrhunderte ausgearbeitete und dem Volke eingeimpfte sterilisierte und unschädlich
gemachte falsche Christentum bildet eben jene Lehre, als deren Folge die Menschen
gehorsam Handlungen begehen, die nicht nur für sie und die ihrigen schädlich,
sondern auch einfach unsittlich und mit den Forderungen des Gewissens unvereinbar
sind. Die wichtigste dieser Handlungen ist, nach ihren praktischen Folgen, der
Eintritt in den Militärdienst, d. h. die Bereitschaft zum Morden.
Der Schaden dieses unschädlich gemachten falschen Christentums besteht
hauptsächlich darin, dass es nichts vorschreibt und nichts verbietet.
Alle alten Gesetze, wie das mosaische und das Gesetz
Manu geben Regeln, die gewisse Handlungen entweder fordern oder verbieten.
Dasselbe tun auch die buddhistische und die muhammedanische
Religion. Der gefälschte christliche Glaube aber gibt gar keine Gesetze,
außer einer äußeren Dogmen, Fasten und Gebete (wobei
für die reichen Leute auch da Auswege vorgesehen sind), sondern
lügt nur und gestattet alles, sogar das, was den allerprimitivsten Forderungen
der Sittlichkeit zuwider ist.
Dieser kirchliche Glauben gestattet alles. Er erlaubt die Sklaverei und in Europa
und in Amerika war die Kirche die Beschützerin derselben.
Er erlaubt, sich durch die Arbeit der bedrückten Brüder ein Vermögen
zu erwerben.
Er erlaubt, reich zu sein unter den Lazarussen, die unter den Tischen der Schwelgenden
umherkriechen, und er findet das sogar gut und löblich, wenn man dabei
ein Tausendstel für die Kirchen und Krankenhäuser opfert.
Dem Bedürftigen seine Reichtümer vorzuenthalten, Menschen in Einzelhaft
zu sperren, in Ketten zu fesseln, an Schubkarren zu schmieden, hinzurichten
– alles das segnet die Kirche.
Seine ganze Jugend hindurch Unzucht zu treiben und dann eine dieser Unzuchten
Ehe zu nennen und dazu die Autorisation der Kirche zu erhalten – ist erlaubt.
Es ist erlaubt, sich scheiden zu lassen und wieder zu heiraten.
Es ist vor allem erlaubt, zu töten, nicht nur wenn man sich selbst, sondern
auch wenn man seine Äpfel schützt.
Man darf auch zur Strafe töten (Strafe bedeutet Belehrung
– also zur Belehrung töten!) und vor allem darf und soll man
im Kriege auf Befehl der Vorgesetzten töten; das ist sogar löblich
und die Kirche gestattet es nicht nur, sondern befiehlt es . . .
So ist denn die Wurzel von allem die falsche Lehre.
Wenn die falsche Lehre aufhört zu existieren, wird es kein Heer geben.
Und wenn es kein Heer geben wird, so werden auch von selbst jene Vergewaltigung,
Knechtung und Demoralisierung, die an den Völkern verübt werden, aufhören.
Solange aber die Menschen in der falschen christlichen Lehre erzogen werden,
die alles, bis zum Morde inklusive, gestattet, wird das Heer sich in den Händen
der Minderheit befinden; die Minderheit aber wird sich dieses Heer immer zu
Nutze machen, um dem Volke den Erwerb seiner Arbeit abzunehmen. Und um das Volk
zu demoralisieren, was für das Volk das Schlimmste ist, da die Minderheit
ohne diese Demoralisation ihm nichts abnehmen könnte.
Siebenter
Abschnitt
Die Wurzel aller Leiden der Völker liegt in jener falschen Lehre, die ihnen
unter dem Scheine des Christentums beigebracht wird.
Und daher, sollte man meinen, ist es offenbar, dass die Pflicht eines jeden
Menschen, der sich von dem religiösen Betrug befreit hat und dem Volke
dienen will, darin besteht, dass er den betrogenen Menschen durch Wort und Tat
hilft, sich von dem Betruge, der die Ursache ihrer Leiden bildet, zu befreien.
Man sollte meinen, dass – abgesehen von der allgemeinen Pflicht eines
jeden sittlichen Menschen, die Lüge aufzudecken, und die Wahrheit, die
er kennt, zu bekennen – ein jeder Mensch, der dem Volke dienen will, schon
aus Mitleid nicht umhin kann, seine Brüder von dem, ihnen jegliches Elend
verursachenden Betruges befreien zu wollen.
Und doch sehen es diese Menschen, die sich von dem Betruge befreit haben, frei
und gebildet geworden sind auf Kosten der Arbeiter und des Volkes – was
allein schon sie zu dem Dienste diesem Volke verpflichtet – und doch sehen
es diese Menschen nicht.
Die religiöse Lehre ist unwichtig, sagen diese Menschen. Sie ist die Gewissenssache
eines jeden Einzelnen. Wichtig und notwendig ist die politische, soziale und
wirtschaftliche Einrichtung der Gesellschaft, und darauf müssen die Kräfte
aller Menschen, die dem Volke dienen wollen, gerichtet werden. Die religiösen
Lehren aber sind allesamt nicht wichtig und werden, wie jeder Aberglaube, zu
ihrer Zeit von selbst verschwinden.
So reden diese gebildeten Menschen. Und indem sie ihrem Volke dienen wollen,
treten die einen von ihnen in den Dienst der Regierungen, werden Militärs,
Geistliche, Parlamentsmitglieder und suchen, ohne den religiösen Betrug,
dessen Opfer das Volk ist, aufzudecken, durch ihre Beteiligung an der Tätigkeit
der Regierungen die äußeren Lebensformen des betrogenen Volkes zu
verbessern.
Die anderen, die Revolutionäre, treten – ebenfalls ohne an dem Glauben
des Volkes zu rühren – in den Kampf mit den Regierungen und suchen
sich durch dieselben Mittel des Betruges und der Brutalisierung, wie die Regierungen,
der Gewalt zu bemächtigen.
Die dritten, die Sozialisten, organisieren Arbeitervereine, Genossenschaften,
Streike, indem sie meinen, dass die Lage des Volkes gebessert werden kann, auch
wenn es in demselben Irrtum oder Unglauben, den jene falsche Lehre erzeugt,
verbleibt.
Und weder die einen, noch die anderen, noch die dritten hindern die Verbreitung
jener falschen Religion, auf der das ganze Übel basiert, sondern erfüllen
auch, wenn die Notwendigkeit vorliegt, die von ihnen als lügnerisch erkannten
Zeremonien und Bräuche: sie schwören, nehmen teil an Gottesdiensten
und Feierlichkeiten, die das Volk betören sollen, und widersetzen sich
nicht der Erteilung in den Schulen an ihre eigenen und fremde Kinder des sogenannten
Religionsunterrichtes – jener nämlichen Lüge, auf die sich die
Knechtung des Volkes gründet.
Dieses Missverständnis von Seiten der gebildeten Menschen (derselben,
die mehr als alle anderen die falsche Lehre zerstören könnten und
müssten) dessen, worin die Hauptursache des Übels liegt und
worauf eben alle ihre Kräfte gerichtet werden müssten, dieses Missverständnis
und die daraus resultierende Ablenkung ihrer Kräfte auf andere Wege bilden
eben eine der Hauptursachen davon, dass die bestehende Ordnung, die offenbar
eine falsche und schädliche ist, beharrlich fortfährt zu bestehen,
trotz ihrer bereits von allen erkannten Widersinnigkeit.
Daher, weil die wahre, den Anforderungen unserer Zeit entsprechende christliche
Lehre vor den Menschen verborgen wird und an ihrer Stelle ein falsches Christentum
gepredigt wird, – daher kommt alles Elend unserer Welt.
Wenn nur die Menschen, die Gott und ihren Nächsten dienen möchten,
begreifen wollten, dass die Menschheit nicht durch tierische Erfordernisse fortbewegt
wird, sondern durch geistige Kräfte und dass die wichtigste, die Menschheit
fortbewegende Kraft die Religion ist, d. h. die Bestimmung des Sinnes des Lebens
und als deren Folge die Unterscheidung des Guten vom Schlechten, des Möglichen
vom Unmöglichen. Wenn die Menschen das nur begreifen wollten, so würden
sie sofort sehen, dass die Grundursache der Leiden der heutigen Menschheit nicht
in den äußeren materiellen, nicht in den politischen und wirtschaftlichen
Verhältnissen liegt, sondern in der Entstellung der christlichen Lehre
in der Auswechselung der für die Menschheit erforderlichen und ihrem jetzigen
Alter entsprechenden Wahrheiten durch ein Konglomerat von unmoralischen Sinnlosigkeiten
und Gotteslästerungen, die die kirchliche Lehre genannt werden und zufolge
denen das Schlechte für gut, das Wichtige für unwichtig, und umgekehrt
– das Gute für schlecht, das Unwichtige für wichtig gilt.
Wenn nur die besten, unabhängigen Menschen, die dem Volke aufrichtig dienen
wollen, begreifen würden, dass es unmöglich ist, durch irgendwelche
äußeren Maßregeln die Lage eines Menschen zu bessern, der es
für schlecht hält, am Freitag Fleisch zu essen und für gut, einen
Menschen, der gefehlt, mit dem Tode zu bestrafen, für wichtig, dass einem
Heiligenbilde oder einem Kaiser die nötigen Ehren erwiesen werden und für
unwichtig, auf die Erfüllung des Willens anderer einen Eid zu leisten und
den Mord zu erlernen. Wenn nur die Menschen begreifen würden, dass keine
Parlamente, Streike, Verbände, Konsum- und Produktionsvereine, Erfindungen,
Schulen, Universitäten und Akademien, keine Revolutionen für Menschen
mit einer falschen religiösen Weltanschauung irgendwie von Nutzen sein
können – und dann würden sich von selbst alle Kräfte der
besten Menschen gegen die Ursache und nicht gegen die Folgen richten, eine Betätigung
suchen nicht in dem Staatsdienst, nicht in Revolutionen, nicht im Sozialismus,
sondern in der Enthüllung der falschen religiösen Lehre und der Wiederaufrichtung
der wahren!
Wenn die Menschen nur so handelten, würden auch alle politischen, wirtschaftlichen
und sozialen Fragen gelöst werden und zwar so, wie sie gelöst werden
müssen, und nicht so, wie wir es annehmen und vorschreiben.
Eine Lösung werden diese Fragen natürlich nicht sogleich und nicht
nach unserem Wunsche finden, wie wir es gewohnt sind, das Leben der anderen
Menschen einzurichten, indem wir nur darum besorgt sind, dass dieses Leben äußerlich
dem ähnlich werde, was wir wünschen (dasselbe,
was die Regierungen tun); aber gelöst werden diese Fragen sicher
werden, wenn sich nur die religiöse Weltanschauung der Menschen ändert,
und um so schneller werden sie gelöst werden, je mehr wir unsere Kräfte
nicht auf die Folgen, sondern auf die Ursache der Erscheinungen richten werden.
Aber die Enthüllung der falschen und die Einführung der wahren Religion
ist ein sehr entferntes und langsames Mittel, wird darauf geantwortet.
Ob es entfernt oder langsam ist, – es ist das einzige
Mittel, oder wenigstens ein solches, ohne welches keine anderen Mittel wirksam
sein können.
Indem ich die schreckliche, dem Verstand und Gefühl zuwiderlaufende Einrichtung
des menschlichen Lebens betrachte, frage ich mich: muss es denn wirklich so
sein?
Und die Antwort, zu der ich gelange, ist: nein, es muss nicht so sein.
Es muss und darf nicht so sein!
Aber nicht dann wird es anders werden, wenn die Menschen auf diese oder jene
Weise ihr gegenseitigen Beziehungen ändern, sondern nur dann, wenn die
Menschen aufhören, an jene Lüge zu glauben, in der sie erzogen werden,
und den Glauben an jene höchste Wahrheit gewinnen, die ihnen schon vor
1900 Jahren offenbart wurde und die klar, einfach und ihrem Verstande zugänglich
ist.
14./27. Oktober 1900 Leo Tolstoi
Jasnaja Pojana
Aus: Graf Leo Tolstoi, Aufruf an die Menschheit.
Einzig bevollmächtigte Übersetzung von Wladimir Czumikow. Verlegt
bei Eugen Diederichs, Leipzig 1901 (S.3-49)
Wo
ist der Ausweg?
Erster Abschnitt
Ein Knabe wird im Dorf geboren, wächst auf und arbeitet zusammen mit seinem
Vater, seinem Großvater, seiner Mutter.
Und nun sieht der Knabe, dass von dem Acker, den er mit seinem Vater gepflügt,
geeggt und besät hat, auf dem seine Mutter mit dem Mädchen das Korn
geschnitten und zu Garben gebunden hat, wobei er selbst geholfen, die Garben
in Haufen zu tragen, – nun sieht der Knabe, dass sein Vater die ersten
Kornhaufen von diesem Felde nicht zu sich, sondern an dem Garten vorbei auf
die Tenne des Gutbesitzers fährt. Mit der knarrenden Fuhre, die sie mit
dem Vater gebunden haben, an dem Herrenhause vorbeifahrend, sieht der Knabe,
wie dort auf dem Balkon eine geputzte Dame an einem mit Pasteten und Naschwerk
bestellten Tisch vor einem blitzenden Samowar sitzt und wie jenseits des Weges,
auf einem gesäuberten Platze, die beiden Knaben des Gutsherrn in gestickten
Hemden und blanken Stiefeln Ball spielen.
Der eine von ihnen hat den Ball über die Fuhre geworfen.
»Heb auf, Junge!« schreit er.
»Heb auf, Waßika!« ruft seinem
Sohne der Vater zu, der, die Mütze in der Hand, neben dem Kornwagen einherschreitet.
»Was ist denn das?« denkt der Knabe.
»Ich bin von der Arbeit müde, während
sie spielen, und da soll ich ihnen noch den Ball aufheben!«
Aber er hebt den Ball auf. Der junge Herr nimmt den Ball mit seiner weißen
Hand aus der schwarzen, eingebrannten Hand des Bauernknaben, ohne diesen anzusehen,
entgegen und kehrt zu seinem Spiel zurück.
Der Vater mit dem Kornwagen ist weitergegangen. Der Knabe holt ihn im Trabe
ein, mit seinen zerfetzten Halbstiefelchen über den staubigen Weg schlotternd,
und sie fahren zusammen vor die herrschaftliche Tenne vor, die voll von Kornwagen
ist. Der hin und her laufende Inspektor in durchgeschwitztem Leinenrock, eine
Gerte in der Hand, empfängt den Vater mit Schimpfworten, weil er nicht
richtig vorgefahren sei. Der Vater entschuldigt sich, schreitet müde einher,
zerrt an den Leinen das abgequälte Pferd und fährt von der anderen
Seite vor.
Der Knabe tritt an den Vater heran und fragt:
»Vater, warum führen wir ihm unser Korn hin? Wir haben es doch erarbeitet?«
»Darum, weil es sein Land ist«, antwortet mürrisch der
Vater.
»Wer hat ihm denn das Land gegeben?«
»Frag mal den Inspektor. Der wird Dir schon sagen,
wer. Siehst Du die Gerte?«
»Und wohin werden sie denn das Korn hintun?«
»Werden es dreschen und verkaufen.«
»Und das Geld?«
»Dafür kaufen sie die Pasteten. Hast gesehen auf dem Tisch, als wir
vorbeifuhren.«
Der Knabe schweigt und verfällt in Gedanken.
Aber zum Nachdenken ist keine Zeit. Der Vater wird angeschrieen, warum er nicht
seine Fuhre an den Fehm näher heranschiebe. Er rückt die Fuhre heran,
klettert hinauf und bindet sie mit Mühe auf, wobei er seinen Bruch immer
schlimmer macht, und beginnt die Garben auf den Fehm hinaufzuwerfen. Der Knabe
hält während dessen die alte Stute, die er das zweite Jahr zur Weide
reitet, jagt von ihr die Bremsen weg, wie es der Vater befohlen, denkt immerfort
darüber nach und kann es nicht begreifen: warum gehört das Land nicht
denen, die darauf arbeiten, sondern den herrschaftlichen Knaben, die in gestickten
Hemden Ball spielen, Tee trinken und Pasteten essen?
Der Knabe denkt darüber nach, wenn er arbeitet, wenn er die Pferde hütet
und wenn er schlafen geht – und er findet keine Antwort. Alle sagen, dass
es so sein müsse und alle eben so.
Zweiter Abschnitt
Und der Knabe wird groß, heiratet, wird selbst Vater, und seine Kinder
fragen ebenso und staunen ebenso, und er antwortet ihnen ebenso, wie ihm sein
Vater geantwortet hatte. Und ebenso im Elend lebend, arbeitet er demütig
für fremde müßige Menschen.
Und so lebt e r, und so leben alle um
ihn herum. Wohin er auch geht oder fährt, überall – und das
bestätigen ihm die Leute, die viel gewandert – überall ist das
nämliche. Überall arbeiten die Bauern (die Arbeiter)
über ihre Kräfte hinaus für fremde müßige Menschen,
bis sie Brüche, Atembeschwerden, die Schwindsucht bekommen, sich dem Trunk
ergeben und vorzeitig sterben. Die Weiber strengen ihre letzten Kräfte
an, um zu kochen, das Vieh zu besorgen, zu waschen, die Männer zu kleiden
und werden ebenfalls vor der Zeit alt und siechen dahin, bewältigt von
einer über ihr Kräfte hinausgehenden, zur Unzeit verlangten Arbeit.
Und überall schaffen sich diejenigen, für die diese Menschen arbeiten,
Wagen, Passgänger, Hunde an, erbauen sich Gartenpavillons und legen Spielplätze
an, und von Ostern bis Ostern putzen sie sich wie Feiertags, spielen und essen
und trinken so, wie es diejenigen, die für sie arbeiten, nicht einmal am
größten Feiertag tun können.
Woher ist das so?
Die erste Antwort, die sich dem arbeitenden Ackerbauer darbietet, ist die, dass
es daher komme, weil ihm das Land weggenommen und denen gegeben sei, die nicht
darauf arbeiten. Er und seine Familie müssen essen. Land hat aber der Bauer
entweder gar nicht oder nur sehr wenig, so wenig, dass es ihn und seine Familie
nicht ernähren kann. So muss er also vor Hunger sterben oder das Land nehmen,
das gleich hier, neben seinem Hofe liegt, aber den Nichtarbeitenden gehört;
er muss das Land nehmen und auf die Bedingungen eingehen, die ihm gestellt werden.
Anfangs scheint es so, aber das ist nicht die einzige Ursache. Es gibt Bauern,
die genügend Land haben, um sich davon ernähren zu können.
Es stellt sich aber heraus, dass auch diese Bauern, alle oder zum Teil, sich
in die Sklaverei begeben.
Woher kommt das?
Daher, weil sich die Bauern für Geld kaufen müssen: Pflugeisen, Sensen,
Hufeisen, Baumaterialien, Petroleum, Tee, Zucker, Schnaps, Stricke, Salz, Zündhölzchen,
Zeug, Tabak; das Geld aber, das der Bauer durch Verkauf seiner Erzeugnisse erhält,
wird ihm immerfort abgenommen in Form von direkten oder indirekten Steuern,
und die Sachen, die er kauft, muss er oft noch über ihren Wert bezahlen.
So kann denn die Mehrheit der Bauern das notwendige Geld nicht anders erhalten,
als dadurch, dass sie zu Sklaven derer wird, die das Geld besitzen.
Das tun denn auch die Bauern samt ihren Frauen und Töchtern. Die einen
verkaufen sich in der Nähe, die anderen auf weitere Entfernungen in die
Städte, wohin sie sich mit ihrer ganzen Familie begeben – als Lakaien,
Kutscher, Kinderwärterinnen, Ammen, Stubenmädchen, Badediener, Kellner
und vor allem Fabrikmitarbeiter.
Haben sich aber die Landbewohner einmal in die Städte in derartige Stellungen
verkauft, so entwöhnen sie sich der Landarbeit und der Einfachheit des
Lebens, gewöhnen sich an städtische Nahrung, Kleider und Getränke
und ziehen durch diese neuen Gewohnheiten ihre Sklavenketten noch fester an.
So ist denn nicht allein der Mangel an Land die Ursache dessen, dass sich die
Arbeiter in der Sklaverei der Reichen befinden, die Ursachen dessen sind sowohl
die Steuern und die Übervorteilung beim Wareneinkauf, als auch die städtischen
Lebensgewohnheiten, die die Arbeiter, wenn sie ihre Dörfer verlassen, annehmen.
Begonnen hat die Sklaverei auf agrarer Basis, dadurch, dass das Land den Arbeitern
weggenommen wurde, aber aufrechterhalten und verstärkt wird diese Sklaverei
durch die Steuern und dadurch, dass die Menschen sich der Ackerbauarbeit entwöhnt
und sich an den städtischen Luxus gewöhnt haben, den sie auf keine
andere Weise befriedigen können, als indem sie sich in die Sklaverei derer
verkaufen, die Geld haben. Und so verbreitet und befestigt sich diese Sklaverei
immer mehr und mehr.
Auf dem Lande leben die Menschen halb hungernd, in unaufhörlicher Arbeit
und Not, in der Sklaverei der Gutsbesitzer. In den Städten und Fabriken
leben die Arbeiter aus einem Geschlecht ins andere in der Sklaverei der Fabrikbesitzer,
indem sie physisch und moralisch durch eine dem Menschen zuwiderliegende einförmige,
langweilige, ungesunde Arbeit verderbt werden. Und mit den Jahren wird die Lage
sowohl der einen, als auch der anderen Menschen immer schlimmer und schlimmer.
Auf dem Lande werden die Menschen immer ärmer und ärmer, weil immer
mehr Arbeitskräfte in die Fabriken abziehen. In den Städten aber werden
sie wenn auch nicht ärmer, sondern im Gegenteil scheinbar reicher, dafür
aber immer unenthaltsamer und zügelloser und immer unfähiger zu jeder
anderen Arbeit außer der, an die sie sich gewöhnt haben, dadurch
aber auch immer mehr zu Sklaven des Fabrikanten.
So nimmt also die Gewalt der Guts- und Fabrikbesitzer und überhaupt der
Reichen immer mehr zu; die Lage der Arbeiter aber wird immer schlechter und
schlechter.
Welchen Ausgang bietet denn diese Lage? Und gibt es überhaupt einen Ausgang?
Dritter Abschnitt
Man sollte meinen, dass die Befreiung von der Bodensklaverei sehr leicht sei.
Zur Herbeiführung dieser Befreiung ist nur nötig, dass das anerkannt
wird, was eigentlich selbstverständlich ist und woran die Menschen nie
gezweifelt hätten, wenn sie nicht betrogen worden wären: dass jeder
Mensch mit seiner Geburt das Recht erhält, sich durch den Boden zu ernähren,
ebenso wie jeder ein Recht an der Sonne oder an der Luft hat, und dass daher
niemand, der den Boden nicht bebaut, das Recht hat, ihn für sein Eigentum
zu halten und ihn der Bearbeitung durch andere zu entziehen.
Aber diese Befreiung von der Bodensklaverei wird die Regierung nie zulassen,
da die Mehrheit der Personen, die die Regierung ausmachen, selbst Boden besitzt
und auf diesem Boden seine ganze Existenz begründet.
Und diese Personen wissen es wohl und halten daher mit allen Kräften an
ihrem Recht und verteidigen es vor allen Angriffen.
Etwa vor dreißig Jahren hatte Henry George
ein nicht nur verständiges, sondern auch durchaus durchführbares Projekt
der Aufhebung des Grundeigentums vorgeschlagen. Aber weder in Amerika noch in
England (in Frankreich spricht man davon überhaupt
nicht) nahm man seinen Vorschlag an, sondern suchte ihn auf jede Weise
zu widerlegen und schwieg ihn, da dieses nicht ging, schließlich tot.
Wenn aber in Amerika und in England dieses Projekt nicht angenommen wurde und
nicht angenommen wird, so ist noch viel weniger Hoffnung vorhanden, dass es
in monarchischen Staaten, wie Deutschland, Österreich und Russland akzeptiert
werden sollte.
Bei uns in Russland befinden sich kolossale Länderstrecken im Besitze von
Privatpersonen, als auch des Kaisers und der kaiserlichen Familie, und daher
ist keine Hoffnung vorhanden, dass diese Menschen, die sich ohne das Recht am
Boden so hilflos fühlen, wie junge Vögel außerhalb ihres Nestes,
diesem ihrem Rechte entsagen oder auch nur daran rütteln ließen;
sie werden für dieses Recht bis zu ihren letzten Kräften kämpfen.
Und daher wird, solange sich diese Gewalt auf Seiten einer aus Grundbesitzern
bestehenden Regierung befindet, eine Aufhebung des Grundeigentums nicht stattfinden
können.
Ebensowenig oder noch weniger möglich ist die Aufhebung der Steuern. Von
den Steuern lebt die ganze Regierung, von dem Haupt des Staates – dem
Monarchen – bis zum letzten Schutzmann. Und daher ist die Aufhebung der
Steuern durch die Regierung selbst ebensowenig denkbar, wie es denkbar ist,
dass ein Mensch sich selbst seines einzigen Existenzmittels beraubt.
Es ist wahr, manche Regierungen bemühen sich jetzt scheinbar, die Last
der Steuern von dem Volke abzuwälzen durch Übertragung derselben auf
das Einkommen, wobei der Steuersatz je nach der Höhe des Einkommens steigt.
Aber eine solche Übertragung der Steuern auf das Einkommen kann das Volk
nicht entlasten, da die Reichen, d. h. die Kaufleute, die Grundbesitzer und
die Kapitalisten, je nach der Erhöhung der Steuern auch die Preise für
die Waren und den Boden, die die Arbeiter brauchen, erhöhen und dabei die
Arbeitslöhne herabsetzen. So müssen denn die ganze Last der Steuern
wiederum die Arbeiter tragen.
Zur Befreiung der Arbeiter von jener Sklaverei, die von der Aneignung der Produktionswerkzeuge
durch die Kapitalisten herrührt, wird von den Gelehrten eine ganze Reihe
von Maßregeln vorgeschlagen, infolge derer, ihren Annahmen nach, die Höhe
der Löhne immer steigen, die Stundenzahl der Arbeit aber immer sinken müsse.
Dabei müssen alle Produktionswerkzeuge in die Hände der Arbeiter übergehen,
do dass die Arbeiter, sich im Besitze aller Fabriken und Industrieanstalten
befindend, nicht mehr einen Teil ihrer Arbeit an die Kapitalisten abzugeben
brauchen und sich alle nötigen Gegenstände des Konsums erwerben können.
Dieses Mittel wird in England, Frankreich und Deutschland schon mehr als dreißig
Jahre gepredigt, aber bis jetzt sieht man nicht nur nicht seine Verwirklichung,
sondern auch nicht den geringsten Anlauf dazu.
Es existieren Arbeitervereine, es werden Streike organisiert, vermittelst derer
sich die Arbeiter weniger Arbeit und mehr Lohn ausbedingen. Aber da die Regierungen,
die mit den Kapitalisten verbunden sind, eine Entreißung der Produktionswerkzeuge
aus den Händen der Kapitalisten nicht zulassen und nie zulassen werden,
so bleiben die Zustände ihrem Wesen nach dieselben.
So kann denn die Sklaverei, in der sich die Arbeiter befinden, solange nicht
vernichtet werden, solange die Regierungen erstens den Großgrundbesitz
aufrecht halten, zweitens das Eigentum der Kapitalisten beschützen und
drittens direkte oder indirekte Steuern erheben werden.
Vierter Abschnitt
Die Sklaverei der Arbeiter hat die Existenz der Regierungen zur Basis.
Aber wenn die Sklaverei durch die Existenz der Regierungen besteht, so erscheint
zu ihrer Aufhebung, natürlich die Vernichtung der Herrschenden und die
Einsetzung neuer Regierungen notwendig, solcher Regierungen, unter denen die
Befreiung des Bodens vom Eigentumsrechte, die Aufhebung der Steuern und die
Übergabe des Kapitals und der Fabriken in die Gewalt und Verwaltung der
Arbeiter möglich wäre.
Es gibt Menschen, die diesen Weg für möglich halten und sich dazu
vorbereiten. Aber zum Glück (denn eine solche Handlungsweise,
die immer mit Vergewaltigung und Mord verbunden wäre, ist unsittlich und
für die Sache selbst schädlich, wie es die Geschichte vielmals gezeigt
hat), aber zum Glück ist dieser Weg in unserer Zeit nicht mehr möglich.
Schon lange ist die Zeit vorüber, wo die Regierungen noch naiv an ihre
für die Menschheit wohltätige Mission glaubten und keine Vorsichtsmaßregeln
gegen Empörungen ergriffen (es gab damals auch keine
Eisenbahnen und Telegraphen). So wurden sie denn damals auch leicht gestürzt,
wie es in England im Jahre 1640, in Frankreich zur Zeit der großen Revolution
und später in Deutschland im Jahre 1848 geschah. Seit der Zeit hat es nur
eine Revolution – 1871 – gegeben, und diese geschah unter Ausnahmeverhältnissen.
In unserer Zeit aber sind Revolutionen und Niederwerfungen von Regierungen einfach
unmöglich. Unmöglich sind sie, weil in unserer Zeit die Regierungen
ihre Überflüssigkeit und Schädlichkeit wohl erkennend und wissend,
dass an die Heiligkeit ihrer Mission heutzutage niemand mehr glaubt, sich nur
durch das Selbsterhaltungsgefühl leiten lassen und mit allen ihnen zu Gebote
stehenden Mitteln sich gegen alles das auf der Hut halten, was ihre Gewalt stürzen
oder auch nur erschüttern könnte.
Jede Regierung besitzt heutzutage eine Armee von Beamten, die durch Telegraphen,
Telephone und Eisenbahnen in Verbindung erhalten wird; sie besitzt Festungen,
Gefängnisse, mit allen neuesten Vervollkommnungen, wie Photographien und
andere anthrometrischen Einrichtungen; sie besitzt Minen, Kanonen, Flinten –
alle vollkommensten Werkzeuge der Vergewaltigung, deren Arsenal durch jede neue
Erfindung und Errungenschaft, die der Selbsterhaltung der Regierung dienlich
sein könnte, sofort bereichert wird. Sie besitzt ein organisiertes Spionagesystem,
eine erkaufte Geistlichkeit, erkaufte Künstler, eine erkaufte Presse. Vor
allem aber verfügt jede Regierung über eine Menge von durch Patriotismus,
Bestechung und Hypnose demoralisierten Offizieren und über Millionen von
physisch starken und moralisch unterentwickelten Kindern (die
Soldaten) oder von gedungenem sittlichen Pack, und alle diese Millionen,
durch die Disziplin hypnotisiert, sind zu jedem Verbrechen, das ihnen ihre Vorgesetzten
befehlen, bereit.
Und daher ist es heutzutage unmöglich, eine Regierung, die über solche
Mittel verfügt und sich immer auf der Hut befindet, durch Gewalt zu vernichten.
Keine Regierung wird es dazu kommen lassen.
Solange aber eine Regierung existieren wird, wird sie immer den Grund- und Kapitalienbesitz
protegieren und Steuern erheben, da die Großgrundbesitzer, die Beamten,
die ihre Gehälter aus den Steuern beziehen und die Kapitalisten eben Teil
der Regierung sind.
Ein jeder Versuch der Arbeiter, sich des im Privatbesitze befindlichen Bodens
zu bemächtigen, wird immer damit enden, womit er stets geendet hat –
es werden Soldaten kommen, diejenigen, die sich des Bodens bemächtigen
wollten, züchtigen und auseinander treiben, das Land aber den früheren
Besitzern zurückerstatten.
Ebenso wird auch jeder Versuch enden, die verlangten Steuern nicht zu zahlen
– es werden Soldaten kommen, die Steuern mit Gewalt einzuziehen und die
Widerspenstigen zu züchtigen.
Das nämliche wird auch mit denen geschehen, die es versuchen werden –
nicht sich der Fabrik und der Produktionswerkzeuge zu bemächtigen, nein,
nur einen Streik streng durchzuführen und fremden Arbeitern zu verwehren,
die Löhne zu unterbieten. Es werden wieder Soldaten kommen und die Teilnehmer
auseinander treiben, wie es überall geschah und geschieht, in Westeuropa
sowohl als auch in Russland.
Solange sich die Soldaten in den Händen einer Regierung befinden, die von
den Steuern existiert und mit Großgrundbesitzern und Kapitalisten verbündet
ist, ist eine Revolution unmöglich. Und solange sich die Soldaten in den
Händen der Regierung befinden, wir die soziale Ordnung eine solche bleiben,
wie sie denen wünschenswert ist, die über die Soldaten gebieten.
Fünfter Abschnitt
Und da drängt sich von selbst die Frage auf: wer sind denn diese Soldaten?
Diese Soldaten sind die nämlichen Menschen, denen das Land weggenommen
ist, die Steuern zahlen müssen und die sich in der Sklaverei der Kapitalisten
befinden.
Warum wüten denn sie, diese Soldaten, gegen ihr eigenes Fleisch?
Sie tun es darum, weil sie nicht anders handeln können. Sie können
aber darum nicht anders handeln, weil sie durch eine lange und komplizierte
Vergangenheit – ihre Erziehung, den genossenen Religionsunterricht, die
hypnotisierende Disziplin – zu einem solchen Zustand gelangt sind, in
dem sie nicht mehr denken, sondern nur gehorchen können.
Die Regierung, die in ihren Händen das vom Volke eingesammelte Geld hat,
erkauft für dieses Geld alle möglichen Befehlshaber, die die Soldaten
ausbilden, d. h. ihres menschlichen Selbstbewusstseins berauben müssen.
Vor allem aber erkauft die Regierung für dieses Geld Lehrer und Geistliche,
die den Kindern sowohl als auch den Erwachsenen mit allen Mitteln einflößen
müssen, dass er Militarismus, d. h. die Vorbereitung zum Morden, nicht
nur etwas für die Menschen Nützliches, sondern auch etwas Gutes und
Gott Wohlgefälliges sei.
Und jahrein jahraus treten die Menschen, obgleich sie es sehen, dass sie und
ihresgleichen das Volk zu Sklaven der Reichen und der Regierung machen, willig
ins Heer ein und erfüllen, einmal Soldat geworden, widerspruchslos alles,
was ihnen befohlen wird, sei es nicht nur die Schädigung ihrer Brüder,
sondern auch den Mord an ihren eigenen Eltern.
Die bestochenen Beamten, Militärbefehlshaber und Geistlichen bilden die
Soldaten aus, indem sie sie verdummen.
Die Soldaten sammeln, auf Befehl ihrer Vorgesetzten, unter Androhung von Freiheitsstrafen
und Totschlag die Steuern zum Besten der regierenden Klassen ein, die regierenden
Klassen aber verwenden einen Teil dieser Steuern zum Erkauf von Befehlshabern,
Beamten und Geistlichen.
Sechster Abschnitt
So ist denn der Kreis geschlossen und ein Ausweg scheint nicht vorhanden zu
sein.
Der von den Revolutionären vorgeschlagene Ausweg, der darin besteht, dass
man gegen Gewalt mit Gewalt kämpft, ist offenbar unmöglich.
Die Regierungen, die sich bereits im Besitze einer disziplinierten Gewalt befinden,
werden die Bildung einer anderen disziplinierten Gewalt nie zulassen.
Der Ausweg ist auch nicht der, wie einige Sozialisten meinen, dass man eine
so gewaltige wirtschaftliche Macht schaffen müsse, dass sie die schon gefestigte
und sich immer mehr festigende Macht der Kapitalisten besiegen könne. Niemals
werden die Arbeitergenossenschaften mit ihren paar armseligen Millionen imstande
sein, gegen die wirtschaftliche Macht der Milliardäre zu kämpfen,
die dazu noch durch die militärische Gewalt unterstützt werden.
Ebensowenig ist auch der Ausweg möglich, der von anderen Sozialisten vorgeschlagen
wird und in der Gewinnung der Mehrheit im Parlament besteht. Eine solche Parlamentsmehrheit
wird nichts ausrichten können, solange sich das Heer in den Händen
der Regierung befindet.
Sobald sich die Beschlüsse des Parlaments gegen die Interessen der regierenden
Klassen richten, wird die Regierung ein solches Parlament auflösen und
auseinander treiben, wie es stets geschah und geschehen wird, solange die Regierung
über das Heer verfügt.
Auch der Versuch, das Heer durch sozialistische Prinzipien zu infizieren, kann
zu nichts führen. Die Hypnotisierung des Heeres wird so geschickt ausgeführt,
dass selbst der am freiesten denkende und vernünftigste Mensch, solange
er sich im Heere befindet, immer das erfüllen wird, was von ihm verlangt
wird.
So bieten denn weder die Revolution, noch der Sozialismus einen Ausweg.
Wenn es einen Ausgang gibt, so ist der, der bis jetzt noch nie benutzt worden
ist, und der dennoch allein geeignet ist, die ganze, so kompliziert und geschickt
eingerichtete Regierungsmaschinerie zu zerstören, vermittelst derer das
Volk geknechtet ist. Dieser Ausgang besteht darin, dass man den Militärdienst,
noch ehe man unter den verdummenden und demoralisierenden Einfluss der Disziplin
gelangt ist, verweigert.
Dieser Ausgang ist der einzig mögliche und zugleich auch der unbedingt
notwendige für jeden einzelnen Menschen. Er ist der einzig mögliche,
da sich die jetzt geübte Vergewaltigung auf eine dreifache Tätigkeit
der Regierungen stützt: auf die Beraubung des Volkes, auf die Verteilung
des geraubten Geldes unter denen, die diesen Raub ausführen, und auf die
Zwingung des Volkes zum Militärdienst.
Der einzelne Mensch kann die Regierung nicht daran hindern, das Volk mit Hilfe
des Heeres zu berauben, er kann sie auch nicht hindern, das vom Volke geraubte
Geld unter denen zu verteilen, die für die Regierung die Anwerbung und
Verdummung der Soldaten besorgen. Wohl aber kann er es hindern, dass das Volk
Militärdienste leistet, indem er selbst nicht Soldat wird und den anderen
Menschen das Wesen des Betrugs erklärt, dem sie zum Opfer fallen, indem
sie Soldaten werden.
Aber nicht genug, dass jeder einzelne Mensch es tun kann,
ein jeder ehrliche Mensch muss es
auch tun. Ein jeder ehrliche Mensch muss es darum tun, weil die Leistung des
Militärdienstes die Verleugnung jeder Religion ist
(welche es auch sei – jede Religion verbietet den Mord), die Verleugnung
der menschlichen Würde und Eintritt in eine Sklaverei, deren einziger Zweck
der Mord ist.
Dies ist der einzig mögliche, notwendige und unumgängliche Ausgang
aus dem Kreise jener Knechtung, in der die regierenden Klassen die Arbeiter
halten.
Nicht darin liegt das Mittel, dass man mit Gewalt Gewalt zerstört, nicht
in der Aneignung der Produktionswerkzeuge oder in der Bekämpfung der Regierungen
durch die Parlamente, sondern darin, dass jeder Mensch für sich selbst
die Wahrheit erkennt und ihr entsprechend handelt.
Die Wahrheit aber, dass der Mensch seinen Nächsten nicht töten darf,
ist von der Menschheit schon so weit erkannt, dass sie jeder Mensch weiß.
Wenn nur die Menschen ihre Kräfte nicht an die äußeren Erscheinungen
vergeuden, sondern sie gegen die Ursache dieser Erscheinungen und an ihr eigenes
Leben wenden wollten, und wie Wachs am Feuer würde jene Macht der Gewalt
und des Bösen zerschmelzen, die jetzt den Menschen knechtet und quält.
Oktober 1900, Leo Tolstoi
Aus: Graf Leo Tolstoi, Aufruf an die Menschheit. Einzig
bevollmächtigte Übersetzung von Wladimir Czumikow. Verlegt bei Eugen
Diederichs, Leipzig 1901 (S.50-69)