Adalbert Stifter (1805 – 1868)
Österreichischer Dichter und Maler, der nach dem Studium der Rechts- und Naturwissenschaften, zunächst als Privatlehrer in Wien tätig war und dann zum 1850—65 zum Inspektor der Volksschulen Oberösterreichs in Linz avancierte. Stifter war sowohl malerisch und als auch dichterisch begabt. Er betrieb Zeit seines Lebens beide Künste nebeneinander; das Schreiben zunächst nur als Liebhaberei. — Als Maler schuf Stifter vorwiegend Landschaften. Von der romantischen Malerei ausgehend, wurde er ein Vorläufer des deutschen Impressionismus. Von Jean Paul und der Romantik beeinflusst, näherte er sich in seinem dichterischen Werk immer mehr den Idealen der Klassik. Das Streben nach Humanität, Maß und Ordnung, der Sinn für das Stille und Unscheinbare, der Glaube an das Walten eines »sanften Gesetzes« (Vorrede zu »Bunte Steine«) in der Natur sind bezeichnend für sein Werk, in dem andererseits auch das Tragische nicht zu kurz kam. Er war ein Meister des poetischen Realismus. Seine zahlreichen Erzählungen erschienen gesammelt in den Bänden »Studien« und »Bunte Steine«. Seine epische Kunst gipfelt in dem Bildungs- und Erziehungsroman »Nachsommer« und dem böhmischen Geschichtsroman »Witiko«. Der nachfolgende Text ist ein Auszug aus einem Brief Stifters vom 12. Juni 1856 an seinen Verleger Heckenast, dem die Frau gestorben war. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Inhaltsverzeichnis
Über Gott ist nichts .
Vorrede zu »Bunte Steine«
Bunte Steine (komplette Ausgabe)
Über
Gott ist nichts ...
Wie es sein wird, wenn wir die Grenze dieses Lebens betreten haben, wenn sein
letzter Atemzug vorbei ist — wer kann es sagen? Dass alles, was göttlich ist, nicht untergehen kann, ist gewiss: geht doch nicht einmal ein Sandkorn
verloren, nicht einmal ein Wassertropfen; wir wissen es und wir sehen es, dass
beides nicht Nichts werden könne, sondern dass es nur die Gestalt
wechselt, was wir ja auch tun, nur langsamer und nicht so sichtlich, wie es
bei einem Wassertropfen der Fall ist, der als Dunst in die flüssige Luft
geht. Das Sterben ist wie das Geborenwerden für uns die erste auffällige
Veränderung. Bei der Geburt sehen wir plötzlich den neuen Menschen,
wir glauben ihn in dem Augenblicke entstanden, weil er für unser Auge da
ist; aber der Beginn seiner Entstehung liegt anderswo und ist so unscheinbar
und klein, dass ihn kein menschliches Werkzeug der Wissenschaft entdecken
kann. Könnte es mit dem Sterben nicht auch so sein? Nur ein Augenblick
des Sterbens ist für uns sichtbar, das Aufhören des Atmens. Stirbt der Mensch nicht unausgesetzt jahrelang vor seinem Tode, ja seit seiner Geburt — und lebt er nicht noch nach dem Aufhören des Atmens wer
weiß wie lange? Dies gilt sogar von dem allmählichen Übergange
des bloßen Stoffes.
Was in uns denkt, fühlt, liebt, hasst, Gott anbetet, ins Jenseits übergreift, ist sogar ein ganz und gar Unwandelbares und kann nur mehr nur minder von Einflüssen gehemmt oder gefördert werden. Es ist, wir können sein Nichtsein nicht denken und heißen es in höchster Fülle Gott. Wie dasselbe ohne menschlichen Körper ist, können wir nicht fassen, weil wir nur durch den Körper fassen, wie der, welcher von der Seite eines Berges sieht, nie, solange er sich dort befindet, sehen kann, was hinter dem Rücken des Berges ist; aber was auch sein möge hinter jener Grenze, die unsere Augen schließt: es ist das Beste, Herrlichste und Weiseste, dessen dürfen wir gewiss sein, das lehrt das Stück Leben, welches wir Diesseits nennen, hinreichend; unsere Vernunft kann es nicht anders vorstellen, und Gott wäre nicht Gott, wenn es anders wäre. Diesen Gedanken habe ich, seit ich männlicher geworden bin, diesen Gedanken habe ich sogar nicht bloß für das Jenseits, sondern für alle Vorkommnisse dieser Welt, und er ist der Inhalt meines Gebetes: »Herr, was von dir kömmt, ist gut, ich bete es an, wenn es mich auch schmerzet.«
Was in uns denkt, fühlt, liebt, hasst, Gott anbetet, ins Jenseits übergreift, ist sogar ein ganz und gar Unwandelbares und kann nur mehr
nur minder von Einflüssen gehemmt oder gefördert werden. Es ist, wir
können sein Nichtsein nicht denken und heißen es in höchster
Fülle Gott. Wie dasselbe ohne menschlichen Körper ist, können
wir nicht fassen, weil wir nur durch den Körper fassen, wie der, welcher
von der Seite eines Berges sieht, nie, solange er sich dort befindet, sehen
kann, was hinter dem Rücken des Berges ist; aber was auch sein möge
hinter jener Grenze, die unsere Augen schließt: es ist das Beste, Herrlichste
und Weiseste, dessen dürfen wir gewiss sein, das lehrt das Stück
Leben, welches wir Diesseits nennen, hinreichend; unsere Vernunft kann es nicht
anders vorstellen, und Gott wäre nicht Gott, wenn es anders wäre.
Diesen Gedanken habe ich, seit ich männlicher geworden bin, diesen Gedanken
habe ich sogar nicht bloß für das Jenseits, sondern für alle
Vorkommnisse dieser Welt, und er ist der Inhalt meines Gebetes: »Herr,
was von dir kömmt, ist gut, ich bete es an, wenn es mich auch schmerzet.«.
Lassen Sie den oben ausgesprochenen Gedanken, den die Christen Gottergebung
nennen, den die Alten Stoa oder wie immer nannten — da ist er, seit das
menschliche Geschlecht da ist —, Platz in Ihrem Herzen fassen, lassen
Sie seinen Inhalt immer tiefer wirken und klarer werden: dann haben Sie eine
Stütze für das ganze Leben, ja für die Ewigkeit, und es gibt
nichts, was über Sie hinausragte; denn der Gedanke
ruht auf Gott, und über Gott ist nichts ...
Entnommen aus: Georg Hahn (Hrsg.) Der Glaube der Denker
und Dichter. Selbstzeugnisse aus zwei Jahrhunderten S.35f. Kreuz Verlag Stuttgart
Berlin
Vorrede
zu »Bunte Steine«
Es ist einmal gegen mich bemerkt worden, daß ich nur das Kleine bilde,
und daß meine Menschen stets gewöhnliche Menschen seien. Wenn das
wahr ist, bin ich heute in der Lage, den Lesern ein noch Kleineres und Unbedeutenderes
anzubieten, nämlich allerlei Spielereien für junge Herzen. Es soll
sogar in denselben nicht einmal Tugend und Sitte gepredigt werden, wie es gebräuchlich
ist, sondern sie sollen nur durch das wirken, was sie sind. Wenn etwas Edles
und Gutes in mir ist, so wird es von selber in meinen Schriften liegen, wenn
aber dasselbe nicht in meinem Gemüte ist, so werde ich mich vergeblich
bemühen, Hohes und Schönes darzustellen, es wird doch immer das Niedrige
und Unedle durchscheinen. Großes oder Kleines zu bilden, hatte ich bei
meinen Schriften überhaupt nie im Sinne, ich wurde von ganz anderen Gesetzen
geleitet. Die Kunst ist mir ein so Hohes und Erhabenes, sie ist mir, wie ich
schon einmal an einem anderen Orte gesagt habe, nach der Religion das Höchste
auf Erden, so daß ich meine Schriften nie für Dichtungen gehalten
habe, noch mich je vermessen werde, sie für Dichtungen zu halten. Dichter
gibt es sehr wenige auf der Welt, sie sind die hohen Priester, sie sind die
Wohltäter des menschlichen Geschlechtes; falsche Propheten aber gibt es
sehr viele. Allein wenn auch nicht jede gesprochenen Worte Dichtung sein können,
so könnten sie doch etwas anderes sein, dem nicht alle Berechtigung des
Daseins abgeht. Gleichgestimmten Freunden eine vergnügte Stunde zu machen,
ihnen allen bekannten wie unbekannten einen Gruß zu schicken, und ein
Körnlein Gutes zu dem Baue des Ewigen beizutragen, das war die Absicht
bei meinen Schriften und wird auch die Absicht bleiben. Ich wäre sehr glücklich,
wenn ich mit Gewißheit wüßte, daß ich nur diese Absicht
erreicht hätte. Weil wir aber schon einmal von dem Großen und Kleinen
reden, so will ich meine Ansichten darlegen, die wahrscheinlich von denen vieler
anderer Menschen abweichen. Das Wehen der Luft, das Rieseln des Wassers, das
Wachsen der Getreide, das Wogen des Meeres, das Grünen der Erde, das Glänzen
des Himmels, das Schimmern der Gestirne halte ich für groß: das prächtig
einherziehende Gewitter, den Blitz, welcher Häuser spaltet, den Sturm,
der die Brandung treibt, den feuerspeienden Berg, das Erdbeben, welches Länder
verschüttet, halte ich nicht für größer als obige Erscheinungen,
ja ich halte sie für kleiner, weil sie nur Wirkungen viel höherer
Gesetze sind. Sie kommen auf einzelnen Stellen vor und sind die Ergebnisse einseitiger
Ursachen. Die Kraft, welche die Milch im Töpfchen der armen Frau emporschwellen
und übergehen macht, ist es auch, die die Lava in dem feuerspeienden Berge
emportreibt und auf den Flächen der Berge hinabgleiten läßt.
Nur augenfälliger sind diese Erscheinungen und reißen den Blick des
Unkundigen und Unaufmerksamen mehr an sich, während der Geisteszug des
Forschers vorzüglich auf das Ganze und Allgemeine geht und nur in ihm allein
Großartigkeit zu erkennen vermag, weil es allein das Welterhaltende ist.
Die Einzelheiten gehen vorüber, und ihre Wirkungen sind nach kurzem kaum
noch erkennbar. Wir wollen das Gesagte durch ein Beispiel erläutern. Wenn
ein Mann durch Jahre hindurch die Magnetnadel, deren eine Spitze immer nach
Norden weist, tagtäglich zu festgesetzten Stunden beobachtete und sich
die Veränderungen, wie die Nadel bald mehr bald weniger klar nach Norden
zeigt, in einem Buche aufschriebe, so würde gewiß ein Unkundiger
dieses Beginnen für ein kleines und für Spielerei ansehen: aber wie
ehrfurchterregend wird dieses Kleine und wie begeisterungerweckend diese Spielerei,
wenn wir nun erfahren, daß diese Beobachtungen wirklich auf dem ganzen
Erdboden angestellt werden, und daß aus den daraus zusammengestellten
Tafeln ersichtlich wird, daß manche kleine Veränderungen an der Magnetnadel
oft auf allen Punkten der Erde gleichzeitig und in gleichem Maße vor sich
gehen, daß also ein magnetisches Gewitter über die ganze Erde geht,
daß die ganze Erdoberfläche gleichzeitig gleichsam ein magnetisches
Schauern empfindet. Wenn wir, so wie wir für das Licht die Augen haben,
auch für die Elektrizität und den aus ihr kommenden Magnetismus ein
Sinneswerkzeug hätten, welche große Welt, welche Fülle von unermeßlichen
Erscheinungen würde uns da aufgetan sein. Wenn wir aber auch dieses leibliche
Auge nicht haben, so haben wir dafür das geistige der Wissenschaft, und
diese lehrt uns, daß die elektrische und magnetische Kraft auf einem ungeheuren
Schauplatze wirke, daß sie auf der ganzen Erde und durch den ganzen Himmel
verbreitet sei, daß sie alles umfließe und sanft und unablässig
verändernd, bildend und lebenerzeugend sich darstelle. Der Blitz ist nur
ein ganz kleines Merkmal dieser Kraft, sie selber aber ist ein Großes
in der Natur. Weil aber die Wissenschaft nur Körnchen erringt, nur Beobachtung
nach Beobachtung macht, nur aus Einzelnem das Allgemeine zusammenträgt,
und weil endlich die Menge der Erscheinungen und das Feld des Gegebenen unendlich
groß ist, Gott also die Freude und die Glückseligkeit des Forschens
unversieglich gemacht hat, wir auch in unseren Werkstätten immer nur das
Einzelne darstellen können, nie das Allgemeine, denn dies wäre die
Schöpfung: so ist auch die Geschichte des in der Natur Großen in
einer immerwährenden Umwandlung der Ansichten über dieses Große
bestanden. Da die Menschen in der Kindheit waren, ihr geistiges Auge von der
Wissenschaft noch nicht berührt war, wurden sie von dem Nahestehenden und
Auffälligen ergriffen und zu Furcht und Bewunderung hingerissen: aber als
ihr Sinn geöffnet wurde, da der Blick sich auf den Zusammenhang zu richten
begann, so sanken die einzelnen Erscheinungen immer tiefer, und es erhob sich
das Gesetz immer höher, die Wunderbarkeiten hörten auf, das Wunder
nahm zu.
So wie es in der äußeren Natur ist, so ist es auch in der inneren,
in der des menschlichen Geschlechtes. Ein ganzes Leben voll Gerechtigkeit, Einfachheit,
Bezwingung seiner selbst, Verstandesmäßigkeit, Wirksamkeit in seinem
Kreis, Bewunderung des Schönen, verbunden mit einem heiteren gelassenen
Sterben, halte ich für groß: mächtige Bewegungen des Gemütes,
furchtbar einherrollenden Zorn, die Begier nach Rache, den entzündeten
Geist, der nach Tätigkeit strebt, umreißt, ändert, zerstört
und in der Erregung oft das eigene Leben hinwirft, halte ich nicht für
größer, sondern für kleiner, da diese Dinge so gut nur Hervorbringungen
einzelner und einseitiger Kräfte sind, wie Stürme, feuerspeiende Berge,
Erdbeben. Wir wollen das sanfte Gesetz
zu erblicken suchen, wodurch das menschliche Geschlecht geleitet wird. Es gibt
Kräfte, die nach dem Bestehen des Einzelnen zielen. Sie nehmen alles und
verwenden es, was zum Bestehen und zum Entwickeln desselben notwendig ist. Sie
sichern den Bestand des Einen und dadurch den aller. Wenn aber jemand jedes
Ding unbedingt an sich reißt, was sein Wesen braucht, wenn er die Bedingungen
des Daseins eines anderen zerstört, so ergrimmt etwas Höheres in uns,
wir helfen dem Schwachen und Unterdrückten, wir stellen den Stand wieder
her, daß er ein Mensch neben dem andern bestehe und seine menschliche
Bahn gehen könne, und wenn wir das getan haben, so fühlen wir uns
befriedigt, wir fühlen uns noch viel höher und inniger, als wir uns
als Einzelne fühlen, wir fühlen uns als ganze Menschheit. Es gibt
daher Kräfte, die nach dem Bestehen der gesamten Menschheit hinwirken,
die durch die Einzelkräfte nicht beschränkt werden dürfen, ja
im Gegenteile beschränkend auf sie selber einwirken. Es ist das Gesetz
dieser Kräfte, das Gesetz der Gerechtigkeit, das Gesetz der Sitte, das
Gesetz, das will, daß jeder geachtet, geehrt, ungefährdet neben dem
anderen bestehe, daß er seine höhere menschliche Laufbahn gehen könne,
sich Liebe und Bewunderung seiner Mitmenschen erwerbe, daß er als Kleinod
gehütet werde, wie jeder Mensch ein Kleinod für alle andern Menschen
ist. Dieses Gesetz liegt überall, wo Menschen neben Menschen wohnen, und
es zeigt sich, wenn Menschen gegen Menschen wirken. Es liegt in der Liebe der
Ehegatten zu einander, in der Liebe der Eltern zu den Kindern, der Kinder zu
den Eltern, in der Liebe der Geschwister, der Freunde zueinander, in der süßen
Neigung beider Geschlechter, in der Arbeitsamkeit, wodurch wir erhalten werden,
in der Tätigkeit, wodurch man für seinen Kreis, für die Ferne,
für die Menschheit wirkt, und endlich in der Ordnung und Gestalt, womit
ganze Gesellschaften und Staaten ihr Dasein umgeben und zum Abschlusse bringen.
Darum haben alte und neue Dichter vielfach diese Gegenstände benützt,
um ihre Dichtungen dem Mitgefühle naher und ferner Geschlechter anheim
zu geben. Darum sieht der Menschenforscher, wohin er seinen Fuß setzt,
überall nur dieses Gesetz allein, weil es das einzige Allgemeine, das einzige
Erhaltende und nie Endende ist. Er sieht es eben so gut in der niedersten Hütte
wie in dem höchsten Palaste, er sieht es in der Hingabe eines armen Weibes
und in der ruhigen Todesverachtung des Helden für das Vaterland und die
Menschheit. Es hat Bewegungen in dem menschlichen Geschlechte gegeben, wodurch
den Gemütern eine Richtung nach einem Ziele hin eingeprägt worden
ist, wodurch ganze Zeiträume auf die Dauer eine andere Gestalt gewonnen
haben. Wenn in diesen Bewegungen das Gesetz der Gerechtigkeit und Sitte erkennbar
ist, wenn sie von demselben eingeleitet und fortgeführt worden sind, so
fühlen wir uns in der ganzen Menschheit erhoben, wir fühlen uns menschlich
verallgemeinert, wir empfinden das Erhabene, wie es sich überall in die
Seelen senkt, wo durch unmeßbar große Kräfte in der Zeit oder
im Raume auf ein gestaltvolles vernunftgemäßes Ganzes zusammen gewirkt
wird. Wenn aber in diesen Bewegungen das Gesetz des Rechtes und der Sitte nicht
ersichtlich ist, wenn sie nach einseitigen und selbstsüchtigen Zwecken
ringen, dann wendet sich der Menschenforscher, wie gewaltig und furchtbar sie
auch sein mögen, mit Ekel von ihnen ab und betrachtet sie als ein Kleines,
als ein des Menschen Unwürdiges. So groß ist die Gestalt dieses Rechts-
und Sittengesetzes, daß es überall, wo es immer bekämpft worden
ist, doch endlich allezeit siegreich und herrlich aus dem Kampfe hervorgegangen
ist. Ja wenn sogar der einzelne oder ganze Geschlechter für Recht und Sitte
untergegangen sind, so fühlen wir sie nicht als besiegt, wir fühlen
sie als triumphierend, in unser Mitleid mischt sich ein Jauchzen und Entzücken,
weil das Ganze höher steht als der Teil, weil das Gute größer
ist als der Tod, wir sagen da, wir empfinden das Tragische und werden mit Schauern
in den reineren Äther des Sittengesetzes emporgehoben. Wenn wir
die Menschheit in der Geschichte wie einen ruhigen Silberstrom einem großen
ewigen Ziele entgegen gehen sehen, so empfinden wir das Erhabene, das vorzugsweise
Epische. Aber wie gewaltig und in großen Zügen auch das Tragische
und Epische wirken, wie ausgezeichnete Hebel sie auch in der Kunst sind, so
sind es hauptsächlich doch immer die gewöhnlichen, alltäglichen,
in Unzahl wiederkehrenden Handlungen der Menschen, in denen dieses Gesetz am
sichersten als Schwerpunkt liegt, weil diese Handlungen die dauernden, die gründenden
sind, gleichsam die Millionen Wurzelfasern des Baumes des Lebens. So wie in
der Natur die allgemeinen Gesetze still und unaufhörlich wirken, und das
Auffällige nur eine einzelne Äußerung dieser Gesetze ist, so
wirkt das Sittengesetz still und seelenbelebend durch den unendlichen Verkehr
der Menschen, und die Wunder des Augenblickes bei vorgefallenen Taten sind nur
kleine Merkmale dieser allgemeinen Kraft. So ist dieses Gesetz, so wie das der
Natur das welterhaltende ist, das menschenerhaltende.
Wie in der Geschichte der Natur die Ansichten über das Große sich
stets geändert haben, so ist es auch in der sittlichen Geschichte der Menschen
gewesen. Anfangs wurden sie von dem Nächstliegenden berührt, körperliche
Stärke und ihre Siege im Ringkampfe wurden gepriesen, dann kamen Tapferkeit
und Kriegesmut, dahin zielend, heftige Empfindungen und Leidenschaften gegen
feindselige Haufen und Verbindungen auszudrücken und auszuführen,
dann wurde Stammeshoheit und Familienherrschaft besungen, inzwischen auch Schönheit
und Liebe so wie Freundschaft und Aufopferung gefeiert, dann aber erschien ein
Überblick über ein Größeres: ganze menschliche Abteilungen
und Verhältnisse wurden geordnet, das Recht des Ganzen vereint mit dem
des Teiles, und Großmut gegen den Feind und Unterdrückung seiner
Empfindungen und Leidenschaften zum Besten der Gerechtigkeit hoch und herrlich
gehalten, wie ja Mäßigung schon den Alten als die erste männliche
Tugend galt, und endlich wurde ein völkerumschlingendes Band als ein Wünschenswertes
gedacht, ein Band, das alle Gaben des einen Volkes mit denen des andern vertauscht,
die Wissenschaft fördert, ihre Schätze für alle Menschen darlegt
und in der Kunst und Religion zu dem einfach Hohen und Himmlischen leitet.
Wie es mit dem Aufwärtssteigen des menschlichen Geschlechtes ist, so ist
es auch mit seinem Abwärtssteigen. Untergehenden Völkern verschwindet
zuerst das Maß. Sie gehen nach Einzelnem aus, sie werfen sich mit kurzem
Blick auf das Beschränkte und Unbedeutende, sie setzen das Bedingte über
das Allgemeine; dann suchen sie den Genuß und das Sinnliche, sie suchen
Befriedigung ihres Hasses und Neides gegen den Nachbar, in ihrer Kunst wird
das Einseitige geschildert, das nur von einem Standpunkte Gültige, dann
das Zerfahrene, Umstimmende, Abenteuerliche, endlich das Sinnenreizende, und
zuletzt die Unsitte und das Laster, in der Religion sinkt das Innere zur bloßen
Gestalt oder zur üppigen Schwärmerei herab, der Unterschied zwischen
Gut und Böse verliert sich, der einzelne verachtet das Ganze und geht seiner
Lust und seinem Verderben nach, und so wird das Volk eine Beute seiner inneren
Zerwirrung oder die eines äußeren, wilderen, aber kräftigeren
Feindes.
Aus: Adalbert Stifter, Bunte Steine