Eduard Spranger (1882 – 1963)
Deutscher Philosoph, Psychologe und Pädagoge. Seit 1911 Professor in Leipzig, seit 1920 in Berlin, seit 1946 in Tübingen. Spranger strebte unter dem Einfluss von Wilhelm Dilthey im Geist eines erneuerten Humanismus und Idealismus eine philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften, eine die Gegenwartsituation erhellende Kulturphilosophie und die Ausbildung einer eigenen, durch die Methode des Verstehens gekennzeichneten geisteswissenschaftlichen Psychologie an. Mit seiner »Typologie der Lebensformen« gab er auch der Persönlichkeits- und Jugendforschung Anregungen. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
Inhaltsverzeichnis
Das Gebot der Nächstenliebe
Altsein als Aufgabe
Gewiss ist nur der Tod
Das
Gebot der Nächstenliebe
Wir machen es uns nur selten klar, dass wir an ein und demselben Tag unablässig
die Rolle, die wir spielen, verändern. Kommt eine neue Figur, so springt
aus uns schon die Verhaltensweise hervor, die auf sie passt; und ebenso
sinngebunden stellt sich der andere ein. Meine eigene Person ist zu einem Komplex
von Rollen geworden, die ich mit fast automatischer Virtuosität durchführe.
Die Person des Partners reagiert mit gleicher Treffsicherheit. Unser ganzes
Leben trägt daher den Charakter eines Dramas mit verteilten Rollen, nur
dass das Stück, das hier gespielt wird, die Geschäftsgebarung
heißt, und dass es ernste Folgen hat. Dieser Verkehr ist überwiegend
ganz sachlichen Angelegenheiten gewidmet; sie brauchen nicht immer wirtschaftlicher
Art zu sein. Die Geschäfte wickeln sich den ganzen Tag über ab. Des
Abends gehen wir schlafen, ermüdet von der Mitwirkung an diesem personenreichen
Schauspiel. Aber unsere Seele in feinerem Sinne ist daran gar nicht beteiligt
gewesen. Sie hat schon den ganzen Tag über schlafen können, abgesehen
etwa von den wenigen Minuten im engsten Familienkreise.
Wo Rollen gespielt werden, pflegt man auch Masken zu tragen. Jede Maske verhüllt
den wirklichen Träger und lässt gleichsam nur soviel von seinem Wesen
durch, wie zu einem vorgeschriebenen Charakter passt. Auch diese Masken
wechseln wir im Verkehr unablässig, je nach dem besonderen Sinn der gegebenen
Situation. Wann sind wir jemals ganz wir selbst?
Sollte nicht unser tägliches Dasein gewinnen, wenn es wieder ein wenig
mehr durchseelt würde, wenn wir also etwas mehr von dem ganzen Menschen
in uns für die Beziehungen zu den andern mobil machten? Wir sehen in ihnen
kaum noch den Mitmenschen. Kants kategorischer Imperativ ist noch sehr liebefern.
Aber selbst seine nüchterne Vorschrift, den Mitmenschen niemals bloß
als Mittel, sondern immer zugleich als Selbstzweck zu behandeln, erfüllen
wir kaum. Er ist für uns eben nur Verkäufer, nur Schaffner, nur Bürobeamter,
nur Kellner, oder wie man scherzhaft alle diese blassen Zweckbestimmtheiten
zusammengefaßt hat — nur »Zeitgenosse«. Die Arbeitsteilung
ist so weit vorgeschritten, dass wir es nur noch mit abstrakten Menschen
zu tun haben. Wird sich daran noch etwas ändern lassen, zumal in der Großstadt?
Ich beschränke mich auf die bescheidensten Forderungen und greife leichthin
einige Tugenden heraus, die selten geworden sind. Schon von der ersten, die
die Voraussetzung für alle anderen ist, tue ich es nur mit Zagen. »Zeit
haben!« Das ist für den modernen Menschen eine Zumutung, die er am
ärgerlichsten zurückweist. »Zeit hat doch heute niemand!«
Meine Beobachtungen gehen allerdings dahin, dass das sehr oft — nicht
immer — auf schlechter Einteilung des Tages beruht und dass auch
heute noch Stunden in unglaublicher Weise inhaltlos vertrödelt werden.
Machen wir also die Voraussetzung, daß das, was ich für einen beseelteren
Umgang mit Menschen erbitte, gar nicht so viel Zeit verschlingt und daß
es andererseits den Aufwand lohnt! Der kategorische Imperativ »Lerne Zeit
zu haben« wäre für den Menschen von heute sehr beherzigenswert.
Dann wäre wohl auch Spielraum für die zweite Tugend gesichert: »Zuhören
können!« Die meisten bemerken gar nicht, wie sehr sie ihnen verlorengegangen
ist. Sie lassen den anderen kaum zu Worte kommen, und wenn er wirklich spricht,
hören sie darüber hin. Das ist immer ein Zeichen von eigentlicher
Herzensleerheit. Ein hoher Beamter, der frühere Ministerialdirektor Werner
Richter, sagte mir einmal: »Meine Sprechstundenbesucher wünschen
von mir viel mehr, dass sie sich bei mir über ihre Sorgen und Nöte
aussprechen können, als dass ich ihren Wunsch erfülle. Es ist
meine Pflicht, dafür Zeit zu haben, und nur dann fühlen sie sich als
Menschen geachtet.« — So ist es. Ich möchte hinzufügen:
Man hat auch sehr viel mehr davon, wenn man sich dem andern widmet, als wenn
man immer nur von sich selbst redet. Denn man lernt dann die Breite des Menschenlebens
kennen und merkt, daß auch andere es schwer haben.
Die dritte Tugend wäre also: »Sich für den Mitmenschen interessieren!«
Man soll sich teilnehmend in seine Lage hineinversetzen. Wer kümmert sich
heute noch um den Beruf der Personen, mit denen er umgeht: um seine Lasten,
seine Reize, seine grundlegenden Leistungsformen und die daraus folgende Gesamtperspektive
zum Leben? Und doch sollte man Goethes Wort nicht vergessen: »Nur
alle Menschen machen die Menschheit aus, nur alle Kräfte
zusammengenommen die Welt«. (Cottasche Jubiläumsausgabe XVIII, 326).
Als Kinder waren wir in dieser Beziehung viel humaner. Wenn man genügend
Phantasie dafür aufbringt, wie dem anderen zumute ist, wird man auch gütiger
werden. Oft ist es gerade die Gedankenlosigkeit, die hart macht und dem Partner
wehtut.
Die eigentliche Tugend der Humanität aber beginnt nach dem früher
Gesagten damit, dass ich nicht bei dem abgezirkelten Rollenspiel des Verkehrs
stehen bleibe, sondern jenseits der Rolle den ganzen, vielleicht leidenden
Menschen ahne und ihn aus dieser Gesinnung heraus anspreche. Lockert man sein
Gemüt so auf, so wird man hinter der Maske, die der Verkehr aufnötigt,
wertvolle Naturen finden und durch Mitleben selbst reicher werden. »Das
Menschliche ist immer wissenswürdig«, sagt Ranke; aber das Menschliche
ist auch immer der gefühlsbewegten Teilnahme wert. Denn wer und was wir
auch sein mögen: Das Grundschicksal des Menschendaseins teilen wir alle,
und überall blicken wir in »die Augen des ewigen Bruders«.
Damit aber steigen wir auf eine wesentlich höhere Stufe des Umgangs mit
Menschen empor. Der Zusatz von etwas Herz zu der Zweckhaftigkeit und Äußerlichkeit
des Verkehrs gehört in den Bereich der Liebenswürdigkeit, aber noch
nicht in den der Sittlichkeit. Auf der ethischen Stufe ist die teilnehmende
Gesinnung nicht mehr Temperamentssache, sondern gefordert. Kant verwirft die
Moral des Herzens überhaupt und verherrlicht die Majestät des strengen
Pflichtgebotes. Er würde sagen: Wie man mit den Menschen umgehen soll,
das regelt mit unbedingter Verbindlichkeit eben jener kategorische Imperativ: »Du sollst Deinen Mitmenschen als ein Wesen von höherem Ursprung,
von eigenster Würde behandeln!« So überbietet genau in dem klassischen Jahr 1788 Kant seinen Zeitgenossen Knigge.
Der große Denker hat für seine stark preußisch uniformierte
Morallehre sehr tiefliegende Gründe gehabt. Sie können hier nicht
erörtert werden. Trotzdem: Wenn nur die Pflicht das Gestirn wäre,
an dem sich unser Umgang mit Menschen sittlich zu orientieren hat, dann ginge
es in der Menschenwelt sehr kalt und knöchern zu. Der im Jahre 1955 gefeierte
Zögling der militärisch-harten Hohen Karlsschule hat dagegen Einspruch
erhoben. Er forderte mindestens etwas mehr Grazie im Reich der Sitten. Und sogar
der scharfe Kritiker Lessing hat sich zu dem »Testament Johannis«
bekannt: »Kindlein, liebet euch untereinander!« Der kühle kategorische
Imperativ und der Geist einer alles erwärmenden Liebe — das ist auf
die erste Sicht der schärfste Gegensatz, den man sich denken kann.
Aber kommen wir nicht auch mit dem christlichen Gebot — denn ein Gebot
ist nun einmal das: »Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst!«
— kommen wir mit dieser Umgangsnorm nicht auch in Schwierigkeiten? Jeder
Mensch ist mein Nächster; also soll ich jeden Menschen lieben, wie mich
selbst. So lautet die ideale Forderung, und es ist kein Wunder, wenn sie noch
nirgends in der Welt verwirklicht worden ist. Die im Abendlande herrschende
Eigentumsordnung schon widerspricht dem Geiste der absoluten Selbstlosigkeit.
Im Kollektiveigentum allein braucht allerdings auch noch nichts von christlicher
Liebe zu liegen. Ferner: Eine Liebe, die sich auf alle Mitmenschen gleichmäßig
verteilt, muss notgedrungen sehr blass und kraftlos werden. Die einfachste,
dem eigenen Kind zugewandte Mutterliebe würde sie übertreffen. Es
ist Zeit, sprachliche Wendungen, die unverständlich geworden sind, so auszulegen,
dass ihr Ernst und ihre Tiefe wieder die Herzen bewegen.
Was ist Nächstenliebe? Dem Wortursprung nach: Die teilnehmende Gesinnung
für den Menschen, der mir so nahe steht wie mein Nachbar. Alle menschliche
Sittlichkeit hat ja ihren Ausgang genommen von der Sippenmoral und der Nachbarschaftsmoral.
Was es heißt, dem Nachbarn zu helfen, das versteht jeder. Im Christentum
empfängt aber der Begriff Nachbarschaft einen Sinn, in den man sich lange
vertiefen muß, ehe man ihn versteht. Mein Nächster ist überall,
nicht bloß »nebenan«, derjenige, der mich angeht. Das Wort
ist doppeldeutig. Es heißt: Der Mensch, der mich betrifft, der
mich mitbetrifft, wer ich auch sei. Es heißt ferner: Der Mensch, der mich
bittend angeht. Jeder Mensch auf meinem Wege, der leidet, geht mich in diesem
doppelten Sinne an. Man denke an die Geschichte von dem barmherzigen Samariter
oder an das Wort des Derwischs in Lessings »Nathan«: »Worum
man ihn recht bittet und er für recht erkennt, das muss ein
Derwisch.«
Aber nun erhebt sich der Einwand: Ich habe ja gar nicht die Kraft und die Mittel,
jedem zu helfen, der meine liebevolle Unterstützung braucht. Soll ich mich
also auf meine Stammesgenossen beschränken, oder auf meine Berufsverwandten
oder buchstäblich auf meine Nachbarn? Gerade diese Denkweise geht in die
falsche Richtung. Es handelt sich gar nicht darum, daß ich mit jedem meinen
Mantel teilen soll. Wo würde das hinführen! Sondern es wird mir gesagt,
dass jeder Mensch in einem bestimmten Sinne mein Bruder ist; er ist es
nicht leiblich, sondern geistlich. Denn er ist Gottes Geschöpf wie ich.
Diese Bruderschaft liegt hinter oder über aller Verflechtung des irdischen
Verkehrs. Das bedeutet: Es gibt eine Seelentiefe, in der wir uns alle so nahe
sind, als ob wir den gleichen Vater hätten. Wir alle nämlich teilen
das schwere Schicksal des Menschenlebens, wir alle seufzen unter dem gleichen
Leid, wir alle kämpfen bitter darum, den göttlichen Funken in uns
lebendig zu erhalten. In solchen Tiefen begegnen wir uns von Mensch zu Mensch.
Wir können sie das Gottnahe in uns nennen, oder philosophischer: das Metaphysische.
Da nun ist die Nächstenliebe zu Hause. Sie fordert, dem anderen Hilfe zu
leisten in den letzten Bezügen und in der leidenden Innerlichkeit.
Wie gestaltet sich der Umgang mit Menschen in solcher Beleuchtung oder in solcher
einsamen Gottverbundenheit? Es geht da wesentlich um seelische, ja um eine seelsorgerische
Hilfe. Dem andern nahe zu sein in dem, was ich das schwere Schicksal des Menschseins
genannt habe, das macht die christliche Nächstenliebe aus. Und in dieser
Sphäre ist jeder ein Gebender, jeder ein Empfangender; jeder ist arm und
jeder kann reich werden. Das Scherflein der armen Witwe kann da zum Goldschatz
werden, und der reiche Mann kann den armen Lazarus beneiden.
Der Umgang mit Menschen gipfelt da, wo Seelen sich in ihrer Tiefe begegnen.
Schon die Gattenliebe, die Elternliebe und die Kindesliebe senken sich bis an
die Wurzeln des Lebens hinab; diesmal sagen wir: So tief und fest verbinden
schon die Bande der Natur. Noch tiefer aber kettet uns das Geistig-Göttliche
aneinander, das in uns allen lebt und webt. Ahnt man noch etwas von dem metaphysischen
Bereich des Menschenwesens, so gehe man hin und helfe den Schicksalsgefährten,
aus dieser Quelle schmerzlichster Not doch Kraft und Trost zu schöpfen.
Man stehe ihnen bei in den einsamsten Bedrängnissen ihres Herzens, man
zeige ihnen, daß man sie in ihrem Verirrtsein, in ihrem Konflikt, in ihrer
Verzweiflung versteht, und man wird sie auch für das äußere
Leben stärken, ja man wird einen gemeinsamen, überquellenden Reichtum
spüren. »Sorget zuerst für eure Seele«, das hat schon
Sokrates gesagt. In noch größerem Ernste, weil mit noch mehr Liebe,
hat es Christus gesagt. Wo der Umgang mit Menschen über die letzten Einsamkeiten
hinweg zu einer religiös-metaphysischen Seelenbegegnung wird, da ist Gott
selbst nahe, und erst da wird auch der Mensch in würdigstem Sinne zum Menschen.
Die Liebe ist die größte Kraft des Tragens; aus ihrem überirdischen
Reichtum wird sie zur heilenden Kraft des Mittragens: »Sie glaubet alles,
sie hoffet alles, sie duldet alles«. (1. Kor. 13, 7,). In solchem Geiste
miteinander umzugehen, das ist es, was wir lernen sollten. Das greift freilich
weit hinaus über den alten Knigge, aber auch weit über Kant.
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 243, Mensch und Menschlichkeit,
Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks S.
13-19 - Vom Umgang mit Menschen
Copyright 1956 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred
Kröner Verlags, Stuttgart
Altsein als
Aufgabe
Jeder Mensch, wenn er nicht vorzeitig abgerufen wird, hat mit allen anderen
Menschen ein Schicksal gemeinsam: Er muss sich den Verwandlungen unterwerfen,
die sich aus der Folge der Lebensalter ergeben. Beim Übergang aus einer
Altersstufe in die nächste verändert sich die Funktionsweise des Leibes,
aber auch der Grundstil des seelischen Erlebens und Verhaltens. Die Geschwindigkeit
des Ablaufes ist je nach der leiblich-seelischen Konstitution ein wenig verschieden:
hier gilt die biologische Zeit, nicht die astronomische. Auch sonst spielen
persönliche Besonderheiten hinein. Aber man darf das Bild wagen: Ohne gefragt
zu werden, wird der Mensch je nach einer Spanne von Jahren in einen anderen
Käfig versetzt. Der schreibt ihm vor, wie er körperlich wachsen oder
verfallen wird. Er schreibt ihm aber auch den Rahmen und Rhythmus vor, in dem
er seelisch erleben, werten und sich verhalten wird. Diese Folge von Grundstrukturen
des Leib-Seele-Systems ist bei uns allen gleich, wie mannigfaltig auch der Inhalt
unserer Betätigungen und Schicksale sonst sein mag.
Die frühen Käfige werden als leidlich empfunden. Der späteste
ist unbeliebt. Für alle aber gilt: wesentlich abändern kann man sie
nicht. Man kann sich nur in jedem mehr oder weniger gut einrichten und muß
versuchen, wie es auf englisch heißt, »to make the best of it«.
Heute soll nur vom letzten Käfig die Rede sein, vom Greisenalter, und um
nicht viel Zeit mit nebensächlichen Abgrenzungsfragen zu verlieren, wollen
wir annehmen, daß man ihn durchschnittlich mit 65 Jahren bezieht. Denn
auf die Zahl der Jahre kommt es nicht an; nur auf den Befund.
Der Schweizer Arzt und Altersheimleiter A. L. VISCHER sagt in seinem gedankenreichen
Buch »Das Alter als Schicksal und Erfüllung« (2. Aufl. Basel
1945): »Wir müssen uns deutlich bewusst werden, dass Jugend
und Alter ihre besonderen Werte haben und dass jede Lebensphase eine eigene
Aufgabe besitzt.« Meinerseits füge ich hinzu; es ist nicht leicht,
die altersbedingten Lebenswerte auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und
vergleichbar zu machen. Unsere abendländische Kultur, besonders aber unsere
Zeit, neigt dazu, die Leistungswerte allen anderen voranzustellen. Wäre
die Arbeitsleistung der einzige Maßstab, so wären die ersten 15 Lebensjahre
fast gar nichts wert, und mit den Jahren, die etwa noch auf das 70. folgen,
sähe es mindestens in der Wirtschaft wenig günstig aus. Es gibt aber
noch andere Werte für den Menschen selbst und für die Gesellschaft,
als die nach Quantität und Qualität meßbare Arbeitsleistung.
Eben dies kann uns die Psychologie des Greisenalters lehren.
Über die Psychologie dieser Altersstufe habe ich schon mit 50 Jahren tapfer
geredet und geschrieben; aber noch aus geschützter Fernsicht heraus. Heute,
25 Jahre später, weiß ich, daß die eigentlichen Anfechtungen
des Altseins gerade vom Leibe herkommen. Wie schön könnte die Abgeklärtheit
der späten Jahre sein! Aber bald zwackt es hier, bald zwackt es da. Heute
sind es die Ohren, morgen die Augen, die versagen. Herz, Atemnot, Gliederschmerzen
melden sich abwechselnd, und wenn es keinen anderen Namen hat, so sind es eben
— Kreislaufstörungen. Jedoch —dies Thema fällt den Ärzten
zu. Wir halten uns an die seelisch-geistigen Erscheinungen. Nur vergesse man
nicht, daß all dies üble Beiwerk noch mitverarbeitet werden muß,
wenn das geschehen soll, was hier im Mittelpunkt der Erörterung steht —
wenn aus dem Greisenalter noch etwas gemacht werden soll, was sich für
einen selbst und für die Mitmenschen lohnt.
Das Thema gehört in den weiteren Rahmen der Betrachtungen über Lebenskunst.
GOETHE hat den Seufzer ausgestoßen:
»Keine Kunst ist‘s alt zu werden.
Es ist Kunst, es zu ertragen.«
JAKOB GRIMM hat in seiner schönen Rede über das Alter
gesammelt, was das Volk darüber an Spott und Klage zu sagen weiß.
Hier aber soll nicht gejammert werden. Wir fragen beherzt: »Was kann aus
dem höchsten Alter alles noch herausgeholt werden, das positiven Wert hat
und aus früheren Lebensstufen nicht herausgeholt werden kann?«
I. Ein erster Punkt soll hier so behandelt werden, als ob die
Freiheit bestünde, sich über ihn nach eigenem Ermessen zu entscheiden:
Soll man drinbleiben in dem bisherigen Betrieb, oder soll man sich rechtzeitig
auf das Altenteil zurückziehen?
Der Ausdruck »Altenteil« stammt aus der bäuerlichen Welt. Wer
einen Erben oder Nachfolger für den Hof hat, tritt freiwillig ab, wenn
die Leistungsfähigkeit nicht mehr ausreicht. Das ist leicht festzustellen,
da es sich um körperliche Arbeit handelt. Beim Beamtentum ist die schematisch
auf ein bestimmtes Lebensjahr festgelegte Altersgrenze eine Einrichtung, die
verhältnismäßig neu ist. Es fragt sich, ob sie sich gerade in
unseren Tagen bewährt, wo die Menschen durchschnittlich länger frisch
bleiben und Mangel an Nachwuchs besteht.
Da wir hier den individualistischen Gedanken der Lebenskunst vorangestellt haben,
lautet das Problem so: Wann soll man gehen? Bleibt man zu lange, so merkt man
nicht mehr, wann es höchste Zeit ist. Man »klebt« am Beruf,
schädigt die Sache und die Mitarbeiter, versäumt vielleicht auch den
Augenblick, in dem man sich noch auf einen anderen wertvollen Daseinsgehalt
umstellen könnte.
Bekannt ist die Gemütserschütterung, die unfehlbar eintritt, wenn
der noch rüstig Schaffende plötzlich am 1. April ausscheiden soll.
Ein ebenso plötzlicher körperlicher Zusammenbruch kann die Folge sein.
Mindestens lernt man dann die Wahrheit des Wortes: »Entsagung ohne Bitterkeit
ist die höchste Mannestugend.« Hat man gar eine leitende Stellung
gehabt, so vergesse man nicht den Rat: »Wo man einmal
regiert hat, soll man sich hinterdrein nicht wieder sehen lassen.«
Wir sind darüber einig: Irgendwie muß man über die Schwelle
zum Greisenalter hinüberkommen, und dazu gehört sorgsame Weichenstellung.
Auf diesem Wege wollen wir aber nicht alle Fahrenden begleiten. Viele schaffen
es mit guter Selbstpflege, dass sie auf die charakteristische Frage: »Wie
geht‘s noch immer?« beruhigend antworten können: »Gottlob,
das Essen und Trinken schmeckt noch.« Das ist nicht viel, aber es ist
doch etwas. Wir sprechen auch nicht von denen, die sich irgendeinem Klub der
Ausrangierten anschließen, am Stammtisch oder auf den Bänken der
Parks. Ja nicht einmal dafür sollen Ratschläge gegeben werden, wie
man noch ein Lieblingsgebiet anbauen kann, um die verfügbar gewordene Zeit
auszufüllen: Gartenpflege, Raritätensammeln, Beschwerdeartikel in
die Zeitung schreiben, Verwandte besuchen, Hunde züchten, Spielzeug für
die Enkel bauen. Tiefer interessiert, ob es möglich ist, gerade aus den
eigentümlichen Kräften des späten Alters etwas zu machen, was
die Welt und das eigene Innere bereichert. Natürlich wird es sich dabei
um geistige Gestaltungen handeln.
Gleichviel, ob wir an diejenigen denken, die im Beruf bleiben, oder an die andere
Gruppe, die sich ein Alters-reservat anlegt: die Geschichte lehrt, daß
sogar schöpferische Kräfte bis ins Greisenalter fortdauern, ja neu
hervorbrechen können. Als PAUL HERRE sein Buch über »Das schöpferische
Alter« begann, sah er sich genötigt, die untere Grenze für seine
Beispielsammlung vom 70. auf das 75. Jahr heraufzurücken. Sonst wäre
der Stoff zu sehr angeschwollen. Vielleicht sagt man: Nun ja, das sind dann
Wunderwerke der geistig-bildenden Natur, und wenn man sich darauf verlegt, so
kommt aus den Jahrhunderten schon eine ganze Menge zusammen.
Die Absicht hier geht auf anderes: es soll hervorgehoben werden, welche geistigen
Möglichkeiten sich gerade auf Grund der Situation im spätesten Käfig
noch eröffnen. Es sind seelische Verwandlungen gemeint, aus denen jeder
etwas machen könnte, unter der doppelten Voraussetzung, daß er fortfährt,
an sich zu arbeiten und daß der Druck vom Leibe und der Außenwelt
her eine solche Nachblüte nicht verhindert.
II. Dies also ist an zweiter Stelle zu erwägen: Worin
bestehen die eigentümlichen Seelenkräfte der ganz reif Gewordenen?
Von denen, die innerlich nicht mehr weiterwachsen, können wir gebührend
schweigen; erst recht von denen, die vertrotteln. Reden wir von denen, die noch
aufwärts gehen! Es ist kein Zufall, dass hei den Griechen die Seher
als sehr alt dargestellt werden; oft auch als blind. Sie sind Nach-innen-Seher
in besonderer Bedeutung.
Die übliche Ansicht begnügt sich mit der Feststellung: das höhere
Alter hat einen Schatz von Erfahrungen aufgesammelt, der auf der Höhe des
Lebens noch nicht zur Verfügung steht. Wer sehr lange gelebt hat, vermag
deshalb Rat zu geben. Zum Handeln ist er seltener berufen. Diese Auffassung
ist richtig, aber sie erschöpft das Wesentliche noch nicht. Zweierlei muß
hinzugefügt werden.
Erstens genügt es nicht, von aufgehäuften Erfahrungen zu sprechen.
Sie können ein bloßes Gewirr von Erlebtem sein. Jeder kennt die leidige
Gewohnheit alter Leute, auf Vorgänge oder Berichte mit der Wendung zu reagieren: »Da kann ich Ihnen auch noch einen Fall erzählen.« Der verfügbaren
Parallelfälle ist dann kein Ende. Ein breiter Strom von Assoziationen wälzt
sich daher.
Nicht die summierten Erfahrungen sind fruchtbar, sondern die kondensierten.
Darunter verstehe ich, daß der Rohstoff der Erlebnisse innerlich verarbeitet
worden ist. Es muss gleichsam durchgerechnet sein, was auf das Konto des
blinden Schicksals gehört, was auf das Konto menschlicher Sinnesart, was
auf die Seite besonnenen Gestaltens. Fortuna, der Leichtsinn, die Leidenschaft,
Schuld und Gewissensnot gehen über die Bühne des Lebens. Zeitstil,
Volkscharakter. Situation werfen ihre farbigen Lichtkegel auf dies Spiel. Der
Anteil so verschiedener Mächte muß in der persönlichen Erfahrung
besonnen auseinandergelegt sein. Dann hat das Dasein, wie GOETHE mit Betonung
sagt, »Resultate gegeben«. Lange gelebt zu haben, macht noch nicht
weise. Der achtzigjährige Dorfschulmeister lautet ein berühmtes Wort
von HERBART aus dem Jahre 1806, hat die Erfahrung seines achtzigjährigen
Schlendrians. Meisterschaft in einem Fach, politische Klugheit, schließlich
Meisterschaft des Lebens überhaupt gewinnt nur der, der alles mit ständiger
Selbstbesinnung durchgemacht und dabei auch unablässig an sich selbst weitergebildet
hat. Allerdings: an anderer Stelle habe ich ausgeführt, daß persönliche
Erfahrung nicht ohne weiteres auf andere übertragbar ist (»Lebenserfahrung«,
Tübingen 1947). Sie kann aber eines leisten: sie kann eine schwierige Situation
deuten helfen.
Und nun das zweite, das zur bloßen gehäuften Erfahrung hinzukommen
muss. Die verbreitete Meinung geht dahin: Ja, der Greis hat allerhand erlebt.
Aber das gehört einer versunkenen Zeit an. Er ist nicht mehr modern. Er
denkt aus veralteten Prämissen heraus. Deshalb hat es nicht viel Sinn,
auf seine Rede hinzuhören.
Darin liegt, wie in den meisten Unliebenswürdigkeiten gegen Mitmenschen,
etwas Berechtigtes. Dann aber nicht, wenn sich in dem altgewordenen Menschen
eine Bewußtseinsumstellung vollzogen hat, die nur ganz spät möglich
ist. Beim Eintritt in das letzte Lebensalter muß noch einmal eine »Umwertung
aller Werte« stattfinden. Diesmal aber handelt es sich nicht um die willige
Anpassung an das Allerneueste, damit man doch nicht ganz dahinten bleibe. Jetzt
muß geprüft werden, was allenfalls noch unter dem Gesichtspunkt der
Ewigkeit Bestand haben könnte; lateinisch: sub specie aeternitatis.
Vielleicht erwidert man: so hoch gelange der Mensch niemals; so könne nur
das Auge Gottes sehen. Nun gut! Gemeint ist eine gewisse Überlegenheit
gegenüber dem Gestern, Heute, Morgen, jene Festigkeit, die aus dem Kern
eines Charakters kommt, nachdem man sich durch das Leben hindurchgekämpft
hat. Gemeint ist ein Standort außerhalb des Wasserfalles der Zeitwogen,
die hinabstürzen, gedrängt von Verblendung, Begehrlichkeit und Modesucht.
Auf jene geringschätzigen Urteile antwortet der besonnene Greis: »Ich
will gar nicht modern sein; denn dann müßte ich übermorgen schon
wieder anders sein. Ich glaube aber auch nicht einfach an die berühmte
>gute alte Zeit<. Denn die war auch nur, wie es überall ist, von
mittlerer Güte. Ich suche das Wertbeständige, das, was zu allen Zeiten
bewahrt werden muss, wenn man ein gediegenes Leben aufbauen will.«
Liegt darin nicht auch die Gefahr der Erstarrung? Gewiss! Das ist fast
ein Naturgesetz, daß das Alter starr wird. Selbst GOETHE ist ihr nicht
entgangen; man denke nur an die formelhaften Wendungen seiner Briefe in der
spätesten Zeit! Das Alltägliche lohnt nicht mehr, es immer neu zu
formen. Aber jene beiden Geistesgaben des Alters: die kondensierte Erfahrung
und die Prüfung auf Wertbeständigkeit, sind etwas, das auf keinem
Lebensgebiet entbehrt werden kann. In gefährdeter Lage tritt der große
Ratgeber auf. In Märchen ist es der Derwisch, im japanischen Kaiserreich
bis 1937 war es der Genro. Überall, nicht nur im Staatswesen, gibt es eine
Art von Senat, als sichtbare oder unsichtbare Einrichtung, manchmal hochwürdig,
manchmal auch ein bißchen zopfig. Wir denken hier nicht an den Senator
oder Aufsichtsrat, der sich begnügt, mit dem Kopf zu nicken; noch weniger
an den, der schon mit dem Kopf wackelt; sondern an den, von dem man mit Anerkennung
sagt: »Das ist ein Kopf.« Es soll aber auch Charakter dabei sein.
Eine Zutat von Unbiegsamkeit schadet nichts; der Biegbaren gibt es schon zu
viele. Echte Weisheit verleiht Würde, auch ohne äußere Abzeichen.
Die Stimme der vom Amt entpflichteten Ratgeber soll auch mitgezählt werden.
Zum bloßen Mitreden ohne eigentliches Stimmrecht gibt sich niemand her,
der etwas auf sich hält.
RANKE hat ausgeführt, weshalb der Historiker alt werden muß. PLATO bat niemanden vor dem 50. Jahr zur Lenkung des Staates zulassen wollen. In der
Tat: der Mann an der Spitze muss reifste Erfahrung haben; darüber
hinaus die schwer zu erringende Einsicht, dass ein Staat, der nicht an
Ewigkeitswerten mitorientiert ist, noch gar kein wahrer Staat ist. Die Kehrseite
darf nicht verschwiegen werden: Wer nur noch eine kleine Spanne vor sich hat,
kann sich nicht auf Wagnisse einlassen, die eine lange Planung in die Zukunft
hinein und langes Durchhalten erfordern. In der Politik aber ist es die große
Ausnahmenatur, auf die die Völker hoffen, und die Geschenke der Gnade lassen
sich nicht unter die Regeln der Alltagspsychologie bringen.
III. Mit dem dritten, abschließenden Teil nähern wir uns der höchsten Form der Sinngebung, die unter günstigen Umständen dem altgewordenen Menschen noch gelingen kann. Sie liegt schon an der metaphysischen Grenze, d. h. da, wo Raum und Zeit, diese widerspruchsreifen Schemata unserer irdischen Orientierung, ihre Fragwürdigkeit zu enthüllen beginnen. Im höchsten Alter muss man lernen, allmählich zwischen Diesseits und Jenseits zu stehen. — Aber gibt es wirklich ein Jenseits ? Ich bin mir klar darüber, dass dieses Wort nur ein Gleichnis ist für eine Richtung, in sich nun einiges zu bewegen beginnt.
Sehr merkwürdig wird vor allem das Verhältnis zur Zeit. Der junge
Mensch lebt sich voraus: er greift mit seinen Entwürfen in die noch ungestaltete
Zukunft hinein. Der Mensch auf der Höhe des Lebens glaubt in breiter Gegenwart
zu existieren: er sieht noch Zeit genug vor sich. Für den Altgewordenen
wird alles dringend. Es soll noch allerlei fertiggemacht werden. Aber daraus
folgt häufiger eine Scheinbetriebsamkeit als strenge Zeitausnützung.
Das Grundverhältnis des greisen Menschen zur Zeit ist doch anders: Man
wird sich selbst historisch, wie es GOETHE schon mit 63 Jahren von sich behauptet
hat. Die Leidenschaft ist meistens abgeklungen. Man holt behaglich die frühesten
Bilder wieder herbei, ja sie kommen von selbst. Ȁltestes bewahrt
die Treue« — das heißt doch: Längst Entschwundenes wird
vergegenwärtigt, es wird wieder gegenwartsartig. So wölbt sich ein
Brückenbogen über den Fluss der Zeit. »Des tiefsten Herzens
frühste Schätze quellen auf«, und neben die Erinnerungsbilder
gestellt, verliert das aktuelle Geschehen etwas von seinem Alleingeltungsanspruch.
Der Druck der umgebenden Realität beginnt sich zu mildern. »Vergangenheit
und Gegenwart in Eins« — wie GOETHE zu sagen liebte, bringen ein
wenig das Gefühl der Zeitlosigkeit. In diesem eigentümlichen Element
lebt der Greis. Ist es vielleicht schon Vorahnung der Ewigkeit? Ein gewagter
Gedanke! Wir wollen das Symbolhafte nicht zu sehr überspannen.
Noch in anderer Richtung finden wir etwas Ähnliches: der kondensierten
Erfahrung entspricht bei den geisteskräftigen Greisen eine höchst
gedrängte Sprache. Zwar kennt man auch die redselige Weitschweifigkeit
alter Leute. Nicht einmal PLATO ist ihr in seinem letzten Werk »Die Gesetze«
entgangen. Anders beim alten GOETHE: Einen poetischen Gedanken, den er Jahrzehnte
lang in sich genährt hat, presst er schließlich in wenige Verse
hinein: das Unendliche in eine Nussschale. Im Fernen Osten, wo die Kultur
des Greisenalters auf den höchsten Gipfel gebracht ist, gibt es eine eigentümliche
Kunstform: lyrische Gedichte, die nur aus 17 Silben bestehen. Wählen wir
etwas Ähnliches aus GOETHE, das sich selbst auf den Zusammenhang mit chinesischem
Stil beruft:
Hoffnung breitet leichte Schleier
Nebelhaft vor unsern Blick:
Wunscherfüllung, Sonnenfeier —
Wolkenteilung bring‘ uns Glück!
Das ist intensive Unendlichkeit. Es ist wie ein unmittelbarer
Durchstoß in verborgene Tiefen des Lebens. Geheimnisvolles scheint ganz
nahegerückt. Seine Überfülle quillt schon durch die irdische
Beengung hindurch. Der Kunsthistoriker A. E. BRINCKMANN hat verwandte Erscheinungen
an den Spätwerken großer Maler geistvoll aufgezeigt: Alles ist »wesentlich« geworden. Es kommt wie aus unendlicher Ferne und bringt gleichsam den Hauch
einer anderen Welt mit.
GOETHE wagt den kühn verallgemeinernden Satz: »Im
Alter werden wir Mystiker.« Aber es wäre doch eine Täuschung,
wenn man glaubte, die räumlich-zeitliche Realität ließe sich
je ganz abstoßen. Die Auseinandersetzung mit ihr muss weitergehen.
Im Verhältnis zur Welt zeigt sich nun ein auffallender Unterschied der
Naturen: Manche werden im Alter immer schroffer, herrischer; andere werden milde
und gütig. Beides ist vielleicht nur verschiedene Äußerungsweise
einer und derselben Wandlung. Wer zum Wesentlichen gelangt ist, verträgt
es schwer, dass die jüngeren Zeitgenossen in der Lebensgestaltung
schlumprig verfahren. Und doch ist es angesichts einer gereiften Haltung zum
Leben so wichtig, dass man die hässlichen Dinge dieser gebrechlichen
Welt mit feierlichstem Ernst behandelt? Der Mensch bleibt ein irrendes Geschöpf
— so oder so. Also betrachte man ihn mit dem milden Lächeln der Nachsicht!
Alles vergeht, nur die ewige Güte besteht. — Es ist Temperamentssache,
wie man sich wendet.
Die Güter dieser Welt verlieren der Reihe nach ihren Wert. GOETHE hat zu
seinem 70. Geburtstag nur zwei von diesem Verblassen ausgenommen:
»Es bleibt genug: es bleibt Idee und Liebe.«
FONTANE stellt wehmütig fest:
»Frühling, Sommer, Herbst und
Winter.
Ach, es ist nicht viel dahinter.«
Aber er muss hinzufügen:
»Doch, wie tief herabgestimmt
Auch das Wünschen Abschied nimmt:
Immer klingt es noch daneben:
Ja, das möcht‘ ich noch erleben!«
Denn hier umgibt uns Vertrautes. — Aber was liegt jenseits
der Grenze?
Darüber lassen religiöse Überzeugungen mannigfache Hoffnungsschimmer
fallen. Wer sich diesem Hoffen nicht anvertrauen kann, verharrt in heroischem
Nichtwissen. Oder er spürt in sich einen unzerstörbaren Kern, ohne
aussprechen zu wollen, wie der sich hinüberretten mag.
Gewiss ist nur der Tod.
Wer sein Leben mit ernster Besinnung geführt hat, hat den Tod jeden
Augenblick mitbedenken müssen. Im höchsten Alter drängt sich
dies Bewusstsein nur stärker auf. Die Nähe des Endes ist es,
die nun jedes Erleben färbt. Das Schwere liegt nicht im Tode als solchem;
darin haben die alten Philosophen ganz recht gehabt. Das Schwere liegt in der
Abschiedsfurcht und in der Sterbens-furcht. Die Abschiedsfurcht ist insgeheim
aus der Liebe geboren: man lässt die Nächsten mit ihrer ungewissen
Zukunft allein. Die Sterbensfurcht betrifft das Wie des Dahingehens. Denn dafür
hält die Natur unter Umständen unvorstellbare Qualen bereit. Wird
man sie würdig bestehen? Diese Bilder müssen jeden Tag aufs neue tapfer
heruntergedrückt werden. Das ist nicht die geringste Aufgabe, die das Alleinsein
stellt. — Man hat aufgehört, in dem Schauspiel
mitzuwirken, das man das Leben nennt. Seit Jahrtausenden und Jahrmillionen werden
solche Stücke auf Erden gespielt. Unendliche Tragik ist damit verbunden;
unendlich viel Herzblut wird vergossen. Zum Schluss aber wird der letzte
dahingehen, der noch eine Erinnerung an diese oder jene Tragödie bewahrt.
Sie alle versinken ins Nichts. — Wirklich ins Nichts?
— Würden wir an unserer kurzen Tragödie so unsagbar leiden,
wenn nicht eine unbezwingbare Stimme in uns bezeugte: es muss doch wohl
ein tieferer Sinn dahinter stecken?
Würden wir die Nacht des Todes so dunkel finden, wenn nicht ein Licht in
uns leuchtete, das sich aus höherem Lichte nährt? Diese Gegenwehr gegen das Nichts ist der Kern unseres Wesens. Sie
ist das Unzerstörbare in uns. Das Übrige wollen wir einer höheren
Macht überlassen.
Kröner, Stuttgart, Kröners Taschenausgabe
Band 286, Der alte Mensch in unserer Zeit,
Das Heidelberger Studio, eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks S.
131-142
Copyright 1958 by Alfred Kröner Verlag Stuttgart
Veröffentlichung auf Philos-Website mit freundlicher Erlaubnis des Alfred
Kröner Verlages, Stuttgart