Henry David Thoreau (1817 – 1862)
Nordamerikanischer Schriftsteller und Sozialkritiker,
der in Harvard studierte und der engste Freund Ralph Waldo Emersons
wurde, dessen idealistischen Individualismus er in die Tat umsetzte.
In seinem Werk verbindet er Mystik, Naturphilosophie und Transzendentalismus. Über sein Leben im selbst gezimmerten Blockhaus am Walden Pond bei
Concord (1845—47) berichtet sein Tagebuch »Walden, or life in
the woods« (Walden oder Leben in den Wäldern), aus dem die folgenden
Textauszüge entnommen wurden. In seiner Schrift »On the duty
civil disobedience« (Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den
Staat) forderte er zum Widerstand gegen den kapitalistischen Materialismus und seine staatlichen Institutionen auf. Er setzte sich auch für die
Sklavenbefreiung ein. Als Bejaher rousseauischer Lebensformen beeinflusste
er das europäische und indische Denken (Gandhi). Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Zum einfachen
Leben erwachen
Der Mensch, der nicht glaubt, daß jeder Tag eine frühere, heiligere
und heller vom Morgenrot durchglühte Stunde mit sich bringt, als all diejenigen,
welche er bereits entweihte, hat am Leben verzweifelt. Er wandelt auf abschüssigen,
dunklen Pfaden. Nach einem zeitweiligen Stillstand des Sinnenlebens fühlt
sich die Seele des Menschen (oder viel¬mehr fühlen sich die Organe
der Seele) täglich neu gestärkt und des Menschen Genius versucht aufs
neue das Leben so edel wie möglich zu gestalten. Alle großen Ereignisse,
so möchte ich behaupten, werden in der Morgenstunde, im Morgenlicht gezeitigt.
Für den, dessen elastische, kraftvolle Gedanken mit der Sonne gleichen
Schritt halten, ist der Tag ein ununterbrochener Morgen. Was die Uhren oder
die Menschen durch ihr Tun und Treiben sagen, ist ganz nebensächlich. Der
Morgen ist da, wenn ich erwacht bin, wenn ich einen Sonnenaufgang in mir spüre.
Das Streben, den Schlaf abzuschütteln, nenne ich Umwertung der Moral. Warum
geben denn die Menschen einen so stümperhaften Bericht über ihren
Tag? Doch nur weil sie schliefen. Sie sind durchaus keine schlechten Rechenmeister.
Wenn die Schläfrigkeit sie nicht überwältigt hätte, sie
würden etwas getan haben. Für körperliche Arbeit sind Millionen
wach genug. Aber nur ein einziger unter dieser Million ist wach genug zu wirksamen,
geistigen Leistungen, nur ein einziger unter hundert Millionen zu einem poetischen,
göttlichen Leben. Erwacht sein, heißt leben! Ich habe noch nie einen völlig erwachten Menschen gesehen. Wie hätte
ich ihm ins Antlitz schauen können!
Wir müssen lernen wieder wach zu werden und uns wach zu erhalten, nicht
durch mechanische Hilfsmittel, sondern durch das unendliche Erwarten des Sonnenaufgangs.
Das darf uns selbst im tiefsten Schlummer nicht verlassen. Ich kenne keine ermutigendere
Tatsache als die unbestreitbare Fähigkeit des Menschen, sein Leben durch
bewußte Anstrengungen auf eine höhere Stufe zu erheben. Es will schon
etwas heißen, wenn man ein eigenartiges Bild malen, eine Statue meißeln,
einigen wenigen Dingen Schönheit verleihen kann. Doch weitaus ruhmvoller
wäre es die Atmosphäre, das Medium selbst, durch welches wir hindurchsehen,
zu meißeln und zu malen. Moralisch sind wir dazu imstande. Auf die Beschaffenheit
des Tages einzuwirken, das ist die höchste Kunst. Jedermann hat die Verpflichtung
sein Leben auch in Einzelheiten so zu gestalten, dass es selbst in seiner
feierlichsten und kritischsten Stunde als der Betrachtung würdig sich erweist.
Ich zog in die Wälder, weil ich den Wunsch hatte mit Überlegung zu
leben, »alle Wirkenskraft und Samen« zu schau‘n, zu ergründen, ob ich nicht lernen konnte was ich lehren
sollte, um beim Sterben vor der Entdeckung bewahrt zu bleiben, daß ich
nicht gelebt habe. Ich wollte nicht das leben, was kein Leben war; das Leben
ist so kostbar. Auch wollte ich keine Entsagung üben, höchstens im
Notfall. Ich wollte tief leben, alles Mark des Lebens aussaugen, so herzhaft
und spartanisch leben, daß alles, was nicht Leben war, aufs Haupt geschlagen
würde. Ich wollte mit großen Zügen knapp am Boden mähen,
das Leben in die Enge treiben und es auf die einfachste Formel bringen. Und
sollte es sich gemein erweisen, nun dann wollte ich seine ganze, unverfälschte
Gemeinheit auskosten, um sie der Welt zu künden. War es jedoch rein, so
wollte ich dies aus eigner Anschauung erkennen und imstande sein, bei meinem
nächsten Ausflug ehrlich Rechenschaft darüber abzulegen. Die meisten
Menschen sind nämlich, meines Erachtens, darüber mit sich im
Unklaren, ob das Leben vom Teufel oder von Gott stammt, und so haben sie, »halbwegs
übereilt« geschlossen, dass der Hauptzweck des Menschen
auf Erden sei »Gottes Lob und Preis zu singen in
alle Ewigkeit.«
Wenn die Menschen nur getreulich die Wirklichkeit beachten und sich nicht täuschen
lassen wollten, so würde ihnen das Leben (um es mit etwas, was wir kennen,
zu vergleichen) wie ein Zaubermärchen, wie ein Märchen aus »Tausend
und eine Nacht« vorkommen. Wenn wir nur auf das unser Augenmerk
richteten, was unvermeidlich ist und Existenzberechtigung besitzt, so würden
die Straßen von Musik und Poesie widerhallen. Wenn wir ohne Übereilung
und weise sind, so erkennen wir, daß nur große und würdige
Dinge ewig und absolut sind — daß winzige Sorgen und winzige Freuden
nur Schatten der Wirklichkeit darstellen. Und dieser Gedanke stimmt froh und
stolz. Weil die Menschen ihre Augen schließen und schlafen und sich durch
Phantome betrügen lassen, wollen sie überall ihr Leben schematisch
— auf rein illusorischer Basis — errichten. Kinder, die Leben spielen,
begreifen seine wahren Gesetze und Beziehungen klarer als Erwachsene, die es
nicht würdig verbringen können, die sich aber wegen ihrer Erfahrungen,
d.h. wegen der erlittenen Enttäuschungen für weiser halten.
Die Zeit ist nur ein Strom, in dem ich fische. Ich trinke aus ihm, doch während
ich trinke, sehe ich den sandigen Grund und entdecke, wie flach der Strom ist.
Seine schwachen Wellen fließen dahin, doch die Ewigkeit
bleibt. Ich will einen tiefen Trunk tun. Ich will im Himmel fischen,
dort liegen Sterne als Kiesel am Grund.
Die Menschen glauben, die Wahrheit ist in weiter Ferne, an den Grenzen der Welt
hinter dem letzten Stern, vor Adam und nach dem letzten Menschen. Allerdings,
in der Ewigkeit liegt etwas Erhabenes und Wahres. Aber all diese Zeiten und
Orte und Gelegenheiten sind jetzt und hier. Gott steht in diesem Augenblick
im Zenith, und wird in der Flucht aller Äonen nicht göttlicher sein.
Wir können nur dann Erhabenes und Edles begreifen, wenn wir ohne Unterlaß
die uns umgebende Wirklichkeit mit allen Fasern aufsaugen. Der Kosmos entspricht
immer und gehorsam unsern Vorstellungen. Ob wir langsam oder schnell reisen
— der Weg ist uns vorgezeichnet. Das Leben verbringen und das Leben begreifen
sei Eines nur.
Wenn es wirklich zum Sterben geht, so lasst uns das Röcheln in unsrer
Kehle hören, lasst uns die Kälte in unsern Gliedern fühlen.
Wenn wir aber leben, so wollen wir unsre Pflicht tun.
Entnommen aus: Georg Hahn (Hrsg.) Der Glaube der Denker
und Dichter. Selbstzeugnisse aus zwei Jahrhunderten S.59ff.
Kreuz Verlag Stuttgart Berlin