Gerhard Szczesny (1918 - 2002 )
Weshalb sich
die Heiden bekehren ließen
Es liegt im Wesen jeder Religion, das Erlösungsversprechen von keinen sozialen
oder geistigen Leistungen abhängig zu machen, sondern die Erfüllung
ausschließlich an eine innermenschliche Bereitschaft zu binden. Wenn man
sich jedoch vergegenwärtigt, daß der Buddhismus die Vollendung nur
als Frucht einer unerhörten moralischen, seelischen und geistigen Selbstzucht
zugesteht und auch Judentum und Islam die Einhaltung rigoroser sozialer, sittlicher
und ritueller Vorschriften fordern, so wird deutlich, daß das
Christentum der extreme Fall einer reinen Glaubensreligion ist. Der Gedanke,
daß es die bedingungslose Hingabe an Christus ist
die den Christen zum Auserwählten Gottes macht ist so vorherrschend,
daß demgegenüber die Bedeutung moralischer Anstrengungen und der
Gesetzestreue zurücktritt und sich jedes geistige Ringen um die Wahrheit
gar als absurd und gefährlich erweist. Obwohl Paulus mit der Philosophie
seiner Zeit in engste Berührung gekommen ist und sich vor allem Einflüsse
der stoischen Lehren in seinen Briefen nachweisen lassen, hält er den Erkenntniswert
der Philosophie nicht nur für gering, sondern ihre Bemühungen grundsätzlich
für aussichtslos und irreführend. Er wendet sich sowohl gegen den
Werkgerechtigkeitsglauben seines eigenen Volkes, als auch gegen das aufgeklärte
Denken der damals herrschenden stoischen und epikuräischen Philosophie.
In der Frohen Botschaft seines Herrn Jesus Christus ist ihm jene Heilslehre
begegnet, die den Gläubigen nicht nur allen Juden und Heiden ebenbürtig
macht, sondern ihm eine Würde und ein Wissen verleiht, welches durch Gesetzestreue
und Gelehrsamkeit niemals erreicht werden kann. Das Gefühl der Demütigung
schlägt in das Gefühl der Überlegenheit um. Die Christen beneiden
niemanden mehr, sondern bedauern alle, die der irrigen Anschauung sind, daß
man von den eigenen Kräften Gebrauch machen müsse, um vor den Menschen
und Göttern bestehen zu können.
Jede Religion und Weltanschauung hat ihre soziologischen Aspekte, und die Tatsache,
daß eine bestimmte gesellschaftliche Situation ihrer Verbreitung günstig
ist, besagt noch nichts über ihren Wahrheitsgehalt. Dennoch ist bei einer
sich so deutlich einem sozialen Kompensationsprozeß anpassenden Erlösungslehre
die Vermutung naheliegend, daß ihr Siegeszug weniger auf die Überzeugungskraft
ihrer Argumente, als auf die Nöte eben jener Konfliktlage zurückzuführen
ist. Was Aristokratie und Bürgertum zu Ständen macht, die fruchtbarere
Gedanken hervorbringen als Leibeigne, Kleinbauern oder Kleinbürger, ist
nicht eine angeborene größere Intelligenz, sondern die Sicherheit
ihrer gesellschaftlichen Situation. Buddha war der Sohn eines nepalesischen
Fürsten, und der Buddhismus wurde von den Angehörigen der herrschenden
arischen Kriegerkaste verbreitet und durchgesetzt. Und eben deshalb wendet er
sich auch an das Selbstvertrauen und an das Selbstbewußtsein des Menschen,
nicht an seine Ängste und Verzweiflungen. Der aus der Sicherheit und Fülle
geistiger Kraft lebende Weise, der der Welt aus Überlegenheit entsagt und
der abgeklärte Philosoph, der sich gelassen ihrer Erforschung widmet, sind
keine Vorbilder, die im Blickfeld der Menschen, die vom Christentum angesprochen
werden, auftauchen. Der Christ wünscht den Erlöser, den Propheten
und Heiligen herbei, der keine Forderungen an seinen Willen zur Selbsthilfe
stellt, sondern die Rettung als ein Geschenk verheißt. Die Welt soll nicht
bestanden, sondern außer Kraft gesetzt werden. Die Juden waren zwar als
Volk in einer permanent ausweglosen Situation, fanden doch aber als einzelne
in der festgefügten Ordnung ihres Stammes Sicherheit und Selbstgefühl.
Der Christ fand einen Halt nur in der Glaubensgemeinde, die ihm Selbstgefühl
aber nur solange und soweit verlieh, als er bereit war, alle Bindungen an sein
Volk und seinen Stand aufzugeben und auch auf das Bewußtsein jedes eigenen
Wertes zu verzichten.
Diese Ideologie der Selbstaufgabe und des Glaubens, daß der Hingabe an
einen Erlöser und dem bedingungslosen Bekenntnis zu der von ihm verkündeten
Heilsidee die erlösende Kraft innewohne, entsteht immer dann, wenn eine
Gesellschaft großen Gruppen ihrer Mitglieder die Güter des Lebens
vorenthält und auch nicht in Aussicht stellt. Soweit die Geschichte der
Völker eine ,,Geschichte von Klassenkämpfen“
ist (sie ist natürlich außerdem noch vieles andere), charakterisiert
dieser Zustand jede revolutionäre Bewegung. Auch die Geschichte der abendländischen
Utopismen und Sekten zeigt den Zusammenhang von Erniedrigung und Wunderglauben.
Dies trifft für politische wie für mystische Erlösungstheorien
zu, denn der Glaube an die Zauberkräfte der weißen und schwarzen
Magie ist nicht minder eine Kompensation menschlicher Ungeduld als alle Lehren,
die durch Zerstörung bestehender Ordnungen das Paradies auf Erden herzustellen
versprechen. Die eigentliche Wurzel jeder Hoffnung auf einen plötzlichen
radikalen Umschwung aller Dinge ist jedenfalls das Gefühl, daß der
einzelne, auf sich selbst gestellte Mensch ohnmächtig und verloren ist
und nur ein Wunder ihn retten kann. Diesen verhängnisvollen Mechanismus
kann nur eine Gesellschaftsordnung außer Kraft setzen, die sozial befriedet
und mobil ist, in der also nicht nur Not und Elend zurückgedrängt
sind, sondern auch jeder Mensch die gleiche Chance hat, zu Besitz, Ansehen und
Bildung zu gelangen.
Erst die Konzeption des demokratischen Staates ermöglicht es den Angehörigen
aller Schichten, jenes Minimum von Vertrauen in die eigene Kraft zu entwickeln,
das davon abhält, die Erlösung von einem Wunder zu erhoffen. Das Kommunistische
Manifest ist in den Ländern des Westens nicht von irgendeiner Gegenideologie,
sondern von einer Periode des allgemeinen Wohlstandes und der allgemeinen Aufstiegs-Chancen
überholt worden. Und die von den christlichen Kirchen seit langem konstatierte
,,Glaubensunfähigkeit“ und ,,Glaubensunlust“
ist unter anderem ein Resultat der Tatsache, daß das Klima einer demokratischen
und individualistischen Lebensordnung einen Willen zur Selbsthilfe und Selbsterlösung
voraussetzt, der mit dem Glauben an die alleinige Erlösungskraft übernatürlicher
und übermenschlicher Mächte schwer zu vereinbaren ist. Ein Konflikt,
der im Buddhismus wiederum nicht entstehen kann. Alle Buddhisten können
irgendwann einmal Buddha werden, kein Christ jedoch Christus. Das autoritär-patriarchalische
Verhältnis der Gläubigen zum Stifter ihres Glaubens ist im Christentum
verabsolutiert und verewigt. Es ist durch keinerlei Anstrengung des Menschen
aufhebbar. So gesehen ist der Buddhismus der Typ einer demokratischen, das Christentum
der Typ einer autokratischen Religion.
Obwohl das Christentum eine unmittelbar von den chaotischen sozialen Zuständen
der antiken Zivilisation getragene Bewegung war, lag es weder in seiner Absicht
noch in seiner Möglichkeit, daraus politische Konsequenzen zu ziehen. Die
geschichtlichen Kräfte, die es trugen und die es auslöste, wurden
religiösen Erwartungen dienstbar gemacht. So ist der erste große
Aufstand unterdrückter und unzufriedener Massen zu einer Bewegung geworden,
die keinen Zugang zur Geschichte hatte und ihn auch dann nicht fand, als sie
selbst zu einer politischen Macht größeren Ausmaßes geworden
war. Das Versagen Christi als eines ,,Königs der Juden“ wiederholte
sich auf weltgeschichtlicher Ebene als Versagen der christlichen Kirchen bei
den ihnen im Laufe der abendländischen Entwicklung zufallenden politischen
und sozialen Aufgaben. Sie zeigten sich ebenso unfähig, die endlosen kriegerischen
Auseinandersetzungen zwischen den christlichen Nationen zu verhindern, wie einen
entscheidenden Beitrag zu ihrer inneren sozialen Befriedung zu leisten.
Das eigentliche Ordnungs- und Fortschrittselement der abendländischen Geschichte
ist die antik-humanistische Tradition. Sie hat die geschichtsblinde, auf Weltende
und Weltgericht konzentrierte Spiritualität des Christentums in der Bewahrung
des römischen Rechtsdenkens und der Wiedererweckung griechischer Lebensideale
schließlich unterlaufen und im Zusammenwirken mit den vorchristlichen
Gesellschafts-Traditionen der kontinentalen Völker das Zeitalter der Demokratie
heraufgeführt. Das Christentum fand ein fruchtbares Verhältnis zur
Geschichte und Gesellschaft nur dann und dort, wo es sich aus Gründen des
Eigeninteresses zur Unterstützung und zur Rechtfertigung der jeweils herrschenden
Systeme veranlaßt sah.
Wenn man nicht glaubt, daß das Christentum seinen Siegeszug allein oder
wesentlich der Tatsache verdankt, daß es seit Konstantin römische
Staatsreligion war, sind die anderen Gründe, die die ungeheuerliche
Synthese zwischen Morgenland und Abendland zustandebrachten, in den allgemeinen
psychologischen Bedingungen zu suchen, unter denen sich die jungen kontinentalen
Völker zur neuen Welt des Abendlandes zusammenschlossen. Es war in dieser
frühen Phase der sich mit und gegen den alten mittelmeerischen Kulturkreis
ausformenden kontinentalen Reiche eine morgendliche Sehnsucht nach politischer
und geistiger Verwirklichung, nach Heldentum und Herrschaft lebendig, die ihre
moralische und religiöse Rechtfertigung suchte. Im missionarischen Auftrag
und Eifer des Christentums steckte ein leidenschaftlicher Wille zur Tat, zum
Kampf für Gottes Reich und Herrlichkeit auf Erden. Seine utopische Moral
machte das Christentum den duldsam, passiv und skeptisch gestimmten ethischen
Vorstellungen der antiken Philosophie gegenüber gerade deshalb überlegen,
weil sie sich über alle der Begeisterung abträglichen Beschränkungen
der menschlichen Natur hinwegsetzte.
Auch der Ausschließlichkeitsanspruch und das zur Intoleranz neigende Überlegenheitsgefühl
des Christentums sprachen das jugendliche Selbstgefühl an. Diesem nach
Bewährung und Prestige hier und jetzt strebenden Selbstgefühl mußten
des weiteren auch die sehr konkreten Angaben der christlichen Offenbarung entgegenkommen.
Die Verehrung eines mythischen Gottes (wie es etwa Mithras war) konnte einem
auf die Erfüllung bestimmter geschichtlicher Aufgaben gerichteten Willen
nicht zur Stärkung dienen. Christus war der historisch bezeugte, in und
durch die Geschichte wirkende Gott, der keine anderen Götter neben sich
duldete und durch die Unbedingtheit seines Anspruches die ihm Anhängenden
auszeichnete und zu einer Gemeinschaft von auserwählten Dienern und Kämpfern
machte. Mit Christus hatte die eigentliche Geschichte
der Menschheit begonnen. Für Völker, die sich soeben anschickten,
Geschichte zu machen, konnte es kaum eine gemäßere Konzeption geben.
Sodann kam der ausgeprägte Individualismus des Christentums dem Persönlichkeitsdrang
der aus den zerfallenden Gemeinschaften entlassenen antiken Massen und den der
Selbstbestätigung bedürftigen Barbaren entgegen. Weil er einen persönlichen
Gott und eine persönliche und unsterbliche Seele setzte, erhielt der einzelne
Mensch einen Wert, den ihm die Naturkulte und Naturphilosophien der Antike niemals
verleihen konnten. Mit dem christlichen Metapersonalismus wird das Ich zur kostbarsten
und wesentlichsten, weil die irdische Lebensspanne überdauernden und den
Schlüssel zur Kommunikation mit Gott enthaltenden Größe. Der
Christ ist gehalten, einen unermüdlichen Kampf um die Behauptung, Gestaltung
und Rettung der Einzelseele zu führen. Dieser Kampf um die Einzelseele
war zugleich ein Kampf gegen die Sünde und den Unglauben, den man in dem
sicheren Gefühl führen konnte, im Besitz der Wahrheit zu sein.
Dies war der erlösende Ausweg aus der Zweifelsucht und dem Zynismus der
dekadenten griechisch-römischen Zivilisation.
Und waren nicht auch die vielen Blutzeugen des Christentums, die sich ohne Widerstand
ans Kreuz schlagen oder von wilden Tieren zerreißen ließen, Beweis
für die Wahrheit und Kraft ihres Glaubens? Nicht zuletzt schließlich
hat die äußere Verständlichkeit und Klarheit des christlichen
Weltentwurfs ihre Faszination auf die der Vielzahl komplizierter Mythologien
und Spekulationen überdrüssigen Menschen ausgeübt. Dort war der
eine große und gewaltige Gott und hier war die Welt. Er hatte Christus
als seinen Botschafter geschickt und dieser hatte verkündet, was man glauben
und tun mußte, um ins Paradies einzugehen. Auf dieses Schema gebracht
mußte das christliche Dogma gerade denen einleuchten, die nach einer einfachen
und praktikablen Welterklärung suchten.
Aus: Gerhard Szczesny: Die Zukunft des Unglaubens,
Zeitgemäße Betrachtungen eines Nichtchristen S.46ff., Paul List Verlag
(List Taschenbücher Band 387)
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Genehmigung von Frau
Claudia Szczesny-Friedmann, München