Johann Joachim Spalding (1714 – 1804)

  Deutscher evangelischer Theologe und Religionsphilosoph, der als einer der führenden Hauptvertreter der evangelischen Aufklärungstheologie (Neologie) gilt. Nach Spaldings Auffassung soll die Lehre vom Wesen und der Notwendigkeit der Tugend zur Erlangung der Begnadigung und der ewigen Seligkeit im Mittelpunkt der Predigt zu stehen, wobei er sich auf die entsprechenden Texte des Neuen Testaments beschränkt. Vereinfacht ausgedrückt: in die Dogmatik sollen nur die Lehren aufgenommen werden, die für die Glückseligkeit, Besserung und Tröstung der Menschen hilfreich sind. In seiner Frühzeit beschäftigte er sich intensiv mit der Philosophie Christian Wolff’s, den er in Halle persönlich kennen lernte und der englischen Aufklärungsphilosophie (Shaftesbury, Hutcheson, Butler), deren Gedanken in Deutschland er durch Übersetzungen nachhaltigen Ausdruck verlieh. Als regelmäßiger Gast im Hause Markus Herz pflegte er u. a. Gedankenaustausch mit Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem, Johann Salomo Semler, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Friedrich Nicolai, Moses Mendelssohn und Immanuel Kant.

Siehe auch Wikipedia
und Kirchenlexikon

Caspar Lavater, der davon überzeugt war, Spalding im Himmel nach Paulus und Johannes an dritter Stelle anzutreffen, widmete ihm folgende Zeilen:

Edelster unter den Menschen, der fern am Baltischen Ufer
Einsam, ein Licht in der Finsternis, wohnt,
Seliger als auf Thronen, umströmt von jauchzenden Freuden
Angebetete Könige sind . . .
O wie freudig werd‘ ich am Tage meines Erlösers
Stehn vor dem ewigen Richterstuhl dann,
Sagen: »Hier sind die Schafe, die Du zu weiden mir gabest;
So hat mich Spalding sie weiden gelehrt.« …
Wie wird das Licht der Ewigkeiten,
Mein Spalding! Sich in Dir verbreiten!
Was wird Dein Mond, Dein Blick erzählen,
Wirst Du im Anschaun Gottes satt,
Nach dem Dich, redlichste der Seelen,
so oft mit mir gedürstet hat?


Inhaltsverzeichnis

Vertraute Briefe die Religion betreffend (Siebter Brief)
Die Bestimmung des Menschen als ausdrücklicher Titelbegriff

Vertraute Briefe die Religion betreffend (Siebter Brief)
Ich möchte den Menschen von dem Gedanken, der mir so vernunftgemäß und natürlich erscheint, erfüllt sehen, was eigentlich für ihn festes, zuverlässiges, befriedigendes Gut sei, wohin er am Ende nach allen unendlich zersplitterten Ausflügen, Tendenzen und Strebungen seines Geistes als zu seinem eigentlichen einfachen Ziel und Ruhepunkt zurückkommen muß, wovon er sagen kann, daß ihm da innerlich wohl ist.

Wenn es nun damit nicht auf ernsthafte Sammlung des Gemüts, auf Festhalten der Seele an Ordnung, Wahrheit und Harmonie ankommt, wenn das Wohlgefallen, an dem, was gut und recht ist, nicht unsere größte Freude und das Sehnen und Streben nach Wachstum hierin nicht unsere tätigste Aufgabe darstellt, so weiß ich nichts in der Welt, was würdig wäre, Zweck der vernünftigen Menschheit und ihr wirkliches, ganzes Glück zu heißen.

Bei einer solchen einmal vorhandenen Richtung der Seele führt uns der recht gebrauchte Verstand gerade und mit lebhafter Teilnahme des Herzens auf die Erkenntnis des Wesens, welches Quell und Inbegriff alles jenes Guten, Großen und Schönen ist. Daraus wird dann Gottesverehrung, Gottergebenheit, Gottesliebe, mit einem Worte, Religion im Menschen. Sie ist die erhabenste, beruhigendste Empfindung für den denkenden Geist, weil sie ihn ganz beschäftigt und ausfüllt, allen seinen Tätigkeiten Spannung, allen seinen Absichten Zusammenklang und allen Beweggründen zur Tugend, zur Gerechtigkeit, zur Redlichkeit, zur Menschenliebe Verbindung und Stärke gibt. So sammelt und erhöht sich das geteilte, zerstreute Gefühl vom einzelnen Wahren und Guten zu dem großen, alles umfassenden Gefühl von Gott, und da erst ist Einfachheit. Sicherheit und Ruhe.

Lassen Sie also einen Menschen mit dieser Denkungsart, aus dieser Stellung seines Herzens die Verhältnisse der Dinge betrachten, dann werden sie ihn auf eine ganz andere Art interessieren, einen ganz anderen Wert in seinen Augen bekommen, als wenn kleine vereitelte Gesinnungen ihn auf eine unrichtige Stelle schieben, wo alles und die Wahrheit selbst sich ihm schief darstellt.

Die richtige Schätzung seiner Hauptabsicht wird ihn lehren, mit Begierde alles aufzufassen, wodurch er weiser, edelgesinnter, Gott ähnlich und so zugleich glücklicher werden kann und ihm desto mehr Freude verschaffen, je mehr er Wahrheit findet, die ihm zu diesem seinem höchsten Ziel weiterhilft. Mit so gearteten Gemütern ist erst, was Religion und Auffassung von der Religion betrifft, etwas wirkliches anzufangen, und so lange sie diese Empfindungsart bei einem Widersacher nicht aus der Betäubung ins Leben zurückzurufen vermögen, möchte ich Ihnen nicht raten, mit ihm über irgend etwas, was Religion heißt, zu streiten.

Ich werde oft in meinen Erfahrungen daran erinnert, daß die Wahrheit zu sehen und sie zu genießen, zwei sehr verschiedene Dinge sind — und so werden Sie, mein Teurer, es gewiß auch finden. Sie werden Leute finden, die es zugeben, daß dies und das, was Ihnen wichtig ist, nicht zu leugnen ist. Die Wahrheit steht ihnen also im Blickfeld, aber sie schlüpfen mit einem so schnellen und kalten Blick darüber hin, als fürchteten sie, daß ihnen bei tieferem Anschauen die Augen davon wehtun würden. Reden Sie zu einem Denker dieser Gattung von der Gewißheit der göttlichen Regierung, und jener wird Ihnen mit einem kurzen trockenen Beifall sagen, daß die Sache wohl Ihre Richtigkeit habe. Aber schon in diesem Augenblick wird er Ihnen entwischen und sich mit seiner ganzen Redekunst auf die abergläubischen Vorstellungen werfen, die seiner Meinung nach unter den Christen herrschen und von denen sie eine fast wundertätige Kraft ihrer Gebete herleiten.

Fragen Sie ihn, ob er nicht an die Fortdauer des Lebens nach dem Tode glaube. Er wird auch dazu Ja sagen, aber Ihnen sofort ein Referat über den großen Schaden halten, der entsteht, wenn die Leute über fromme Gedanken an den Himmel die Erde vergessen und aufhören, gute, fleißige Bürger zu sein. Bringen Sie ihn auf die Hoheit und Liebenswertheit der Sittenlehre Jesu, auf die Reinheit der darin gebotenen Gottesverehrung, auf die edlen Grundsätze im Bereich der gesellschaftlichen Tugenden. Er wird Ihnen auch das zugestehen, aber so wenig dadurch gerührt werden, daß Sie bald genug seinen wortreichen Tadel und — wenn er Sie nicht aus Achtung schont — seinen lustigen Witz über mißverstandene Vorschriften des Evangeliums, über mönchische Moralitäten und absurde theologische Streitigkeiten werden anhören müssen. Das nenne ich Wahrheit sehen und nicht genießen. Sie mag stehen bleiben, diese überlästige Wahrheit und sich möglichst tief in ihren Winkel verkriechen. Aber auf sie zu schauen, sich an ihren Strahlen zu erquicken, das gehört nicht zur Weisheit dieser frostigen Denker, die, wenn es sich um Religion handelt, nur zu Tadeln und Schmähen heiß werden. Hiergegen, gegen diese Kälte und Verschlossenheit der Herzen, wären wohl immer zuerst und hauptsächlich die Bemühungen zu richten, mit welchen wir Gott Verehrer und dem Christentum Freunde schaffen wollen.

Und nun noch etwas über den Punkt der Schwärmerei. Man weiß sie, wie es Ihnen auch aufgefallen sein wird, in unseren Tagen überall zu erblicken. Es ist ein Bedürfnis der menschlichen Natur, nicht nur zu erkennen, sondern auch zu empfinden, nicht bloß erleuchtet, sondern auch erwärmt zu werden. Die Menschen nun, die den großen Gedanken von Gott und ihrer Verbindung mit ihm in sich noch nicht ausgetilgt haben, können — ohne den schmerzlichsten Verlust zu fühlen — die Bewegung nicht entbehren, mit der jener Gedanke ihr Herz erfüllte und erhob, jener Gedanke, der ihrer frommen Liebe soviel Feuer, ihrem Tugendeifer soviel Aktivität, Ihrem Trost soviel Sicherheit und Stärke gab. Sie mögen in ihren Glauben zu viel eingeschlossen, ihre Aktivität und ihre Freuden teilweise auf Stützen aufgerichtet haben, die nicht feststehen — das bedeutet keine Änderung in dem Gemütszustand, von dem hier die Rede ist. Ihnen war es bisher Wahrheit, belebende, erfreuende Wahrheit. Sie sehen nun, wie sich um sie her alles auf das Weg¬räumen, Bestreiten, auch wohl Verlachen dessen richtet, was ihre Seele bewegte. Um Erkenntnisse zu berichtigen, wird ihnen eine Quelle der Liebe und des Trostes nach der anderen verstopft, ohne ihnen zum Ersatz eine zu öffnen, die ihnen ebensoviel Stärke und Erquickung geben kann. So erschrecken sie dann vor der toten Leere der Seele, die ihnen droht, so werfen sie sich desto eifriger auf jede sinnliche Religiosität, und so werden sie Schwärmer, um nicht ohne Empfindung von Gott zu leben.

Der Aufklärer selbst mag sich für den Verlust dieser Empfindung mit der Freude entschädigt wissen, da Licht zu sehen, wo andere im Finsteren tappen, und wohl auch mit der Freude, hoch über den großen, blinden Haufen erhaben und wegen seiner Kühnheit im Erleuchten bewundert oder gefürchtet zu sein. Dies aber ist keine sättigende Nahrung für den, dessen Seele die höheren, belebenden Gefühle der Religion gewohnt ist und braucht und der zu jenen anderen Freuden teils zu schwach, teils zu gut ist. Wir wollen den Fall annehmen, daß uns nur die eigentliche reine Vernunftreligion noch übrig bleiben soll. Auch diese Religion enthält schon unstreitig Erkenntnisse und Überzeugungen, die mittels einer anschauenden Betrachtung notwendig anrühren, große Empfindungen erwecken, Bewunderung, Andacht, Freude, Zuversicht und Hoffnung, überhaupt Bewegung, Erhebung und Veredelung der Seele bewirken müssen. Ich für meinen Teil will mich zum mindesten ebenso gern und hoffentlich mit eben so viel Ehre von dem wohltätigen Segen des Herrn der Natur auf meinem Erntefelde wie von einem vatikanischen Torso, ebenso gern von der Größe meines Schöpfers in einem gestirnten Himmel wie der Anordnung und Schönheit einer Epopöe [soviel wie Epos] begeistern und entzücken lassen. Dergleichen religiöse Bewegungen scheinen mir der menschlichen Natur so gemäß zu sein, daß ich nicht wissen würde, was ich aus mir selber machen sollte, wenn es mir daran fehlte.

Warum denn nun von diesem Allem das durchaus tote Schweigen bei denen, welche noch die Religion der Natur zu glauben vorgeben? Warum unter dem ewigen Aufräumen, Bestreiten und Wegschaffen (wirklicher oder eingebildeter) religiöser Vorurteile nie ein lebendiges Wort von jenen seligen Wirkungen, eine eindringende Darstellung, durch welche die Gottesbeziehung dem gesunden Menschenverstande und -gefühl fesselnd, aufmunternd und voll Freude werden könnte? Man muß diese sonderbaren Bekenner der natürlichen Religion selbst fragen, was die Gottesbeziehung für ihr eigenes Herz bedeutet, was sie da tut, welcher Kraft sie sich von ihr bewußt sind. Denn so gar nichts dergleichen leuchtet aus ihren Äußerungen und ihren vorgeblichen Bemühungen zur Beglückung der Menschheit. Und da sollte es einem Beobachter der menschlichen Natur noch befremdlich erscheinen, daß die Furcht vor solch lebloser Kälte, vor einem solchen Wegreißen alles Rührenden und Erweckenden in dem Glauben an Gott eine Menge wohlmeinender Gemüter unausbleiblich zur Schwärmerei hinübertreibt! »Gebt doch«, möchte ich den unbarmherzigen kalten Aufklärern sagen, »diesem Teil eurer Brüder etwas wieder für das, was ihr ihnen mit einer so sorglosen Gleichgültigkeit nehmt. Gebt ihnen Nahrung für ihr Herz in dem, was ihr, eurem Vorgehen nach, nicht leugnet. Macht es ihnen fühlbar, daß sie durch eure sonst grausamen Erleuchtungen nicht alles verlieren, daß das, was ihr ihnen noch laßt, auch seine Kraft hat, die Seele an sich zu ziehen, zu bewegen, zu erwärmen. Zeigt dies an euch selbst. Redet darüber mit der wahren Sprache der Empfindung, vorausgesetzt, daß Empfindung davon in euch ist. Auf diese Art werdet ihr es bei vielen verhüten, daß sie das, was bei euren Belehrungen bisher gänzlich mangelt und ihnen doch so unentbehrlich ist, auf Abwegen suchen und Schwärmer werden.«

Und in der Tat, solange dies nicht geschieht, solange die Religion, die gereinigt heißen soll, nicht mit Lebhaftigkeit und Ernst von ihrer antreibenden, tröstenden und erfreuenden Seite dargestellt wird, solange sind die anmaßenden Bekämpfer religiöser Vorurteile in hohem Grade selbst Schuld daran, daß der religiöse Fanatismus sich immer weiter ausbreitet und immer tiefere Wurzeln schlägt. Auch in der Geisterwelt gleicht lauter kaltes Licht, wenn es überhaupt wirkliches Licht und nicht bloß Blendwerk und Schimmer ist, sehr einem Wintertage. Solch ein Tag kann bis zum Glänzen hell sein und doch, wie es oft geschieht, einen so unerträglichen schneidenden Frost mit sich bringen, daß es gar nicht zu verwundern ist, wenn viele, denen keine bequemere und gesündere Erwärmung dargeboten wird, noch immer lieber zu einem schwindlig machenden Kohlenfeuer ihre Zuflucht nehmen, als daß sie sieh der Gefahr einer unmittelbaren tödlichen Erstarrung aussetzen.

Ich finde Ähnliches in dem seinerzeitigen Gegensatz der trockenen Scholastik und der empfindsamen Mystik im Mittelalter. Die grübelnden Köpfe fädelten sich in das spitzfindige Spinnengewebe einer aristotelisch-metaphysischen Theologie hinein und verloren über dem unaufhörlichen Spalten und Zusammensetzen ihrer Begriffe alles Gefühl für Andacht und Frömmigkeit. Bei anderen, deren Herz und Empfindungsfähigkeit nach etwas Nahrhafterem verlangte, erregte das einen solchen Ekel, daß sie sich nicht weit genug von aller Arbeit des forschenden Verstandes entfernen zu können glaubten, um Gott und sich selbst desto vollkommener zu genießen. Daher ihre Zurückgezogenheit von der Welt, ihre Versenkung in sich selber, ihr passives Sichhingeben an religiöse, von der Einbildungskraft versinnlichte Eindrücke und ihr Wohlgefühl in einem Zustand, wo nicht angestrengt gedacht, sondern alles nur in träger Ruhe beschaut oder in verzückter Hitze gefühlt wird. Die Schwächen und Ausschweifungen, die dabei vorkamen, lassen sich nicht leugnen. Aber ein großer Teil davon kam auf die Rechnung derer, die sich zu tief in unfruchtbare Subtilitäten verirrten und nie daran dachten, bei sich selbst Einsichten und Empfindungen zu verbinden oder andere diese Verbindung zu lehren. Das Gemeinwohl litt nicht wenig bei jedem dieser beiden Extreme, aber die innerliche Moralität und Verbesserung der Seele doch unstreitig weniger bei dem andächtigen Mystiker als bei dem spekulierenden Scholastiker
. S.174ff.
Aus: Das Zeitalter der Aufklärung. Herausgegeben von Wolfgang Philipp In der Reihe: Klassiker des Protestantismus. Herausgegeben von Christel Matthias Schröder Band VII, Sammlung Dieterich
Carl Schünemann Verlag Bremen

Die Bestimmung des Menschen als ausdrücklicher Titelbegriff
Ich sehe, daß ich die kurze Zeit, die ich auf der Welt zu leben habe, nach ganz verschiedenen Grundregeln zubringen kann, deren Wert und Folgen daher auch unmöglich einerlei sein können . . . desto mehr würde ich mir hernach vorzuwerfen haben, wenn ich nicht die ernsthafteste Überlegung auf dasjenige gerichtet hätte, worauf mein eigentlicher Wert und die ganze Verfassung meines Lebens ankommt. Es ist doch einmal der Mühe wert, zu wissen, warum ich da bin, und was ich vernünftigerweise sein soll.

Die Beispiele der Menschen neben mir sind mir in diesem Stücke keine gültige Gewährleistungen, und wenn sie es auch sein könnten, so sondern sie sich doch selbst hierin so unendlich weit voneinander ab, daß ich in viel größerer Verwirrung und Verlegenheit sein würde, mir unter ihnen einen Führer auszusuchen, als für mich selbst nach dem richtigsten Wege zu forschen. Wenn ich dem einen Schwarm folge, so bin ich allemal sicher, von dem andern entweder verlacht oder verdammet zu werden. Ich weiß dieser Ungelegenheit nichts Stärkeres als eine aus Untersuchung entspringende Gewißheit entgegenzusetzen, und ich hoffe, diese wird mich auf allen Fall gegen beides gleichgültig machen.

So viel begreife ich leicht, daß die gemeinen Bestrebumgen nach Reichtum und Ehre, wenn sie nicht als bloße Mittel zu wirklichem Absichten und Gütern angesehen werden, dem wahren Zwecke des Menschen unmöglich gemäß sein können. Es ist soviel Leeres, soviel Falsches, soviel auf die bloße Einbildung Beruhendes in diesen Glückseligkeiten, daß ich mich unfehlbar in einem tausendfachen Elende befinden kann, wenn ich gleich in jenen alle meine Absichten völlig erreichet habe. ...

[Sinnlichkeit.] Der Trieb zum Vergnügen, der so tief in meiner Seele liegt, scheinet es zu rechtfertigen, wenn ich mich dieser Gattung von Begierden ganz überlasse. Was will ich mehr als Vergnügen, da ich, allem Ansehen nach, zum Vergnügen gemacht bin? ...

Und so wäre also ein ordentlicher Wollüstling dasjenige, was die Natur aus dem Menschen haben will. — Nach diesem meinen neuen System genieße ich nun eine Zeit lang die Ergötzungen dieses Lebens mit aller Fürsichtigkeit und Sorgfalt. — Und nichtsdestoweniger finden sich gewisse Augenblicke, da mir ist, als wenn mir etwas fehlet. Ich kann den Ekel und Überdruß mit aller meiner Mühe nicht vermeiden; ich werde unzufrieden; alles wird mir zur Last, und ich selbst....

Es ist ein dunkles Gefühl von Sehnsucht und einem geheimen Leeren in mir, das mich zu Boden drückt, das mich verzehret. Ich Unglückseliger! Was will ich denn? und wie ist mir geholfen? — Das ist mir wenigstens nun offenbar, daß die angenehme Bewegung meiner Sinne nicht meine ganze Seele ausfüllet; daß noch gleichsam ledige Abgründe darin sein müssen, welche eine Befriedigung von ganz anderer Art erfordern. Aber wo finde ich diese andere Befriedigung? Wo finde ich diese unbekannte Sättigung, nach welcher mein leerer Geist mit Angst und Unruhe schmachtet? —

[Vergnügen des Geistes.]
Wenn ich ohne die Benebelung meiner Sinnlichkeit in mich selbst gehe, so sehe ich wohl, daß wahre Verbesserungen, Vollkommenheiten und Vorteile meiner selbst bei mir möglich sind; daß meine Natur mich innerlich antreibet, darnach zu trachten und daß die Erreichung dieses Bestrebens mir ein Wohlgefallen erwecket, worin meine Seele schon mehr Beruhigung findet als in dem bloßen Taumel sinnlicher Lüste. … Ich bringe alles zusammen, ich brauche alles, meinen Geist vollkommener zu machen. Ich suche mein Gedächtnis zu bereichern, meine Begriffe aufzuklären, meinen Witz zu schärfen, meine Einsicht zu erweitern und zu befestigen. Ich ermüde nicht, diese meine Fähigkeiten immer von einer Stufe auf die andere zu bringen. Ich sorge also für mich, für meine wahren Vorteile, und ich freue mich, daß ich sie besitze. ...

[Tugend.] Ich wende hiebei eine neue Aufmerksamkeit auf mich selbst, und auf das, was sich in mir bei verschiedenen Fällen geäußert hat, und da entdecke ich unwidersprechlich, daß noch etwas mehrers ist, wohin sich meine Seele neiget, und was für sie gehöret. …

Ich spüre Empfindungen in mir, dabei ich mich selbst vergesse, die nicht mich und meinen Vorteil, insofern ich es bin, und insofern es mein Vorteil ist, sondern ganz etwas anders zum Zweck haben; Empfindungen der Güte und der Ordnung, die mein bloßer Wille nicht gemacht hat, und die auch mein bloßer Wille nicht vernichten kann; ursprüngliche und unabhängliche Triebe meiner Seele zu dem, was sich schickt, zu dem, was anständig, großmütig und billig ist, zu der Schönheit, Übereinstimmung und Vollkommenheit überhaupt, und vornehmlich in den Wirkungen verständiger und freihandlender Wesen. …

So ist also gewiß eine Art von Neigungen eine Quelle der Handlungen in mir, die von meiner Eigenliebe wesentlich unterschieden ist, und doch ebenso wesentlich zu meiner Natur gehöret. Ich finde dieses Principium von solcher Kraft, daß es sich oft über meine ganze Seele Meister macht, daß es alle andere Empfindungen gleichsam verschlinget, und allein mich entweder mit Lust oder mit Qual erfüllet.

Da ich nun diese ursprüngliche Einrichtung meiner Natur nicht verleugnen kann, so würde ich derselben offenbarlich widersprechen, wenn ich meine Absichten auf nichts weiter als auf mich, auf meine Lust, und auf meine Vorteile richten wollte.

Ich sehe nunmehr, wohin meine Natur mich führet, meine ganze Natur, wenn ich sie unverstümmelt und unverfälscht betrachte; und ich will ihr folgen, wohin sie mich führet.

Ich will meine Lust und meinen Nutzen suchen; aber ich will sie nicht allein suchen, weil ich meinen ganzen Zweck und meinen wahren Wert darin nicht setzen kann.

Ich will dahin trachten, daß die Neigung der Güte, die mir eingepflanzt ist, immer mehr gestärket, und auf alle mögliche Weise befriediget werde. Die Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts, die mich so angenehm rühret, soll unveränderlich ein Gegenstand meiner ernstlichen Bestrebungen und meine eigene Glückseligkeit sein. … Gerechtigkeit gegen alle Menschen, Aufrichtigkeit in meinem ganzen Verhalten, Dankbarkeit gegen Vaterland und Wohltäter, Großmut gegen Feinde selbst, und eine in dem weitläuftigsten Verstande allgemeine Liebe. Diese natürlichen und unmittelbaren Ausflüsse einer innerlichen Richtigkeit, darin die Gesundheit und die Zierde meines Geistes bestehet, dies soll mein angenehmstes und beständigstes Geschäfte sein. Ich will mich gewöhnen, das Gute, das Glück, die Schönheit, die Ordnung allenthalben, wo ich sie sehe, mit Lust zu sehen. ...

Mein Wert und meine Glückseligkeit soll nun darin bestehen, daß die oberherrschaftlichen Aussprüche der Wahrheit, unbetäubt durch den Tumult der Leidenschaften und der eigennützigen Begierden, allein meine Handlungen leiten; daß die reine Empfindung dessen, was sich schickt, meine eigentliche höchste Verbindlichkeit ausmache, und daß ich also überhaupt in einem jeden Augenblicke meines Lebens das sein möge, wozu meine Natur und die allgemeine Natur der Dinge mich bestimmen. …

[Religion.] Indem ich aber diesen Gedanken, die mich so hoch führen, immer weiter folge, so gerate ich auf einen Begriff, der mich zu einer noch weit erhabenem Bewunderung hinreißet. …

Dieser Sonnenwirbel ist ein Sandkorn. Diese Erde ist ein Staub, ein Punkt. Und ich auf dieser Erde — was bin ich?Nur das macht mich noch zu etwas, daß ich die Ordnung empfinden, und in derselben bis zu dem Anfange aller Ordnung hinaufsteigen kann. Zu einer solchen Hoheit bin ich bestimmt, und der will ich immer näher zu kommen suchen. Ich will nicht eher stehen bleiben, als bis ich der Schönheit bis zu ihrer ersten Quelle gefolget bin. Da soll dann meine Seele ruhen. Da soll sie in allen ihren Fähigkeiten vergnüget, in allen ihren Trieben befriediget, satt von göttlichem Licht, und entzückt in den Verehrungen und Anbetungen der obersten allgemeinen Vollkommenheit, alles niedere und sich selbst vergessen.

Da ich nun einen so ehrwürdigen Lehrer und Gesetzgeber an meinem Gewissen habe, so bin ich zwar deswegen so viel mehr verbunden, auf seine Sprache, die sich ohne Unterlaß in dem innersten Grunde meiner Seele hören lasset, aufmerksam zu sein, und ihr zu gehorchen; allein ich bin dann auch zugleich gewiß, daß die unwandelbare Redlichkeit, die ich hierin beweise, der richtige Weg ist, jenem Urbilde der Ordnung nach meiner Fähigkeit ähnlich zu werden, und ihm zu gefallen. Es ist nichts bei mir möglich, das mir einen Wert geben kann, nichts, das mich mit der anfänglichen Einrichtung meiner Natur und mit den Absichten der höchsten Regierung übereinstimmig machen kann als meine innerliche Richtigkeit. Dieser einzige Grund des Wohlgefallens der Gottheit ist so ewig und unveränderlich als sie selbst.

Zwar in der Welt ist mir alles ein Rätsel. Ich sehe die Oberflächen der Dinge, und ihre innere Beschaffenheiten entwischen meinem Auge sowohl als meinem Nachdenken. Vielleicht lehren mich die langwierigsten und emsigsten Untersuchungen nichts mehr als nur künstlicher, und nicht einmal glücklicher, mutmaßen. Hier gehet alles ins Unendliche hinein; und so auch die Verwaltung der Welt. Alles verwirret mich; alles macht mich ungewiß. —

Doch, was brauche ich mehr zu wissen, da ich meine Schuldigkeit und die Oberherrschaft einer unendlichen Liebe mit einer ungezweifelten Überzeugung erkenne? Diese sind es endlich doch nur allein wert, daß sich alle übrige Einsichten darin endigen. Ich will es mich daher nicht befremden lassen, wenn ich in Umstände gerate, davon ich die Folgen und Entwickelungen nicht voraussehe. Ich will nur meinen großen Zweck nie aus dem Gesichte verlieren, und mich dann mit einer unbewegten Sicherheit den Fügungen desjenigen überlassen, der alles nach seinem Willen lenket, und dessen Wille immer gut ist. Von seiner Fürsicht geleitet, werde ich mitten durch die fürchterlichsten Verwirrungen dieses Lebens glücklich hindurchgelangen, und alle die Dunkelheiten, die mich vielleicht itzo umgeben und stutzig machen, werden sich endlich einmal in Licht und Freude verwandeln.

Aber wann wird dies geschehen? — Ich folge hin und wieder den Schicksalen in diesem Leben mit meinen Beobachtungen bis ans Ende, und ich finde den Knoten nicht aufgelöset. …

[Unsterblichkeit.] ... Ich erwarte also getrost noch eine entfernte Folge von Zeiten, welche die volle Ernte von der gegenwärtigen Saat sein, und, vermittelst einer allgemeinen richtigen Vergeltung, die Weisheit rechtfertigen wird, welche das Ganze verwaltet.

Die Anlage scheinet ganz offenbar dazu in meiner Natur gemacht zu sein. Ich spüre Fähigkeiten in mir, die eines Wachstums ins Unendliche fähig sind, und die auch außer der Verbindung mit diesen Körpern sich nicht weniger äußern können. Sollte mein Vermögen, das Wahre und Gute zu erkennen und zu lieben, alsdenn aufhören, wann es entweder erst durch die Übung geschickt wird, so viel geschwinder zu einer größern Vollkommenheit hinan zu steigen, oder auch, wenn es kaum angefangen hat, sich auszuwickeln und in Bewegung zu setzen? Das wäre zu viel Vergebliches in den Veranstaltungen einer unendlichen Weisheit. ...

Wie sehr wird nun nicht durch diese große Erwartung mein Wert und meine Bestimmung erhöhet. Ich erkenne nunmehr, daß ich zu einer ganz andern Klasse von Dingen gehöre, als diejenigen sind, die vor meinen Augen entstehen, sich verwandeln und vergehen; und daß dieses sichtbare Leben nicht den ganzen Zweck meines Daseins erschöpfe. Ich bin also für ein anderes Leben gemacht. Die gegenwärtige Zeit ist nur der Anfang meiner Dauer; es ist meine erste Kindheit, worin ich zu der Ewigkeit erzogen werde . . .

Ich hoffe, dies wird mich nach und nach zu der Verfassung bringen, daß ich den Abwechselungen und Zufällen dieser Welt mit unbewegtem Gemüt, ohne Furcht und Begierde, zusehen kann.
S.73-79
Aus: Die Philosophie der deutschen Aufklärung, Texte und Darstellung von Raffaele Ciafardone, Deutsche Bearbeitung von Norbert Hinke und Rainer Specht
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 8667, © 1990 Philipp Reclam jun., Stuttgart