Johannes Nikolaus Tetens (1736 – 1807)

  Deutscher Mathematiker, Philosoph und Psychologe, der als Metaphysiker von der Leibniz-Wolffschen Philosophie insofern beeinflusst ist, als dass er die Seele und die Elemente der Dinge ebenfalls als unkörperliche Substanzen auffasst. Im Gegensatz zu Wolff versucht Tetens jedoch seine Philosophie - von einem empirisch-psychologischen Ansatz - aus den Grundlagen der Erkenntnis und der Wissenschaft abzuleiten, wobei er u. a. von Hume, Locke, Reid, Bonnet beeinflusst ist. Von Bedeutung ist auch seine frühzeitige Auseinandersetzung mit Kant (insbesondere in Bezug auf Gottesbegriff und Gottesbeweise).

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Die Notwendigkeit einer allgemeinen Grundwissenschaft
So eine Absicht macht nun den Philosophen, die über Gott, über die Seele des Menschen und über das Ganze der wirklichen Dinge nachdenken, eine ausgearbeitete Grundwissenschaft nicht nur nützlich, sondern in vielen Hinsichten unentbehrlich, so unentbehrlich, als Keplern und Newton die Geometrie und Arithmetik waren. Beobachtung und Raisonnement geben uns alles unser Wissen von wirklichen Dingen. Diese beide können sich bis auf einen gewissen Grad einander ersetzen, wie die Observation und der Kalkül in der Astronomie.

Wo die Gegenstände vor unsre Sinnen liegen, und wo sie sich an mehrern Seiten und in verschiednen Umständen durch die Sinne beikommen lassen, da ist eine Erfahrungseinsicht in die Natur der Dinge und in ihren Beziehungen aufeinander möglich, die — zwar nicht ohne ein Raisonnement — aber doch ohne entwickelte Spekulation aus allgemeinen Begriffen zu erlangen stehet.

Je weniger dagegen die Objekte empfindbar für uns sind; je mehr wir mit einseitigen Eindrücken von ihnen uns behelfen müssen; je geringer ihre Ähnlichkeit mit andern empfundnen Gegenständen ist: desto unentbehrlicher werden uns die allgemeinen Theorien; woferne anders solche Dinge jemals Gegenstände unsrer Erkenntnis werden können. Zu welcher von diesen Klassen die metaphysischen Gegenstände gehören, zeiget die mittelmäßigste Aufmerksamkeit auf die Untersuchungen, die man in dieser Wissenschaft angestellet hat.
Da sind es die Eigenschaften des unendlichen Wesens, das über alle Sinne erhaben ist; seine geistige Natur, und seine Verhältnisse gegen die Geschöpfe; es ist die innere Naturkraft in der Seele und ihre Beziehungen auf die übrigen Teile der Schöpfung; es sind die ersten Elemente der Körper, die durch keine Zergliederung sinnlich gemacht werden können; es ist die Verkettung der Teile des ganzen Wesensystems untereinander; lauter Gegenstände, davon das meiste weiter außer dem Kreis unsrer Beobachtungen lieget als die entferntesten Fixsterne außer der Erde; und dennoch will die nachforschende Vernunft etwas von ihnen wissen.

Wenn sie alle Erfahrungen sammlet, die sie um sich herum haben kann, und von diesen wie von einem Standort der Betrachtung ausgehet; so ist der Abstand zwischen ihr und den Objekten, die sie erreichen will, unendlich. Es ist nicht begreiflich, wie ein Mittel möglich sei, über diese Kluft herüberzukommen, wenn nicht dieselbige Vernunft, die sich durch ihre mathematischen Theorien einen Weg durch die Sternenwelt gemacht hat, hier ein ähnliches Hilfsmittel sich verschaffen kann. Man kann zwar einige Grundkenntnisse von intellektuellen Gegenständen angeben, die über alle Maßen einleuchtend sind.

Die große Wahrheit: Es ist ein Gott, hat ein Licht an sich, welches wie das Licht einer Sonne durch den ganzen unerme
sslichen Raum in ein jedes verständiges Wesen hineinfällt, so bald die Reflexion nur zur Aufnahme irgendeiner Einsicht zubereitet ist. Aber wie viele gibt es dergleichen Kenntnisse mehr, wenn die Vernunft

entfernet von irdischen Begriffen
Im weiten Ozean der Gottheit wagt zu schiffen?


und wenn sie überall eine Gewissheit suchet, von der sie selbst Rechenschaft geben kann? Das Verfahren des Verstandes in der Naturlehre ist mit einer Schiffahrt verglichen worden, die wie der Alten ihre sich beständig an den Küsten hält. Man raisonniert in der Physik; und wenn sie Philosophie, und nicht bloß eine Naturgeschichte sein soll; so muss man noch mehr darin raisonnieren. Aber man hat immer ein Auge auf die Erfahrungen, und siehet nach diesen wie nach Ufern und Leuchttürmen, und kehret auch bald wieder zurück, wenn man solche aus dem Gesicht verloren hat. Will man diese Vergleichung fortsetzen; so ist die Metaphysik eine Reise um die Welt, über den Ozean, wo man nur hie und da an einigen allgemeinen Erfahrungssätzen etliche Inseln und Ufer antrifft, durch die man von ihrer genommenen Richtung belehret werden kann. Die Leidenschaften sind die Stürme, die Vorurteile die Klippen, die die Vernunft zurückwerfen oder scheitern lassen. Wie viele Ursachen gibt es also nicht hier, mehr als anderswo, sich mit guten Kompassen, Karten und Fernröhren zu versehen, und sich in der Kunst zu steuern vorhero festzusetzen. Wie viele Gründe hat man, die Vernunftlehre und die Grundphilosophie zu studieren! ...

Es werden
reelle Grundbegriffe erfordert. Nicht genug, dass sie genau bestimmt sind, ja nicht genug, dass sie von einer Seite deutlich entwickelt sind. Dem ohnerachtet könnten sie ganz oder zum Teil ein sachenleeres Wortwerk sein. Es muß alles, was in unsern allgemeinen Notionen nur subjektivisch ist, was unsre eigne Denkkraft hinein trägt, von dem, was wirklich objektivisch ist, was Sachen außer dem Verstande entspricht, sorgfältig abgesondert werden. Das letztere macht die Realität der Begriffe aus. Dies ist es, was sie für uns zu einer reinen Luft macht, wodurch wir die Gegenstände sehen. Ist das Subjektivische mit dem Objektivischen vermischet, so entstehen Dünste und Nebel; die Gegenstände werden aus ihrer wahren Lage gerückt und schwankend, und man sieht zuweilen, was nicht da ist, so wie man, was wirklich da ist, übersiehet
. S.193ff.
Aus: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von Raffaele Ciafardone, Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667, © 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart