Jonathan Swift (1667 – 1745)

  Irischer Schriftsteller, der von 1689—94 Sekretär von Sir William Temple und seit 1694 anglikanischer Geistlicher war. 1713 wurde Swift Dekan der St. Patrick‘s Kathedrale in Dublin. — Sein publizistischer Kampf für die Sache der Iren — z.B. durch die »Drapiers letters«, — machte Swift in Irland zu einer national bekannten Gestalt. Seine Skepsis an dem aufklärerisch-optimistischen Zeitgeist, eine hypochondrische Veranlagung, ausgeprägter Gerechtigkeitssinn sowie verschiedene persönliche Enttäuschungen dürften in Swift jene bittere Menschenverachtung erzeugt haben, die sich literarisch in zahlreichen Flugschriften zu politischen und kirchlichen Fragen sowie in einigen größeren satirischen Werken von beißender Ironie artikulierte. In »A tale of a tub« griff er die christlichen Bekenntnisse an, »The battle of the books« stellt den Streit zwischen der antiken und modernen Literatur zugunsten der ersteren dar. In seinem vierbändigen Meisterwerk »Gullivers travels« (Gullivers Reisen), das in seinen ersten Teilen die Erlebnisse des Schiffsarztes Gulliver bei den Zwergen (Liliputaner) und Riesen schildert und in den letzten Teilen von den Reisen zu den Wissenschaftlern und gelehrten Pferden berichtet, wandte sich Swift gegen alle menschlichen Schwächen. Swift starb in geistiger Umnachtung.

Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon

Einwände gegen die Abschaffung des Christentums
Ich bin mir wohl bewusst, dass es eine Schwäche und Anmaßung ist, gegen die allgemeine Stimmung und Neigung der Welt ankämpfen zu wollen. Diese Absicht ist nicht nur töricht, sondern versündigt sich auch gegen das Grundgesetz, daß Volkes Stimme Gottes Stimme ist. Aus denselben Gründen ist es vielleicht weder ungefährlich noch wohlbedacht, sich in einem Augenblick gegen die Abschaffung des Christentums zu wenden, da sich alle Parteien, nach ihren Handlungen, Reden und Schriften zu schließen, in diesem Punkte offenbar völlig einig sind. Wie es kommt, weiß ich nicht: vielleicht will ich nur etwas Besonderes sein; vielleicht treibt mich ein widernatürlicher Hang der menschlichen Natur. Auf jeden Fall kann ich unglückseligerweise nicht der herrschenden Meinung sein, und selbst wenn der Staatsanwalt meine sofortige Verhaftung anordnen würde, müsste ich doch dabei bleiben, dass ich beim gegenwärtigen Stand unserer inneren und äußeren Angelegenheiten eine absolute Notwendigkeit für die Ausrottung des Christentums nicht einsehen kann.

Das mag paradoxer erscheinen, als selbst unsere gescheite und paradoxe Zeit zu ertragen vermag. Ich werde daher Frage mit der größten Behutsamkeit und mit der äußersten Ehrerbietung gegen jene große und tiefsinnige Mehrheit behandeln, die anders denkt.

Vielleicht aber werden die achtsamen Leser gütigst feststellen, wie sehr sich in einem halben Menschenalter der Geist einer Nation wandeln kann. Einige alte Leute haben meiner Gegenwart felsenfest behauptet, daß noch zu ihren Zeiten die gegenteilige Anschauung ebenso verbreitet war wie die andere heute, und daß damals ein Plan für die Abschaffung des Christentums ebenso merkwürdig und absurd erschienen wäre wie heute eine Verteidigungsschrift oder eine Rechtfertigungsrede für das Christentum.

Deshalb gebe ich offen zu, daß der Schein durchweg gegen mich ist. Das System des Evangeliums ist allgemein veraltet und verbraucht, wie es das Schicksal aller religiösen Systeme ist. Selbst die Masse des Volkes, unter der sich anscheinend das Ansehen des Christentums am längsten behauptet hat, schämt sich heute ebenso wie die Vornehmeren der christlichen Lehre. Denn die Meinungen steigen wie die Moden von den Vornehmen zum Mittelstand herab; von dort sickern sie ins Volk hinunter und dort fallen sie schließlich zu Boden und verschwinden.

Ich möchte aber nicht mißverstanden werden. Deshalb erkühne ich mich und entlehne den Schriftstellern der anderen Partei eine Unterscheidung. Sie machen einen Unterschied zwischen denen, die dem Worte nach und denen, die in der Tat an die Dreifaltigkeit glauben. Ich hoffe, dass kein Leser mich für so schwach hält, dass ich das wirklich Christentum verteidigen wolle, das nach alten Schriftstellern in primitiven Zeiten Glauben und Tun der Menschen bestimmte. Es wäre ein kühnes Unterfangen, dieses Christentum wiederherstellen zu wollen. Es hieße, Fundamente umstürzen, mit einem Schlag den ganzen Geist und die halbe Gelehrsamkeit des Reiches vernichten, das ganze Gefüge der Dinge zerbrechen, den Handel zerstören, Künste und Wissenschaft mitsamt ihren Trägern auslöschen, kurzum unsere Amtsräume, Börsen und Läden in eine Wüste verwandeln. Es wäre genau so absurd wie der Vorschlag des Horaz an die Römer, insgesamt ihre Stadt zu verlassen und in einem entlegenen Teil der Welt einen neuen Wohnsitz zu suchen, wo sie die Verderbtheit ihrer Sitten überwinden könnten.

Diese Einschränkung ist daher beinahe unnötig; ich habe sie nur eingeflochten, um von vornherein jeder Haarspalterei vorzubeugen. Denn jeder einsichtige Leser wird leicht verstehen, dass meine Abhandlung nur der Verteidigung des Wortchristentums gilt. Das andere ist nach allgemeiner Übereinstimmung seit langer Zeit beiseite gelegt worden, weil es sich mit unserem Streben nach Macht und Reichtum nicht vereinbaren ließ.

Ich muss aber gestehen, dass ich mit allem Respekt nicht einzusehen vermag, warum wir Namen und Titel von Christen abwerfen sollen, wenn auch die allgemeine Meinung und Strömung so heftig dafür ist. Die Wirtschaftler der Nation versprechen sich von der Abschaffung des Christentums fabelhafte Vorteile und erheben gleichzeitig viele einleuchtende Einwände gegen das System des Christentums. Ich will nun in Kürze die Beweiskraft dieser Argumente untersuchen und ihnen gern das größtmögliche Gewicht zuerkennen, um dann die Antworten zu geben, die für die vernünftigsten ansehe. Schließlich bitte ich um die Erlaubnis, die Nachteile einer solchen Neuerung bei dem gegenwärtigen Stand der Dinge darlegen zu dürfen.

Zunächst soll die Abschaffung des Christentums den einen großen Vorteil mit sich bringen, dass sie die Gewissensfreiheit bedeutend erweitern und befestigen würde. Denn dieses große Bollwerk unserer Nation und der protestantischen Religion ist allen guten Absichten der Gesetzgebung zum Trotz immer noch vom Pfaffentrug beschränkt , wie wir es kürzlich an einem ernsten Fall sehen konnten. Jüngst haben, so wird erzählt, zwei hoffnungsvolle junge Herren von glänzendem Witz und tiefem Urteil die Entdeckung gemacht, dass es keinen Gott gibt. Sie sind bei ihrer gründlichen Untersuchung nach dem Gesetz von Ursache und Wirkung verfahren und haben alles durch die große Kraft natürlicher Begabung ohne irgendwelche Gelehrsamkeit gefunden. Ihre Gedanken haben sie dann großmütig zum Nutzen der Allgemeinheit allen mitgeteilt. Auf Grund ich weiß nicht welchen Gesetzes mußten sie hierauf wegen Gotteslästerung schwer leiden. Wenn die Verfolgung einmal beginnt, hat man klug gesagt, dann weiß kein Sterblicher, wie weit sie gehen und wo sie enden wird.

Um darauf zu erwidern, so scheint mir — bessere Einsicht vorbehalten —, dass gerade dies die Notwendigkeit einer Wortreligion unter uns beweist. Witzige Leute lieben es, frei mit den höchsten Dingen umzuspringen. Wenn man ihnen nicht erlaubt, einen Gott zu schmähen oder zu verleugnen, so werden sie von den Großen der Welt Übles reden, auf die Regierung schimpfen und unehrerbietige Bemerkungen über das Ministerium machen. Nur wenige werden leugnen, daß das von viel verderblicheren Folgen ist wie denn auch Tiberius sagt: Die Kränkung der Götter ist Sorge der Götter. — Zum Trost aller derer sei es gesagt, die sich vor einer Anklage fürchten — in allen Kaffeehäusern — und Schenken und überall, wo sich die gute Gesellschaft trifft, wird viel Millionen von Malen Gotteslästerung begangen. Man muss freilich zugeben, dass es, mild gesprochen eine bösartige Ausartung der absoluten Macht war, einen freigeborenen englischen Offizier allein deswegen zu verabschieden, weil er eine Gotteslästerung begangen hatte. Wenig läßt sich zur Entschuldigung des Generals anführen. Vielleicht fürchtete er unter unseren Verbündeten Anstoß zu erregen, unter denen es nach allem, was wir wissen, Landessitte sein mag, an einen Gott zu glauben. Einige haben nun auf Grund eines mißverstandenen Prinzips geltend gemacht, daß ein Offizier, der sich heute einer Gotteslästerung schuldig macht, morgen eine Meuterei anstiften kann. Doch kann man dieser Schlussfolgerung keineswegs zustimmen. Denn sicherlich wird der Befehlshaber eines englischen Heeres nur wenig Gehorsam finden, wenn seine Soldaten ihn so wenig fürchten und achten wie Gott.

Es wird ferner gegen die Lehre des Evangeliums eingewandt, dass sie die Menschen zum Glauben an Dinge verpflichtet, die für Freidenker und solche, die alle Vorurteile einer beschränkten Bildung abgeschüttelt haben, zu schwierig sind. Darauf erwidere ich, daß man mit Einwänden vorsichtig sein sollte, die unehrerbietige Gedanken über die Klugheit der Nation enthalten. Ist es nicht jedem erlaubt, zu glauben, was er will? Darf nicht jeder der Welt seinen Glauben verkünden, wann er will, zumal wenn es die Partei stärkt, die im Rechte ist? Kann ein Ausländer, der den jüngst erschienenen Plunder liest, überhaupt noch auf den Gedanken kommen, dass das Evangelium die vom Parlament bekräftigte Glaubenslehre Englands ist? Glaubt überhaupt noch jemand eine Silbe davon? Behauptet jemand, dass er es glaube? Wünscht auch nur jemand, man möge denken, er behaupte es? Wird darum irgend jemand weniger gut aufgenommen? Hindert einen der Mangel an äußerem Glauben in seiner bürgerlichen oder militärischen Laufbahn?

Ferner wird geltend gemacht, dass es in England mehr zehntausend Pastoren gibt, deren Einkünfte, um die Ihrer Gnaden, der Bischöfe, vermehrt, ausreichen würden, mindestens zweihundert geistvolle lebensfreudige und freidenkende junge Herren zu unterhalten, Feinde des Pfaffentruges, der Engstirnigkeit, der Pedanterie und des Vorurteils, Zierden des Hofes und des Gemeinwesens. Andererseits würden zahlreiche körperlich brauchbare Geistliche einen guten Nachwuchs für Heer und Flotte abgeben. Diese Erwägung scheint nicht ohne Gewicht zu sein; aber immerhin verdienen auf der gegnerischen Seite mehrere Dinge erwogen zu werden. Wird man es einmal nicht für notwendig halten, dass in den Bezirken, die wir heute noch Kirchspiele nennen, wenigstens ein Mensch vorhanden ist, der lesen und schreiben kann? Auch scheint mir die Rechnung falsch zu sein. Die Einkünfte der Kirche von England können bei der heutigen verfeinerten Lebensweise kaum ausreichen, um zweihundert junge Herren oder auch nur die Hälfte davon zu erhalten, das heißt ihnen eine Rente auszusetzen, die mit einem modernen Ausdruck »ein bequemes Leben ermöglicht«. Dieser Plan hat aber noch ein größeres Gebrechen an sich. Wir sollten uns vor der Narrheit der Frau hüten, welche die Henne schlachtet, die goldene Eier legt. Was würde denn im nächsten Jahrhundert aus dem Menschengeschlecht werden, wenn uns nichts als die skrofulösen, schwindsüchtigen Geschöpfe blieben, die unsere witzigen und lebensfreudigen Herren in die Welt setzen? Diese verschwenden ihre Kraft, Gesundheit und Habe, müssen darauf ihr vergeudetes Vermögen durch eine widerwärtige Heirat zusammenflicken und vererben ihrer Nachkommenschaft ihre ganze polierte Fäulnis. Nun hat die weise Gesetzgebung Heinrichs VIII. zehntausend Men-schen in die Notwendigkeit versetzt, mit schmaler Kost und bescheidener Lebensführung zu bestehen. Sie sind die großen Erhalter unserer Rasse, und ohne sie müsste unsere Nation in ein oder zwei Menschenaltern zu einem einzigen großen Hospital werden.


Ein weiterer angeblicher Vorteil der Abschaffung des Christentums ist der Gewinn eines vollen Wochentages. Dieser eine Tag ist jetzt völlig verloren und das Reich daher an Handel, Geschäften und Vergnügungen um ein Siebentel ärmer. Dazu kommt noch, daß die Allgemeinheit all die vielen stattlichen Bauten verliert, die jetzt in der Hand der Geistlichkeit sind und die man in Spielhäuser, Börsen, Markthallen, Obdachlosenheime und andere öffentliche Gebäude verwandeln könnte.

Man wird mir das harte Wort verzeihen, wenn ich dies eine bloße Sophisterei nenne. Ich gebe gerne zu, daß in urvordenklichen Zeiten eine alte Sitte bestanden hat, wonach sich das Volk an jedem Sonntag in den Kirchen versammelte, daß auch heute noch die Läden häufig geschlossen sind, um das Andenken jenes alten Brauches zu wahren. Es ist aber kaum einzusehen, wie dadurch Geschäfte oder Vergnügen behindert werden sollen. Was hat es schon auf sich, wenn die Lebemänner an einem Tag der Woche gezwungen sind, statt im Schokoladenhaus bei sich zu Hause zu spielen? Sind nicht die Schenken und Kaffeehäuser geöffnet? Kann es einen passenderen Tag als den Sonntag geben, um Medizin einzunehmen? Wird an Sonntagen weniger gearbeitet als an anderen Tagen? Stellen nicht am Sonntag die Kaufleute ihre Wochenbilanz auf und bereiten die Anwälte nicht ihre Plädoyers am Sonntag vor? Gern wüßte ich, wie man behaupten kann, die Kirchen dienten einem falschen Zweck? Wo finden mehr Verabredungen und galante Rendez-vous statt? Wo sitzt man mit dem größten Kleiderprunk in der vordersten Reihe? Wo gibt es mehr geschäftliche Besprechungen? Wo werden mehr Geschäfte abgeschlossen? Wo ist ein Schläfchen bequemer und verlockender?

Ein Vorteil der Abschaffung des Christentums ist größer als alle die vorangehenden. Es sollen nämlich dadurch alle Parteien gänzlich beseitigt und jene trennenden Unterscheidungen der Hoch- und Niederkirche, der Whigs und Tories, der Presbyterianer und Anglikaner aufgehoben werden, die einander bei allen öffentlichen Angelegenheiten wie ein Klotz am Bein hängen und nur zu leicht den eigenen Vorteil oder die Bekämpfung ihrer Gegner über selbst das dringendste Staatsinteresse stellen.


Ich gestehe: Wäre es sicher, daß daraus der Nation ein so großer Vorteil erwüchse, so würde ich mich fügen und schweigen. Aber will jemand behaupten, dass wir, wenn durch Parlamentsbeschluss die Wörter »Huren, Saufen, Betrügen, Lügen und Stehlen« aus der englischen Sprache und dem englischen Wörterbuch gestrichen würden, am nächsten Morgen alle keusch und mäßig, ehrlich und gerecht und wahrheitsliebend erwachen? Ist das richtige Logik? Wenn die Ärzte verbieten, die Wörter »Pocken, Gicht, Rheumatismus und Gallensteine« auszusprechen, wirkt das jedesmal wie ein Talisman, der die Krankheit selbst zerstört? Wurzeln Parteien und Spaltungen nicht tiefer in den Menschenherzen als Phrasen, die der Religion entlehnt sind? Ruhen sie nicht auf festeren Grundlagen? Ist unsere Sprache so arm, daß wir keinen anderen Namen für sie finden könnten? Sind Neid, Hochmut, Habgier und Ehrgeiz so schlechte Namengeber, dass sie keine Bezeichnungen für ihre Träger zu entdecken vermögen? Werden nicht die Wörter »Heiducken« und »Mamelucken«, »Mandarinen« und »Paschas« oder beliebige andere Wörter den Dienst verrichten, um die Leute, die in der Regierung sitzen, von denen zu unterscheiden, die gern darin sitzen möchten? Was ist z. B. leichter als die Rede zu wechseln und statt kirchlicher Phrasen in der Politik die Frage aufzuwerfen, ob das »Monument« in Gefahr sei. Die Religion lag uns am nächsten, als es galt, ein paar bequeme Schlagworte zu schaffen. Ist darum unsere Erfindungskraft so unfruchtbar, daß wir andere Phrasen nicht zu finden vermöchten? Nehmen wir beispielsweise an, die Tories wären für Marguerita, die Whigs für Frau Tofts, die »Mittelparteiler« für die Valentini; würden die Namen Margueritianer, Toftianer und Valentinianer nicht recht brauchbare Unterscheidungsmerkmale abgeben? Wenn ich mich recht entsinne, begannen die bösartigsten Parteien in Italien mit Unterschieden in den Farben ihrer Schärpen. Wir könnten ebensogut um Wert und Unwert von Blau und Grün streiten und Hof, Parlament und Reich ebensogut dadurch scheiden wie durch erkünstelte religiöse Begriffe. Dieser Einwand gegen das Christentum scheint mir daher nicht stichhaltig, und die Aussicht, dadurch einen so gewaltigen Vorteil davonzutragen, entfällt daher.

Ferner wird der Einwand erhoben, es sei eine absurde und lächerliche Sitte, dass man eine ganze Klasse von Menschen dulde, ja sogar anstelle und besolde, damit sie an einem der sieben Tage der Woche gegen die Rechtmäßigkeit alles dessen eifere, was die Menschen in den anderen sechs Tagen auf der Jagd nach Größe, Reichtum und Vergnügen tun. Aber mir scheint dieser Einwand eines so verfeinerten Zeitalters wie des unseren ein wenig unwürdig. Ich appelliere an das Herz eines jeden gebildeten Freidenkers: Ist nicht auf der Jagd nach Befriedigung der Leidenschaften gerade der Gedanke, daß es sich um Verbotenes handelt, ein großartiger Ansporn? Gerade um diesem Trieb zu schmeicheln, hat die Weisheit der Nation mit ganz besonderer Voraussicht Vorkehrungen getroffen und den Damen verbotene Seide und den Herren verbotenen Wein geschenkt. Es wäre zu wünschen, dass noch ein paar Verbote mehr erlassen würden, um das Genussleben Londons zu steigern. Die Stadt beginnt, wie ich höre, mangels eines solchen Ansporns matt und schlaff zu werden und mehr und mehr den grausamsten Anfällen des Wahns anheimzufallen.

Es wird dem Publikum auch als ein großer Vorteil hingestellt, dass als eine Folge der Abschaffung der evangelischen Lehre jede Religion auf ewig verbannt sei und mit ihr auch jene lästigen Vorurteile der Erziehung, die unter dem Namen
»Tugend, Gewissen, Ehre und Gerechtigkeit« so leicht den Frieden der menschlichen Seele stören und zuweilen in einem ganzen Menschenleben nicht mehr durch rechte Vernunft und Freidenkerei auszurotten sind.

Wie schwer ist es aber, möchte ich dazu bemerken, eine Phrase loszuwerden, wenn die Welt sie einmal liebgewonnen hat, sei auch ihr erster Anlass längst hinfällig geworden. Seit vielen Jahren genügt es, dass jemand eine kranke Nase hat, damit die Freidenker der Zeit so oder so die Ursache in den Vorurteilen seiner Erziehung entdecken. Aus dieser Quelle sollen alle unsere törichten Begriffe der
Gerechtigkeit, Frömmigkeit und Vaterlandsliebe, all unsere Anschauungen von Gott, einem künftigen Leben in Himmel und Hölle und dergleichen stammen. Früher mag dieser Vorwurf vielleicht nicht ganz ohne Sinn gewesen sein, aber durch eine gründlich veränderte Erziehung hat man radikal dafür gesorgt, diese Vorurteile zu beseitigen. Diese Dinge — ich sage es zu Ehren unserer eleganten Neuerer — färben auf die jungen vorwitzigen Herren nicht im geringsten mehr ab, und keine Faser dieses Unkrauts ist in ihren Herzen mehr zurückgeblieben. Damit entfällt jeglicher Vorwand, das Wortchristentum aus diesem Grunde abzuschaffen.

Im übrigen läßt sich vielleicht darüber streiten, ob die Verbannung aller religiösen Vorstellungen aus dem Volk angebracht wäre. Nicht, daß ich im geringsten der Meinung aller jener bin, die da glauben, die
Religion sei eine Erfindung der Politiker, um die Niederstehenden durch die Furcht vor unsichtbaren Mächten in Scheu zu halten, es sei denn, die Menschheit wäre damals sehr viel anders beschaffen gewesen als heute. Denn ich halte die große Masse unseres Volkes in England für ebenso freidenkerisch, d. h. ebenso radikal ungläubig, wie nur irgendeinen Vornehmen. Aber mir scheint, ein paar zerflatternde Begriffe von einer höheren Macht sind für das niedere Volk von seltsam großem Nutzen: Sie geben ein ausgezeichnetes Mittel ab, kleine Kinder zur Ruhe zu bringen, wenn sie eigensinnig werden, und in langweiliger Winternacht bilden sie ein vortreffliches Thema für Späße.

Schließlich wird es als ein besonderer Vorteil hingestellt, dass die Aufhebung des Christentums dazu beitragen würde, die Protestanten zu einigen, weil das
Gemeinsame verstärkt würde. Nur die Aufhebung des Christentums entspreche den hohen Zielen des Einigungsstrebens; denn sie allein eröffne ein weites Tor, durch das alle eintreten könnten. All der Schacher mit den Nonkonformisten und der ganze Kuhhandel um die Zulassung der einen oder der anderen Zeremonie tut immer nur ein Türchen auf und läßt sie meist sogar nur angelehnt, so daß nie mehr als einer sich bückend, windend und krümmend hindurchkommt.

Auf all das erwidere ich: Es gibt einen Lieblingshang der Menschheit, der gibt sich den Anschein, als stamme er von der Religion, und doch ist die Religion weder seine Mutter noch seine Patin noch seine Freundin. Ich meine den Geist der Opposition, der längst vor der christlichen Religion bestand und leicht ohne sie bestehen kann. Wenn wir z. B. untersuchen, worin die Opposition der Sektierer in England besteht, so finden wir, dass das Christentum nichts damit zu tun hat. Schreibt etwa das Evangelium eine steife Haltung, einen hölzernen pedantischen Gang, Absonderung in Manieren und Kleidung und eine affektierte Redeweise vor, die sich von der vernünftiger Menschen völlig unterscheidet? Gibt aber nicht das Christentum seinen Namen her, springt es nicht in die Bresche und verschafft es derartigem Wahn kein Feld der Betätigung, um ihn abzulenken, so setzt er sich in Gesetzesübertretungen und Störungen des öffentlichen Friedens um. Jeder Nation ist eine bestimmte Menge Enthusiasmus zugeteilt worden, und findet er keinen Abfluss, so bricht er aus und setzt alles in Flammen. Wenn die Ruhe eines Staates dadurch erkauft werden kann, dass man den Leuten ein paar Zeremonien vorwirft, die sie verschlingen dürfen, so wird kein vernünftiger Mensch so etwas ablehnen. Mögen sich die wilden Hunde mit einem ausgestopften Schafsfell vergnügen, wenn es sie nur davon abhält, die wirklichen Lämmer zu zerreißen. Die ausländische Einrichtung der Klöster scheint in dieser Hinsicht sehr weise zu sein: es gibt wenige Verirrungen menschlicher Leidenschaft, die nicht in irgendeinem Kloster ihre Zuflucht und ein Ventil finden könnten; denn sie sind Asyle für die Spekulativen, die Melancholiker, die Hochmütigen, die Schweigsamen, die Politiker und die Verdrie
sslichen; dort können sie sich selber freien Lauf gewähren und den schädlichen Dunst ihrer Seele versprühen lassen. Wir auf dieser Insel aber sind gezwungen, für eine jede Gemütsverfassung eine eigene Sekte zu gründen, um sie ruhig zu halten. Wenn das Christentum je abgeschafft werden sollte, dann muß die Staatsklugheit ein anderes Mittel finden, um die Geister zu beschäftigen und zu unterhalten. Denn was nützt es, ein noch so großes Tor aufzutun, wenn stets eine Anzahl übrig bleibt, die ihren Stolz darein setzt und es sich zum Verdienste anrechnet, eben nicht durch dieses Tor zu gehen.

Ich habe nun die wichtigsten Einwände gegen das Christentum geprüft und die Hauptvorteile, die man sich von seiner Abschaffung verspricht, abgewogen. Jetzt will ich mit der gleichen Ehrerbietung und mit dem gleichen Vorbehalt besserer Einsicht dazu übergehen, ein paar Nachteile aufzuführen, die durch die Aufhebung des Christentums erwachsen könnten. Denn an sie haben jene Pläneschmieder vielleicht nicht ausreichend gedacht.

Zunächst bin ich mir wohl bewußt, wie leicht die geistsprühenden Jünger der Lebensfreude über den Anblick so vieler Pastoren im schmutzigen Rock, die ihnen vielleicht über den Weg laufen und ihre Augen beleidigen, sich entrüsten müssen. Aber dabei bedenken die weisen Reformatoren nicht, welch ein Vorteil und ein Glück es für geistreiche Leute ist, wenn sie stets Gegenstände ihrer Verachtung und Geringschätzung haben, an denen sie — dazu noch völlig gefahrlos — ihre Talente üben und schärfen können, und wenn es ihre Laune nicht nötig hat, über ihresgleichen oder gar über sich selbst herzufallen.

Und um schließlich einen parallelen Gedankengang zu verfolgen: wie wollen nach der Abschaffung des Christentums die Freidenker, die Leute der unbedingten Vernunft und die Männer der tiefen Gelehrsamkeit jemals wieder ein Thema finden, das so sehr dazu angetan ist, ihre Fähigkeiten auf die Probe zu stellen? Welch wunderbarer Schöpfungen des Geistes würden wir dadurch beraubt werden. Die Werke all derer würden uns fehlen, die ihren Genius durch beständigen Spott und Schmähungen ihrer Religion geübt und geschult haben und nimmermehr imstande wären, in einer anderen Frage zu glänzen und sich auszuzeichnen. Wir klagen täglich über den Verfall des Geistes unter uns, und nun sollen wir freiwillig das größte, vielleicht das einzige Thema abschaffen, das uns noch bleibt? Wer hätte je in Asgil einen Mann von Geist und in Toland einen Philosophen vermutet, wenn nicht das unerschöpfliche Thema des Christentums zur Hand gewesen wäre? Welches andere Thema aus Natur und Geisteswelt hätte Tindal den Ruf eines tiefsinnigen Autors eintragen können? Nur die kluge Wahl des Themas ziert den Schriftsteller und zeichnet ihn aus. Wären auch Hunderte solcher Federn zu Gunsten der Religion in die Schranken getreten, sie wären alle sofort in Schweigen und Vergessenheit versunken.

Ich halte es auch nicht für unmöglich und die Befürchtung nicht ganz für unbegründet, daß die Abschaffung des Christentums die Kirche von England in Gefahr bringen könnte oder zum mindesten dem Parlament mit einem neuen Gesetz zu ihrem Schutz Scherereien verursachen würde.

Schließlich scheint mir nichts klarer, als dass wir durch dieses Mittel geradewegs dem Übel in die Arme laufen werden, das wir vermeiden wollen. Die Abschaffung der christlichen Religion wird schließlich der schnellste Weg zur Einführung des Papismus sein. Ich neige um so mehr zu dieser Ansicht, als es von jeher Brauch der Jesuiten gewesen ist, Abgesandte mit der Weisung zu uns herüberzuschicken, sich als Mitglieder unserer verschiedenen Sekten zu verkleiden. Und seit die Mode aufgekommen ist, die Religion abschaffen zu wollen, haben die papistischen Missionare nicht versäumt, sich unter die Freidenker zu mischen. Unter diesen ist Toland das große Orakel der Antichristen, ein irischer Priester und Sohn eines irischen Priesters und der höchst gelehrte und scharfsinnige Verfasser eines Buches mit dem Titel
»Die Rechte der christlichen Kirche«, und hat sich zur rechten Zeit mit dem römischen Glauben ausgesöhnt; wie er denn auch an hundert Stellen seines Werkes zeigt, daß er noch immer ein rechter Sohn der römischen Kirche ist. Vielleicht könnte ich noch ein paar andere hinzufügen. Aber die Tatsache ist ohnehin unbestreitbar und man zieht die richtigen Schlussfolgerungen daraus. Angenommen, das Christentum wird abgeschafft, so werden die Menschen doch niemals ruhen, bis sie eine andere Art religiöser Verehrung gefunden haben, und diese wird unfehlbar den
Aberglauben und den Papismus aus sich heraus hervortreiben.

Wenn man also all meinen Ausführungen zum Trotz es doch für nötig hält, ein Gesetz für die Abschaffung des Christentums einzubringen, so möchte ich in aller Bescheidenheit eine Verbesserung vorschlagen. Man möge nämlich an die Stelle des Wortes Christentum das Wort Religion überhaupt setzen; denn dadurch werden, scheint mir, all die guten Ergebnisse, die sich die Betreiber dieses Gesetzesvorschlages versprechen, viel eher erreicht. Denn so lange wir einen Gott und seine Vorsehung am Leben lassen und all die Folgerungen anerkennen, die wissensdurstige und forschende Leute aus diesen Voraussetzungen ziehen werden, treffen wir die Wurzel des Übels noch nicht, auch wenn wir die bestehende Lehre des Evangeliums noch so energisch vernichten. Was soll die Gedankenfreiheit nützen, wenn nicht die Handlungsfreiheit folgt? Und die Freiheit des Handelns ist doch das einzige, wenn auch ferne Ziel aller Einwände gegen das Christentum. Deshalb sehen die Freidenker das Christentum auch als ein Gebäude an, in dem alle Teile so aufeinander ruhen, dass der ganze Bau zusammenstürzen muss, wenn man auch nur einen einzigen Nagel herauszieht. Dem hat kürzlich ein Mann glücklich Ausdruck gegeben: er hörte, dass ein Text, den man gemeinhin zum Beweis der Dreieinigkeit anführte, in einem alten Manuskript ganz anders lautete. Er begriff den Wink sofort und kam durch eine Kette von Folgerungen rasch zu dem logischen Schluss: »Aber wenn dem so ist, wie Sie sagen, so kann ich in aller Ruhe weiter huren, saufen und dem Pastor Trotz bieten.« Daraus und aus vielen ähnlichen leicht zu findenden Beispielen erhellt meiner Meinung nach nichts klarer, als dass sich der Streit nicht gegen einige besonders schwer verdauliche Punkte der christlichen Lehre richtet, sondern gegen die Religion überhaupt. Sie legt der menschlichen Natur Beschränkungen auf, und sie hält man daher für die größte Feindin der Freiheit des Denkens und Handelns.

Wenn man aber die Abschaffung des Christentums schließlich immer noch als für Kirche und Staat vorteilhaft ansieht, so scheint es mir doch geratener, die Ausführung des Planes auf die Friedenszeit zu verschieben und nicht in der gegenwärtigen Lage unsere Verbündeten vor den Kopf zu stoßen. Es trifft sich leider so, dass sie alle Christen sind. Viele von ihnen sind wegen der Vorurteile ihrer Erziehung so bigott, dass sie gewissermaßen stolz auf diesen Namen sind. Falls wir nach einem Abfall von dem Christentum auf ein Bündnis mit den Türken rechnen wollten, so würden wir große Enttäuschungen erleben. Der Türke ist zu weit entfernt und fast immer im Kriege mit dem persischen Kaiser. Außerdem würde sich dieses Volk noch mehr über unseren Unglauben entrüsten als unsere christlichen Nachbarn. Denn die Türken beobachten nicht nur streng die Regeln ihrer Religion, sondern was noch schlimmer ist, sie glauben auch an einen Gott, was mehr ist als man von uns verlangt, die wir den Namen Christen behalten.

Doch um zum Schluss zu kommen. Manche versprechen sich große Vorteile für die Wirtschaft von diesem Plan. Ich aber fürchte, dass sechs Monate nach dem Gesetz über die Ausrottung des Evangeliums die Aktien der Bank von England und der Ostindischen Gesellschaft um mindestens ein Prozent fallen werden. Das ist aber fünfzig Mal mehr, als die Weisheit unserer Zeit jemals für die Erhaltung des Christentums aufbringen möchte. Daher ist auch kein Grund vorhanden, weshalb wir — nur um es zu vernichten — so große Verluste in Kauf nehmen sollen.

Kröner Stuttgart, Kröners Taschenausgabe Band 171, Jonathan Swift, Die menschliche Komödie, Schriften, Fragmente, Aphorismen. Übersetzt und herausgegeben von Michael Freund
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