Johannes Nikolaus Tetens (1736 – 1807)
Deutscher
Mathematiker, Philosoph und Psychologe, der als Metaphysiker von
der Leibniz-Wolffschen Philosophie insofern
beeinflusst ist, als dass er die Seele und die Elemente der Dinge ebenfalls
als unkörperliche Substanzen auffasst. Im Gegensatz zu Wolff
versucht Tetens jedoch seine Philosophie
- von einem empirisch-psychologischen Ansatz - aus den Grundlagen der Erkenntnis und der Wissenschaft abzuleiten, wobei er u. a. von Hume,
Locke, Reid, Bonnet beeinflusst ist. Von Bedeutung ist auch seine frühzeitige Auseinandersetzung mit Kant (insbesondere in
Bezug auf Gottesbegriff und Gottesbeweise). Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Die Notwendigkeit
einer allgemeinen Grundwissenschaft
So eine Absicht macht nun den Philosophen, die über
Gott, über die Seele des Menschen und über das Ganze der wirklichen
Dinge nachdenken, eine ausgearbeitete Grundwissenschaft nicht nur nützlich,
sondern in vielen Hinsichten unentbehrlich, so unentbehrlich, als Keplern
und Newton die Geometrie und Arithmetik waren. Beobachtung
und Raisonnement geben uns alles unser Wissen von wirklichen Dingen. Diese beide
können sich bis auf einen gewissen Grad einander ersetzen, wie die Observation
und der Kalkül in der Astronomie.
Wo die Gegenstände vor unsre Sinnen liegen, und wo sie sich an mehrern
Seiten und in verschiednen Umständen durch die Sinne beikommen lassen,
da ist eine Erfahrungseinsicht in die Natur der Dinge und in ihren Beziehungen
aufeinander möglich, die — zwar nicht ohne ein Raisonnement — aber doch ohne entwickelte Spekulation aus allgemeinen Begriffen zu erlangen
stehet.
Je weniger dagegen die Objekte empfindbar für uns sind; je mehr wir mit einseitigen Eindrücken von ihnen uns
behelfen müssen; je geringer ihre Ähnlichkeit mit andern empfundnen
Gegenständen ist: desto unentbehrlicher werden uns die allgemeinen Theorien;
woferne anders solche Dinge jemals Gegenstände unsrer Erkenntnis werden
können. Zu welcher von diesen Klassen die metaphysischen Gegenstände
gehören, zeiget die mittelmäßigste Aufmerksamkeit auf die Untersuchungen,
die man in dieser Wissenschaft angestellet hat. Da sind
es die Eigenschaften des unendlichen Wesens, das über alle Sinne erhaben
ist; seine geistige Natur, und seine Verhältnisse gegen die Geschöpfe;
es ist die innere Naturkraft in der Seele und ihre Beziehungen auf die übrigen
Teile der Schöpfung; es sind die ersten Elemente der Körper, die durch
keine Zergliederung sinnlich gemacht werden können; es ist die Verkettung
der Teile des ganzen Wesensystems untereinander; lauter Gegenstände,
davon das meiste weiter außer dem Kreis unsrer Beobachtungen lieget als
die entferntesten Fixsterne außer der Erde; und dennoch will die nachforschende
Vernunft etwas von ihnen wissen.
Wenn sie alle Erfahrungen sammlet, die sie um sich herum haben kann, und von
diesen wie von einem Standort der Betrachtung ausgehet; so ist der Abstand zwischen
ihr und den Objekten, die sie erreichen will, unendlich. Es ist nicht begreiflich,
wie ein Mittel möglich sei, über diese Kluft herüberzukommen,
wenn nicht dieselbige Vernunft, die sich durch ihre mathematischen Theorien
einen Weg durch die Sternenwelt gemacht hat, hier ein ähnliches Hilfsmittel
sich verschaffen kann. Man kann zwar einige Grundkenntnisse von intellektuellen
Gegenständen angeben, die über alle Maßen einleuchtend sind.
Die große Wahrheit: Es
ist ein Gott, hat ein
Licht an sich, welches wie das Licht einer Sonne
durch den ganzen unermesslichen Raum in ein jedes verständiges Wesen
hineinfällt, so bald die Reflexion nur zur Aufnahme irgendeiner
Einsicht zubereitet ist. Aber wie viele gibt es dergleichen Kenntnisse
mehr, wenn die Vernunft
entfernet von irdischen Begriffen
Im weiten Ozean der Gottheit wagt zu schiffen?
und wenn sie überall eine Gewissheit suchet, von der sie selbst Rechenschaft
geben kann? Das Verfahren des Verstandes in der Naturlehre ist mit einer Schiffahrt
verglichen worden, die wie der Alten ihre sich beständig an den Küsten
hält. Man raisonniert in der Physik; und wenn sie
Philosophie, und nicht bloß eine Naturgeschichte
sein soll; so muss man noch mehr darin raisonnieren. Aber man
hat immer ein Auge auf die Erfahrungen, und siehet nach diesen wie nach Ufern
und Leuchttürmen, und kehret auch bald wieder zurück, wenn man solche
aus dem Gesicht verloren hat. Will man diese Vergleichung
fortsetzen; so ist die Metaphysik eine Reise um die Welt, über den Ozean,
wo man nur hie und da an einigen allgemeinen Erfahrungssätzen etliche Inseln
und Ufer antrifft, durch die man von ihrer genommenen Richtung belehret werden
kann. Die Leidenschaften sind die Stürme, die Vorurteile die Klippen,
die die Vernunft zurückwerfen oder scheitern lassen. Wie viele Ursachen gibt es also nicht hier, mehr als anderswo, sich mit guten Kompassen, Karten
und Fernröhren zu versehen, und sich in der Kunst zu steuern vorhero festzusetzen.
Wie viele Gründe hat man, die Vernunftlehre und die Grundphilosophie zu
studieren! ...
Es werden reelle Grundbegriffe erfordert.
Nicht genug, dass sie genau bestimmt sind, ja nicht genug, dass sie
von einer Seite deutlich entwickelt sind. Dem ohnerachtet könnten sie ganz
oder zum Teil ein sachenleeres Wortwerk sein. Es muß alles, was in unsern
allgemeinen Notionen nur subjektivisch ist, was unsre eigne Denkkraft hinein trägt, von dem, was wirklich
objektivisch ist, was Sachen außer dem Verstande entspricht,
sorgfältig abgesondert werden. Das letztere macht die Realität
der Begriffe aus. Dies ist es, was sie für uns zu einer reinen
Luft macht, wodurch wir die Gegenstände sehen. Ist das Subjektivische mit
dem Objektivischen vermischet, so entstehen Dünste und Nebel; die Gegenstände
werden aus ihrer wahren Lage gerückt und schwankend, und man sieht zuweilen,
was nicht da ist, so wie man, was wirklich da ist, übersiehet. S.193ff.
Aus: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von
Raffaele Ciafardone, Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667, © 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart