Gerhard Szczesny (1918 - 2002 )

    Deutscher Kulturphilosoph und Publizist, der nach Studium in Königsberg, Berlin und München1940 zum Dr. phil. promovierte. Er gründete 1961 die Humanistische Union und leitete von 1962 - 68 einen eigenen Verlag. Gerhard Szczesny verfasste zeit- und religionskritische Schriften. Er, der sich selbst als »Nichtchristen« bezeichnete, zeichnete sich durch eine humanitäre Toleranz aus, die man bei manchem »Christen« noch vermisst. Auf argumentativer Basis suchte er den kritischen und weltoffenen Dialog mit Christen, der z.B. im Briefwechsel mit dem katholischen Historiker und Kulturphilosophen Friedrich Heer verfolgt werden kann. Er schickte einen einunddreißigteiligen Fragebogen mit metaphysischen Grundsatzfragen an prominente und aussagefähige Repräsentanten der großen Weltreligionen. Die erhellenden Antworten von Kurt Wilhelm (Judentum), Johann Baptist Metz, Karl Rahner (Katholizismus), Ernst Wolf (Protestantismus), Muhammad Asad (Islam), B. H. Bon (Hinduismus), Anagarika Govinda (Buddhismus) veröffentlichte er unter dem Titel »Die Antwort der Religionen«.

Siehe auch Wikipedia

Inhaltsverzeichnis
Das Christentum oder die Verewigung einer frühen Theologie
Weshalb sich die Heiden bekehren ließen

Das Christentum oder die Verewigung einer frühen Theologie

So bemerkenswert sich die Geschichte der mittelmeerischen und kontinentalen Ausbreitung des Christentums liest, so wenig ist zu verkennen, daß sich mit dieser einem ganz spezifischen Glaubenserlebnis entspringenden Heilsbotschaft eine dogmatische Festlegung des Selbst- und Weltverständnisses vollzog, die auf die Dauer mit der sich in ganz anderer Richtung und Art entwickelnden Mentalität der europäischen Völker nicht zu vereinbaren war. Die eingeborene Neigung des kontinentalen Menschen, die Erscheinungen der ihn umgebenden Welt forschend zu durchdringen und den in der Natur augenscheinlich waltenden objektiven Gesetzmäßigkeiten nachzuspüren, mußte früher oder später zu einem unlösbaren Konflikt mit einer Religion führen, die zwar von gewaltiger spiritueller Kraft war, in ihrer antiobjektivistischen Grundeinstellung aber die verbindliche Selbstgesetzlichkeit der Dinge ignorierte und verfehlte.

Das Christentum ist seinem Anspruch, nicht aber seinem Ursprung nach eine »Welt«religion. Die charakteristischen Grundelemente seiner Glaubensbotschaft wurden von einem Volk entwickelt, dessen geschichtliche und geographische Situation man sich eigentümlicher gar nicht vorstellen kann. In der Phase der Menschheitsgeschichte, in der die Hochreligionen des Buddhismus, des Christentums und des Islam entstehen, wurzeln die Kulturen, aus denen sie hervorgehen, noch fest in ihren ganz verschiedenartigen Lebensräumen. Die Deutungsversuche dieser Hochreligionen entspringen einem unverwechselbar durch Landschaft, Klima und geschichtliches Schicksal geprägten Weltverständnis. Eine wirkliche Weltreligion wäre erst denkbar, wenn der Vermenschheitlichungs- und Zivilisierungsprozeß so weit fortgeschritten wäre, daß ein von jeder kulturspezifischen Färbung freies, allen Völkern gleichermaßen eigenes Weltbewußtsein sich bilden könnte. Wir erst stehen am zaghaften Beginn einer solchen Entwicklung, die in ihrem Verlauf den Typus der Hochreligion zum Erlöschen bringen wird. Denn dieser im mythischen und magischen Denken verhaftete Typus der Weltdeutung ist von der Bindung an eine bestimmte Kultur nicht zu trennen. Wie diese ist er Äußerung eines umweltbedingten Seelentums. So wird auch dem Zeitalter der Hochreligionen kein Zeitalter der (einen) Welt-Religion, sondern ein Zeitalter der (einen) Welt-Weltanschauung folgen.

Nun muß die Tatsache, daß eine Religion sich nicht innerhalb des eigenen Kulturbereiches entwickelt hat, sondern von, fremden Völkern übernommen wird, nicht bedeuten, daß sie prinzipiell mit den aus der eigenen Erfahrung abgeleiteten Anschauungen unvereinbar ist. Eine grundsätzliche Unvereinbarkeit ist nur dann gegeben, wenn sich die übernommenen Glaubensvorstellungen als nicht entwicklungs- und anpassungsfähig erweisen. Gerade dies aber trifft in einem äußersten Maße für das Christentum zu. Es ist der frühe und naive Niederschlag eines Konglomerats mythischer, magischer und ideologischer Vorstellungen aus ver-schiedenen Volksreligionen. Und als geoffenbarte, das heißt ein für allemal auf dieses frühe und unzutreffende Weltverständnis festgelegte Religon ist sie, gerade was diese Grundvorstellungen anbetrifft, wandlungsunfähig. Die verschiedenen Ausprägungen, die das Christentum in der Auseinandersetzung mit den ihm begegnenden fremden Kulturen erfahren hat, sind Variationen eines immer gleichen Grundthemas: des Glaubens an den durch einen Abgrund von der Welt getrennten Schöpfer-Gott, der sich den Menschen in der historischen Person seines Sohnes Jesus Christus einmalig offenbart hat und durch den von Sünde und Tod erlöst zu werden es der von Gott ausgehenden Gnade des Glaubenkönnens bedarf.

Ein Weltverständnis, das sich in einem Mythos, das heißt in einem dem Menschen zugänglichen Sinnbild der zu deutenden kosmischen und geschichtlichen Vorgänge, niederschlägt, ist nicht schon deshalb falsch und irrig, weil es Mythos ist. Was die zutreffenden von den unzutreffenden Weltbildern scheidet, sind nicht Art und Grad der Rationalisierung, sondern das den Inhalt der Welt anvisierende Schema und Bezugssystem der betreffenden Mythologie, Religion, Metaphysik oder Philosophie. Auch eine heute entwickelte Weltanschauung wäre in einem naiven Mißverständnis befangen, wenn sie die Meinung vertreten würde, daß das von ihr verfertigte Begriffs-Netz, in dem sie die Welt einzufangen sich bemüht, die allein mögliche und endgültige Formulierung der Wahrheit darstelle. Das ist ganz gewiß nicht der Fall. Aber eine solche Weltanschauung könnte ihre Aussagen am richtigen Grundriß orientieren und ihren Anschauungen das zutreffende Modell zugrunde legen. […]

Die Grundelemente der christlichen Glaubensvorstellung gehen auf ein Volk zurück, das sich zu der Zeit, zu der es diese Elemente entwickelte, in einer extrem ungünstigen Lage befand (und die es gerade deshalb zu diesem Zeitpunkt entwickelte, weil seine Lage so hoffnungslos und bedrohlich war). Die Jahrhunderte der Knechtschaft in Ägypten, die 40jährige Wander-schaft in der Wüste, die Kämpfe um die Selbstbehauptung der jüdischen Reiche in Kanaan, die Babylonische Gefangenschaft, die Unterwerfung und schließlich die Zerstreuung durch die Römer — das sind die großen Leidensstationen des jüdischen Volkes. Die Entscheidung fällt in den Jahren der Wanderung durch die Wüste. Am Berge Sinai wird Jahwe der Gott Israels. Es ist Moses, der den Bund mit ihm schließt und das Selbstgefühl seines Volkes rettet, indem er es zwingt, das ihm widerfahrende Schicksal als Zeichen seines Auserwähltseins und als Heilsweg auf sich zu nehmen.

Erniedrigt und verloren sieht sich das jüdische Volk einem Schicksal ausgeliefert, das menschlicher Vernunft und menschlichem Rechtsempfinden unbegreiflich bleiben mußte. Um die Willkür solchen Schicksals ertragen zu können, gab es nur ein Mittel: diese Willkür zu heiligen und in den eigenen Willen aufzunehmen. Der zornige Gott Israels spiegelt nicht nur die verzweifelte Lage des jüdischen Volkes nach dem Auszug aus Ägypten, sondern er rechtfertigt sie. Angst und Elend, Sklaverei und Umhergetriebenwerden sind Zeichen der Verheißung. Es sind Prüfungen, die Gott auferlegt, um Israel seine Gnade zu erweisen. Damit ist das jüdische Volk durch seine Geschichte ein Volk Gottes geworden. Das, was ihm widerfährt, sind nicht politische Wech¬selfälle, sondern überirdische Heilsvorgänge. Der jüdische Glaube ist Geschichtsmetaphysik, er entspringt der Überzeugung, in einen Ablauf von Ereignissen gestellt zu sein, denen gerade deshalb, weil es so außerordentliche und unbegreifliche Ereignisse sind, eine letzte Verheißung innewohnen muß. Aus dem Volk der Juden ist das Volk Gottes, eine durch den Glauben geeinte und ausgezeichnete Gemeinschaft geworden. Gott hat es aus Ägypten geführt, und er wird es ins Gelobte Land leiten.

Diese Ideologisierung vollzieht sich jedoch nicht unbewußt und allmählich, sondern wird durch Moses in einem grandiosen Akt der Gesetzgebung und Verkündigung herbeigeführt. Am Berge Sinai hat sich Jahwe als Gott Israels offenbart und seinem Volk zu erkennen gegeben, was er fortan von ihm erwartet. Gott ist ein höchst persönlicher Gott. Grund und Ziel seiner Entscheidungen sind menschlichem Verständnis unzugänglich, aber es sind ganz konkrete Entscheidungen. Er ist das persönlich und autokratisch gedachte Gegenbild zu der seinem Willen ausgelieferten Kreatur. Deren höchste Tugenden sind Demut und Gehorsam, Er-gebung in den Willen Gottes. Zwischen dem Schöpfer-Gott und seinem Menschen-Geschöpf klafft ein Abgrund. Die jüdische Gottesvorstellung ist reiner Monotheismus und reine Trans-zendenz. Ein Monotheismus, wie ihn mit dieser Entschiedenheit später nur noch der Islam vertritt. Eine der Konsequenzen dieser personalistischen und dämonistischen Gottesvorstellung ist die Bereitschaft, das Außerordentliche, das Wunder — sei es glückverheißend oder schrecklich — jederzeit zu erwarten. Das Leben ist eine Kette von Willensäußerungen Gottes, die man hinnehmen, aber weder begreifen noch gar beeinflussen kann.

Unter solchen Aspekten kann sich nur schwer der Sinn für vernünftiges politisches Handeln entwickeln. Die aktive Teilnahme an der Geschichte setzt den Glauben voraus, daß sie ein Medium des Menschen ist und daß man die gesellschaftlichen Probleme durch Erforschung und Anpassung lösen kann. Die Geschichts-Metaphysik des Judentums bekundet nicht einen ausgeprägten Sinn für historische Notwendigkeiten, sondern ganz im Gegenteil ein äußerstes Unverständnis dafür, daß Geschichte nicht etwas ist, was dem Menschen aus unbegreiflichen Gründen zustößt, sondern etwas, was durch ihn geschieht. Was das Verhältnis des jüdischen Volkes zur Geschichte so verwirrend und einzigartig macht, ist die Verbindung zwischen dem inbrünstigen Glauben an die Heilsbedeutung der ihm zustoßenden historischen Ereignisse und dem völligen Mangel an Verständnis für deren innere Zusammenhänge.

Die Auserwähltheitsvorstellung, die Überzeugung, daß seine Geschichte eine besondere Geschichte ist, hat Israel wie kein anderes Volk durch all die Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch gegen die Umwelt zusammen- und abgeschlossen. Der Gedanke der Anpassung und des Ausgleichs ist ihm fremd, ja Gotteslästerung. Das Paria-Dasein in Ägypten und die Isolierung in der Wüste scheinen jeden Sinn für die Möglichkeit und Notwendigkeit, sich durch politische Klugheit und zivilisatorische Aktivität zu behaupten, für alle Zeit zerstört zu haben. Und nachdem der Mechanismus dieses Mißverständnisses einmal in Gang gekommen war, wurde jedes neue Unheil zur Bestätigung eines Glaubens, der es erwartet und herbeigezwungen hat-te. Die nicht abreißende Kette von Unglücksfällen war die Bestätigung der Existenz und der Verheißung Jahwes. Da das jüdische Volk seine Erlösung von ihm und nicht von sich selbst erwartete, blieb sie aus. Das Ende war die Zerstreuung und die Flucht aus der Geschichte, wobei auf einem dieser Fluchtwege auch das Christentum entstand. Ob das Judentum heute in Israel nachholen kann, was es an Tatsachensinn und Anpassungsbereitschaft jahrtausendelang versäumt hat, muß ungewiß erscheinen, solange es sich nicht aus eigener Kraft vom Mythos der Erlösung durch Absonderung befreit hat.

Untrennbar von der geschichtlichen Situation, die den Glauben Israels geprägt hat, ist die Landschaft, in der sich sein Geschick vollzog: die Wüste. Es ist die Verdoppelung dieses Schicksals. Die Wüste wirft den Menschen auf sich selbst zurück. Ihrer überwältigenden Monotonie kann er nichts entgegensetzen als die Kraft seiner Phantasie und seines Intellekts und die strenge Ordnung einer Gemeinschaft, in der er sich birgt. Für Israel ist die Wüste nicht Lebensraum und Heimat und auch nicht Natur, in der das Göttliche waltet und sich zu erkennen gibt, sondern Niemandsland und Grenzscheide zwischen dem einen Gott und dem einen Volk. Gott ist kein mythischer, sondern ein persönlicher und unmittelbarer Gott. Der alleinige Schauplatz der Zwiesprache und Auseinandersetzung mit ihm ist das menschliche Kollektiv. So wird das Volk zum anderen Mal Quell und Zentrum der jüdischen Existenz. Nur im strengen Vollzug des gemeinschaftlichen Lebens ist Geborgenheit und Sicherheit. Nur so ist verständlich und ertragbar, daß Gott sein Volk aus der Einsamkeit der Sklaverei in die Einsamkeit der Wüste führt. Moses bringt keinen dunklen Orakelspruch vom Berge Sinai, sondern Gesetzestafeln, auf denen Jahwe klar und unmißverständlich verzeichnet hat, wie Israel zu leben hat, um ihm wohlgefällig und seiner Verheißung würdig zu sein. So entwickelt das jüdische Volk nicht nur ein ausgeprägtes heilsgeschichtliches Bewußtsein, sondern auch einen ausgeprägten Sinn für die von Gott gesetzte Ordnung der Gesellschaft. In dieser Theokratie gibt es nichts »Weltliches«. Alles empfängt seinen Sinn vom göttlichen Gebot. Es entsteht ein rigoroser Gesetzesglaube, eine pedantische Buchstabentreue, die zu einer Konzentration aller Kräfte der jüdischen Intelligenz auf die rechte Auslegung der Thora führt.

Geschichte und Landschaft haben sich vereint, um Israel zu einem Volk von unerhörter Selbstbezogenheit, Ausschließlichkeit und Absonderlichkeit zu machen. Die ungeheure Verlorenheit des Menschen in einer Welt, auf der er sich als Fremdling ausgesetzt findet, wird angesichts der Wüste zum charakteristischen Erlebnis des Judentums. Es prägt eine Haltung, die mit der Feindlichkeit und Leere der Welt Ernst macht. Gott ist ohne Gestalt und Gesicht, und die Natur enthält nichts, was wert wäre, um seiner selbst willen erkannt und ausgedrückt und abgebildet zu werden. Es gibt keinen Anlaß zur spielerischen oder forschenden Beschäf-tigung mit den außermenschlichen Dingen. Nur das aus freiem Willen Gottes und des Menschen gesprochene Wort hat Sinn und Bestand. Es ist Träger und Ausdruck einer autonomen Intellektualität, denn die Gleichförmigkeit der Wüste bietet keine Gelegenheit, das Denken an objektiven Abläufen und Unterscheidungen zu erproben und nach Zusammenhängen zu forschen, die unabhängig von den Spekulationen des Menschen sind. Hitze und Kälte, Donner und Blitz, Sturm und Überschwemmung werden ebensowenig als Naturerscheinungen empfunden wie Sklaverei und Verfolgung, Not und Entbehrung als Erscheinungen eines historischen Prozesses. In beidem offenbart sich vielmehr der herrscherliche Wille Gottes, der Demut und Gehorsam verlangt. Die leidenschaftliche Bereitschaft, das Leiden auf sich zu nehmen, ruft als Gegenidee die idealistische Wunschvorstellung des Gelobten Landes hervor, in der die Freude und Fülle, die sanfte und bunte Pracht eines Paradieses herrscht. Die Befreiung vom harten Zwang des Schicksals, auserwählt zu sein, ist nicht eine Möglichkeit des Hier und Heute, sondern Versprechung für eine ferne Zukunft.

Die Eigenart des jüdischen Weltverständnisses zeigt sich ganz erst auf dem Hintergrund der Lebenshaltung und Glaubensvorstellungen anderer Völker. In den tropischen Ländern Südost-Asiens, wo die Menschen in jener Fülle der Gestaltungen aufwachsen, die das Judentum in die Zeit der Erfüllung projiziert, entsteht gerade umgekehrt der Wunsch nach Flucht aus diesem wuchernden Überfluß. Das Endziel ist nicht die idealisierte Verewigung der irdischen Lebensbedingungen, sondern die Erlösung aus dem Kreislauf des Werdens und Vergehens. Der metaphysischen Überhöhung der Bewußtheit und Personalität, der Theologisierung der Geschichte und des Gesetzes steht in Ostasien die Verachtung alles Individuellen, Bewußten und Historischen gegenüber. Die Welt ist ein verworrener Traum Gottes, nicht die Stätte seines absichtsvollen Wirkens.

Nur in gemäßigten Zonen herrscht Ausgewogenheit zwischen Mensch und Welt. Weder wird der Mensch ganz auf sich zurückgeworfen noch auch in ein wucherndes Werden und Verge-hen von Farben, Formen und Gestaltungen verstrickt, dem er zu entrinnen wünscht. Weder wird die Distanz zur Welt zu groß und unüberbrückbar, noch wird sie zu eng und erstickend. Der Mensch vermag genügend Abstand von der Natur zu gewinnen, um sich ihr nicht ausgeliefert zu fühlen, aber sein Abstand ist nicht so weit, daß er sich nicht mit ihr verbunden wüßte. Er weiß sich ihr zugehörig, aber doch von ihr geschieden, und er ahnt, daß sie und er in einen umfassenden großen Zusammenhang gehören. Ober den Göttern der Griechen und Römer wie über denen der germanischen Stämme waltet ein Weitschicksal und Weltgesetz, dem Götter und Menschen gleichermaßen unterworfen sind. Während das Judentum die Vielgötterei überwindet, aber zum Wesenszug des einen Gottes gerade seine Transzendenz und Dämonenhaftigkeit erklärt, werden bei den kontinentalen und vielen anderen Völkern zwar noch lange polytheistische Vorstellungen beibehalten, aber diese Naturgötter bleiben als Personifikationen elementarer Kräfte und realer Phänomene in der Nähe des Menschen. Zwischen seiner und ihrer Welt gibt es mannigfache Verbindungen. Und das, was stärker ist als Menschen und Götter, wird weder in der Gestalt eines personal gedachten Gottes noch auch als eine jenseitige, über- und gegenweltliche Macht vorgestellt. Es ist vielmehr ein in der Welt und durch sie hindurch wirkendes Gesetz.

Ein solches Welt- und Selbstverständnis, in welchen Bildern und Begriffen es auch gefaßt wird, lenkt das Interesse des Menschen auf die sachliche Erforschung der ihn umgebenden Phänomene. Er wird nicht völlig in sich selbst verstrickt und erfährt die Natur nicht nur als einen Gegenstand göttlicher Willensäußerung. Sie wird ihm Erkenntnis¬objekt. Aus dem naturmythologischen entsteht das naturphilosophische und aus diesem entwickelt sich dann das eigentliche wissenschaftliche Denken. Bei den Griechen der vorsokratischen Zeit tauchen bereits 6oo vor Christus alle jene Überlegungen und Motive auf, die später dann von der eu-ropäischen Philosophie und Wissenschaft aufgenommen werden: der Versuch, alle Erscheinungen auf eine letzte Substanz (beispielsweise das Wasser oder das Feuer) oder auf ein letztes, aus der Natur abgeleitetes Prinzip (das Werden oder das Sein) zurückzuführen, und die Entdeckung der in der Natur herrschenden objektiven Gesetze, die es ermöglichen, ihre Prozesse zu durchschauen und zu nützen. In den gleichen Jahrhunderten versuchen auch die indischen Denker der vedischen Periode die Frage nach dem Wesen des Lebens aus der Naturbetrachtung abzuleiten. Ihre Überlegungen entfalten sich ausschließlich im Bereich der philosophischen und religiösen Spekulationen. Das indische Denken ist an der Erforschung der Natur interessiert, soweit diese Erforschung das innerste Wesen der Welt zutage fördert und damit dem Menschen zeigt, wie er sich aus ihrer Verstrickung zu lösen vermag. Die um ihrer selbst willen betriebene Naturforschung, die zur Beherrschung und Nutzung ihrer Kräfte führt, liegt diesem Denken fern. Wobei jedoch nicht unterschlagen werden darf, daß die alten Inder zwar nur »nebenbei«, aber doch als erste die Grundlagen der Mathematik, Astronomie und auch der Medizin entwickelt haben.

Es läßt sich genau bezeichnen, wo sich der Weg des griechischen vom indischen Denken trennt. Diese Stelle ist der Seelenwanderungsgedanke. Die Betrachtung der Natur führt in Griechenland wie in Indien zur Entdeckung des ewigen Kreislaufes alles Lebens. Der Schluß, daß also auch der Mensch immer wieder geboren wird und immer wieder stirbt, wird noch von Denkern beider Kulturen gezogen. Doch während der Glaube an die Wiederverkörperung in Griechenland nur ganz vorübergehende Bedeutung erlangt und bald wieder verdrängt wird, entwickelt er sich in Indien zu einer alle philosophischen und religiösen Systeme durch die Jahrtausende bis heute durchdringenden Grundvorstellung. Dies entspricht einem religiösen Bedürfnis, dem aus der Vorstellung der Seelenwanderung der Gedanke der Erlösung des Menschen als einer Erlösung aus dem Kreislauf des Werdens notwendig zu folgen scheint und für das sich überdies dann das »rechte Tun« als Voraussetzung dieser Erlösung aus der Kette der Wiedergeburten von selbst ergibt. Dem griechischen Denken dagegen wird der Gedanke des Kreislaufes zum Fundament der Kausalitätsvorstellung, also zur Basis der wissenschaftlichen Weltauffassung.

Die germanischen Völker haben den Schritt vom Mythos zur Naturphilosophie niemals machen können, da das, was ihre Vielgötterei ablöste, der Ein-Gott des Christentums war. Verhältnismäßig spät erst haben sie die antike Philosophie und auf diesem Umweg ihre eigene philosophische Art und Begabung wiederentdeckt. Auf diese gewaltsame Unterbrechung der eigenen geistigen Tradition dürfte das gestörte Verhältnis der westlichen und nördlichen europäischen Völker zu ihrer Vergangenheit zurückzuführen sein. Da das, was ihnen als eigene vorchristliche Vergangenheit erscheint, die barbarische Frühzeit ist, entwickelt jeder Philo-Germanismus immer die Tendenz zum bewußten Rückfall ins Barbarische, während jeder Anti-Germanismus ein Ressentiment ist, das auf der Identifizierung dieses Barbarischen der Frühzeit mit der germanischen Wesensart schlechthin beruht. Jene Entwicklungsphase, die der entspricht, in der die germanischen Völker vom Christentum zivilisiert werden, ist bei allen Völkern barbarisch. Eine der tiefsten und verborgensten Quellen des Anti-Christianismus der nördlichen Völker ist gewiß der Schock der gewaltsamen Konversion und das Gefühl, um die eigene Entwicklung betrogen worden zu sein.

Das jüdische Denken erweist sich als völlig naturfremd. In seine Weltvorstellung ist keinerlei objektive Naturerfahrung eingegangen. Der Natur-Gott Jahwe wurde zum Gott der Geschichte. Ursprünglich die Personifikation einer Naturkraft (wahrscheinlich des Vulkanischen), wird nicht etwa die Personifikation abgebaut, so daß das in sie eingegangene objektive Naturelement wieder zum Vorschein käme, sondern die Personifikation durch Entleerung ihres objektiven Gehaltes zum für sich selbst stehenden Prinzip gemacht. Die vermenschlichende Personalität, die man in die Natur hineingesehen hat, wird nicht zurückgenommen, sondern aus ihr herausgelöst und in den Rang einer höchsten Wesenheit gehoben. Das Band zwischen Mensch und Natur war zerschnitten. Gott ist eine jeder Tatsächlichkeit entleerte Abstraktion des menschlichen Selbstverständnisses jener Stufe und Art. Er ist ein ins Überdimensionale gesteigertes Ich. Da das entscheidendste Attribut jeder Personalität der seine Entscheidungen frei treffende Wille ist, wird der freie Wille das entscheidende Attribut Gottes. Seine Existenz und Größe erweist sich gerade dadurch, daß er sich den Menschen in Taten zu erkennen gibt, die kein anderes Motiv haben, als das, den göttlichen Willen in Erscheinung treten zu lassen. Der persönliche Gott muß ein unverständlicher Gott sein, ein Gott, der nicht belohnt, weil man sein Gebot befolgte, und der nicht bestraft, weil man es verletzte, sondern der aus eigener unbegreiflicher Macht und Vollmacht segnet und verdammt. Letzten Gehorsam erweist man ihm durch die demütige Hinnahme alles dessen, was er verhängt. Er ist das schlechthin Andere, die absolute Willkür, das der Welt als seiner Schöpfung gegenüberstehende autonome Über-Ich.

Die Läuterung des zornigen und gewalttätigen Stammesgottes der Juden zum milden Patriarchen und Vater der Christen ändert nichts am Grund-Wesenszug dieses Gottes . Er ist und bleibt ein außerhalb des Weltzusammenhanges beheimateter Dämon , dessen unerforschliche Entscheidungen den Menschen an seine Nichtigkeit erinnern. Da aber die Völker ihre Religionen nicht erdenken, um sich ihrer Verlorenheit zu vergewissern, sondern um der Ohnmacht und dem Elend ihrer Existenz zu entkommen, musste zwischen dem unbegreiflichen Herrscher-Gott und den Angehörigen des von ihm auserwählten Volkes die Möglichkeit einer Kommunikation gefunden werden. Gott wurde der Wille zugeschrieben, sich einzelnen, besonders begnadeten Menschen gelegentlich aus unbekannten Gründen und unter mysteriösen Umständen kundzutun. Die Gnade der Erwählung und Offenbarung war der von Gott her unternommene Brückenschlag zwischen Diesseits und Jenseits . Er ist nicht die Folge irgendeiner Bemühung des Menschen, der Gott weder durch Taten noch durch Einsicht nahekommen kann. Wer aber von ihm auf solche Art auserwählt wurde, war ausgezeichnet vor allen anderen. Er brachte und hütete das Gesetz, und nur durch seine Vermittlung konnte man der ewigen Verdammnis entgehen. In dieser Annahme ist die überragende Bedeutung der Propheten und die beherrschende Stellung der die heiligen Texte auslegenden und für die Befolgung des Rituals sorgenden Priester und Schriftgelehrten begründet.

Die Schriften des Alten Testamentes gelten als die unmittelbaren Diktate Gottes. Das Wort war Magie, wer es besaß und richtig anzuwenden vermochte, hatte Macht über Menschen und Dinge. Und wer sein Wissen und seinen Willen gar noch in Zeichen und Buchstaben festlegen konnte, musste Medium einer göttlichen Kraft oder das Sprachrohr Gottes selbst sein. Wenn Moses die Tafeln mit dem Gesetz brachte, musste er es nicht erst ausdrücklich sagen, dass Gott sie ihm diktiert hatte; es konnte gar nicht anders sein. Das jüdische Volk hat immer ein besonderes Verhältnis zum Wort gehabt. Die Macht des klar formulierten Gedankens und der Schrift hat aus geschichtslosen Bauern- und Hirtenstämmen ein geschichtsbewusstes Volk gemacht. Es existierte kraft eines intellektuellen Aktes und erhob sich über den Mythos durch begriffliche Abstraktion . Hier und jetzt und so und nicht anders vollzogen sich die Dinge, zu denen Israel ausersehen war. Gott drückte sich präzise aus; er war ein Gott der Willkür , aber auch ein Gott der Genauigkeit , der das Konkrete und Klare liebte.


Mit diesen Elementen des jüdischen Glaubens waren zwei Grundzüge auch des Christentums gegeben: die Vorstellung eines autonom aus dem Jenseits ins Diesseits wirkenden persönlichen Gottes und die Überzeugung, dass er seinen Willen in bestimmten Ereignissen und Schriften für alle Völker und für alle Zeiten unmissverständlich dargetan hat. Judentum und Christentum sind die Verewigung einer frühen Theologie. Der Weg zur Philosophie und Wissenschaft war verbaut. Die Annahme, dass Natur und Geschichte eigenen Gesetzen folgen, hätte die Ohnmacht Gottes unterstellt und wäre einer Leugnung seiner Existenz gleichgekommen. Die der menschlichen Fähigkeit, Zusammenhänge zu sehen und Schlüsse zu ziehen, gestellte Aufgabe konnte nicht in einem voraussetzungslosen Erforschen der Dinge, sondern nur in der Auslegung des schriftlich fixierten göttlichen Willens bestehen.

Die Juden haben Visionäre und Gesetzgeber , Propheten und Schriftgelehrte hervorgebracht, aber weder einen Thales noch einen Parmenides , weder einen Platon noch einen Aristoteles . Erst nach der Berührung mit der hellenischen Kultur und der Emanzipation jüdischer Intellektueller vom mosaischen Glauben beginnt das in vielen Jahrhunderten der Kasuistik scharf, geschmeidig und subtil gewordene jüdische Denken für Philosophie und Wissenschaft fruchtbar zu werden. Die Verstandskraft der aus dem Judentum hervorgehenden Denker ist so außergewöhnlich, dass die Geschichte der westlichen Zivilisation ohne ihren Beitrag nicht denkbar wäre. Die Neuzeit, mit der das eigentliche Zeitalter der Rationalität anhebt, verdankt ihre entscheidenden Antriebe und Umwälzungen den überragenden Leistungen jüdischer Forscher und Gelehrter. Aber diese Leistungen einzelner emanzipierter und assimilierter Juden in der nichtjüdischen Welt sind nur die Kehrseite der Tatsache, dass das orthodoxe Judentum in einem rein spekulativen und scholastischen Intellektualimus für immer steckengeblieben ist, den das Christentum übernommen und gegen das wissenschaftliche Denken seit den Tagen des Apostel Paulus ausgespielt hat. Es ist jene für höher als alle »bloße« Vernunft gehaltene Fähigkeit der menschlichen Intelligenz, von irgendeiner vorgegebenen These aus die schwindelerregendsten Begriffsgebäude zu errichten.


Hier ist auch eine der Wurzeln jener unheilvollen, die gesamte abendländische Lebenshaltung und Denktradition prägenden Trennung von Natur- und Geisteswissenschaft, die dazu geführt hat, daß sich in der westlichen Welt unter dem Namen ,,Geisteswissenschaft“ ein ausschweifender und nichtssagender Idealismus entwickelte, der es nicht nur für gänzlich unnötig, sondern geradezu für banausisch hielt (und noch hält), seine frei. schwebenden Spekulationen an der Erfahrung und am Experiment zu kontrollieren. Er geht in direkter Linie auf den jüdischen Schriftgelehrten zurück, der die heiligen Texte interpretierte und dem es gar nicht in den Sinn kam, ihren Inhalt einer kritischen Prüfung zu unterziehen.

Ein Theologe ist ein Mann, der nicht nach Gott fragt, sondern über ihn als eine unumstößliche Wahrheit redet; der sich unwiderruflich auf eine Antwort festgelegt hat, bevor sein Fragen die Grenze seiner Fähigkeit, Fragen zu stellen und darauf Antworten zu finden, wirklich erreicht hat. So wird ihm die ungenützt gebliebene Kraft seines Erkenntnisvermögens zum Antrieb, sich in der kunstvollen Auslegung vorgegebener Thesen zu versuchen und zum unüberwindlichen Hindernis, unreife Vorstellungen weiterzuentwickeln und falsche zu verwerfen.

Aber das Christentum ist nicht einfach eine jüdische Sekte. Noch ein zweiter mächtiger Strom religiösen Denkens ist in ihm eingemündet; und erst beide Elemente zusammen geben in gegenseitiger Durchdringung und Abwandlung das, was man Christentum nennt. Diese zweite, den jüdischen Glaubenskern überlagernde Schicht enthält Glaubensvorstellungen, die benachbarten Völkern — den Assyrern, Babyloniern, Persern und schließlich auch den Griechen — entlehnt sind. Entscheidend bleibt aber, daß das Christentum sich aus dem Judentum herausentwickelt hat, also nicht die jüdischen, sondern die nichtjüdischen Glaubenselemente von außen übernahm. Eine vage Vorstellung von den Ereignissen, die zu dieser Entwicklung führten, und von dem Verlauf, den sie nahm, hat man, seitdem in der Aufklärung die historische Bibelforschung begann. Inzwischen haben sich in den letzten hundert Jahren unsere geschichtlichen, archäologischen und ethnologischen, religionswissenschaftlichen und philologischen, soziologischen und anthropologischen Kenntnisse so vermehrt, daß es an der Zeit wäre, auf dieser breiten Basis eine neue umfassende Geschichte der Entstehung des Christentums zu schreiben.

Eine in ihren Ausmaßen immer noch nicht abzusehende Aufklärung über die unmittelbare Vorgeschichte des Christentums scheinen die Schriftrollen zu bringen, die man seit 1947 in großer Zahl am Westufer des Toten Meeres gefunden hat und die in hebräischer Sprache die Literatur der jüdischen Ordensgemeinschaft von Qumran enthalten, von der man annimmt, daß sie in unmittelbarem Zusammenhang mit der Sekte der Essener stand. Die Vorgänge um die Bergung und Auswertung der Rollen lesen sich wie ein spannender Roman. Man kann die sehr gemischten Gefühle verstehen, mit denen die christlichen Kirchen und auch das orthodoxe Judentum diese Funde aufgenommen haben. Denn was sich auch immer herausstellen mag: das Christentum hat eine Vorgeschichte, und es gibt eine kontinuierliche Reihe von politischen, sozialen und ideologischen Etappen, die vom Judentum zum Christentum folgerichtig hinführen. Unter solchen Umständen ist es nicht leicht, sich den Glauben daran zu bewahren, daß das, was Christus lehrte und was in den Evangelien aufgezeichnet ist, eine plötzliche und voraussetzungslose Offenbarung des Gottes-Sohnes gewesen sein soll.
Aus: Gerhard Szczesny: Die Zukunft des Unglaubens, Zeitgemäße Betrachtungen eines Nichtchristen S.20ff., Paul List Verlag (List Taschenbücher Band 387)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau Claudia Szczesny-Friedmann, München