Wladimir Sergejewitsch Solowjew / Solowjow / Solov'ev (1853 – 1900)
Russischer
Philosoph, Publizist und Dichter. Um die gottgewollte soziale Ordnung
der freien Theokratie zu erreichen, bemühte er sich um eine Einheit
aller christlichen Gemeinschaften in einer universalen Kirche. Seit 1890
schien ihm allerdings diese Hoffnung utopisch; seinen apokalyptischen
Erwartungen verlieh er in seinem letzten Werk, der »Kurzen
Erzählung vom Antichrist« (1899/1900), dichterischen Ausdruck.
Die gesamte nicht-marxistische russische Philosophie des 20. Jahrhunderts ist von seinen Gedanken nachhaltig beeinflusst, ebenso der russische Symbolismus
von seiner Dichtung. Kirchengeschichtlich ist Solowjew
einer der großen Wegbereiter der ökumenischen
Bewegung. Die »Sophia«,
die Trägerin der göttlichen
Weisheit, von jeher Lieblingsgegenstand gnostischer, theosophischer
Spekulation,
wurde auch für Solowjew zur personifizierten
Verkörperung jenes göttlichen Urgrunds der Welt, der durch den
Schleier der Isis überdeckt ist. Er war sich sicher, dass ihm die Sophia schon in seiner Knabenzeit einmal während des Gottesdienstes - auf
dem Höhepunkt der Feier der Liturgie - in einer Vision erschienen ist. Siehe auch Wikipedia und Kirchenlexikon |
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Inhaltsverzeichnis
Sophia Das Reich Gottes Der moralische Sinn des Lebens |
Die
Nachprüfung Der Übermensch Kurze Erzählung vom Antichrist |
>>> Zu Solovev-Gedichten auf der Website »Russische Philosophie« von Ralf Hellbart
Sophia
,,...,O du Blüte der Gottheit,
Du bist hier, ich fühle es, warum bist du
Seit den Jahren der Kindheit meinen Augen nicht erschienen?‘
Doch kaum hatte ich in Gedanken dieses Wort ausgesprochen.
Da war plötzlich alles erfüllt von goldenem Azur,
Und wiederum strahlte sie vor mir auf,
Doch allein ihr Antlitz, nur das Antlitz.“
[...]
,,Da wehte es wie Rosenduft über Himmel und Erde.
Und im Purpur himmlischen Glanzes,
Mit Augen voll azurenen Feuers
Blicktest du wie das erste Glänzen
Des Welt- und Schöpfungstages
Was ist, was war, was kommen wird in Ewigkeit —
Alles umfing hier ein unbeweglicher Blick
Unter mir blauen Meere und Ströme
Und der ferne Wald und die Höhen der Schneeberge.
Alles sah ich, und alles war nur eins:
Nur eine Gestalt weiblicher Schönheit!
Das Unermeßliche war eingegangen in ihr Maß,
Vor mir, in mir warst allein Du!‘
O du Lichtglänzende, du hast nicht
getrogen.
Ganz habe ich dich in der Wüste gesehen.
Diese Rosen werden in meiner Seele nicht verwelken,
Wohin mich auch die Wege des Lebens verschlagen mögen.
... Noch ein Gefangener der eitlen Welt,
Habe ich so unter der groben Rinde der Materie
Den unverweslichen Porphyr hindurchscheinen sehen
Und das Strahlen der Gottheit gespürt.
Im Vorgefühl habe ich über den Tod triumphiert
Und die Kette der Zeiten im Traum überwunden.“ S.15-16
Das
Reich Gottes
Das Reich Gottes ist ja vollendet in der Idee des
ewigen Gottes und im Keime enthalten in einem jeden von uns. Es ist aber gerade
darum notwendigerweise etwas, das wir selber vollenden müssen, auch für
uns. Das Reich Gottes ist unsere Angelegenheit,
unsere Aufgabe, unser Werk. Und diese Aufgabe kann niemals ihre Grenzen finden
im Einzeldasein. Der Mensch ist ein geselliges Wesen, und die höchste Aufgabe
seines Lebens, das Endziel alles seines Strebens, kann gar nicht ausschließlich in seinem persönlichen Schicksal
liegen, muss vielmehr angesprochen werden im gesellschaftlichen Geschick der
ganzen Menschheit. Denn wenn das Reich Gottes die
Vereinigung der göttlichen Gnade mit den Menschen bedeutet, so doch natürlich
nicht mit dem Menschen, der sich in seiner Selbstsucht
verallgemeinert, vielmehr nur mit dem lebendigen Gliede eines weltumfassenden
Ganzen! ...
Und wie das Reich Gottes sich in dem Einzelnen
verwirklicht als sittliche Tat, so geht diese wiederum zu ihrer Vollendung über
in den allgemeinen Vorgang der Menschvergöttlichung in der Weltgeschichte. S. 368f.
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz &
Wasmuth Verlag AG. Zürich
Die
Nachprüfung
Bevor wir uns zu irgend einer Tat entscheiden, der Bedeutung zukommt für
unser persönliches und unser gemeinschaftliches Leben, sollten wir das
sittliche Vorbild Christi wachrufen in unserer Seele, und uns in es versenken
und uns fragen:
Hätte er diese Tat vollbringen können oder — mit andern Worten:
Wird er sie billigen oder nicht, wird er mich segnen zur Vollendung dieser Tat
oder nicht?
Allen Menschen ohne jede Ausnahme möchte ich diese Nachprüfung ans
Herz legen — und sie wird nicht trügen: in jedem zweifelhaften Falle,
wenn euch nur die Möglichkeit blieb, in euch zu schauen und nachzudenken,
erinnert euch Christi, stellt ihn euch lebendig vor, so wie er ist, und legt
auf ihn die ganze Last eurer Zweifel!
Schon im voraus hat er sich bereit erklärt, auch diese Bürde zu allen
andern auf sich zu nehmen — natürlich nicht, um euch die Hände
freizugeben für jede Missetat, vielmehr damit ihr, indem ihr euch an ihn
wendet und euch auf ihn stützt, euch des Übels zu enthalten vermöget
und so imstande seid, Führer zu sein zu seiner zweifellosen Wahrheit.
Würden alle Menschen von gutem Willen, Einzelpersonen, führende Persönlichkeiten
und die Leiter der christlichen Völker sich von jetzt an in allen
zweifelhaften Fällen dieser nie trügenden Nachprüfung unterziehen,
so wäre das der Anfang für das zweite Kommen des Herrn und die Vorbereitung
auf das jüngste Gericht — denn die Zeit ist nahe.
S. 106f.
Aus: Jakob Studer, Für alle Tage, Ein christliches Lesebuch, Fretz &
Wasmuth Verlag AG. Zürich
Der
moralische Sinn des Lebens in seiner endgültigen Bestimmung und der Übergang
zu einer Erkenntnistheorie
Unser Leben erhält moralischen Sinn und Wert,
wenn zwischen ihm und dem vollkommenen
Guten ein immer vollkommener werdendes Band hergestellt wird. Dem eigentlichen
Begriffe des vollkommenen
Guten gemäß müssen alles Leben
und alles Dasein mit ihm verbunden sein und in dieser seiner Verbindung einen Sinn finden. Ist
etwa im tierischen Leben, in seiner Ernährung und Vermehrung kein Sinn zu finden? Dieser unzweifelhafte und wichtige Sinn, der nur einen
unwillkürlichen und teilweisen Zusammenhang des einzelnen Wesens mit dem
allgemeinen Guten ausdrückt, kann das
Leben des Menschen nicht ausfüllen,
denn seine Vernunft
und sein Wille
fordern als Formen
des Unendlichen
noch ein anderes: des Geistes Nahrung ist die Erkenntnis des vollkommenen Guten, und er wächst, indem
er das Gute tut, das heißt, indem er das Allgemeine und
Absolute in allen
einzelnen und bedingten Beziehungen verwirklicht. Wenn wir innerlich die
vollkommene Vereinigung mit dem absoluten
Guten fordern, so zeigen wir damit, dass das Geforderte uns noch nicht
gegeben ist, und dass deshalb der moralische Sinn unseres
Lebens nur darin bestehen kann, dass wir diese vollkommene Verbindung
mit dem Guten erreichen
oder dass wir die schon vorhandene innere Verbindung mit ihm immer
vollkommener ausgestalten . . .
Wir sind tatsächlich dem Absoluten untergeordnet,
wie wir auch immer dieses Absolute nennen mögen;
ebenso sind wir allen anderen Menschen gemäß den grundlegenden Eigenschaften des menschlichen Wesens gleich, und wir sind mit ihnen in unseren gemeinsamen
Lebensschicksalen durch Vererbung, durch das geschichtliche Geschehen und durch
das Gemeinschaftsleben solidarisch; und endlich besitzen wir tatsächlich
wesentliche Vorzüge vor der äußeren, physischen Schöpfung. Die moralische Aufgabe kann also nur in der Vervollkommnung des Gegebenen bestehen.
Diese reale dreifache
Beziehung muss
in die drei-einige Norm einer vernunfterfüllten
Tätigkeit des Willens umgewandelt werden.
Die fatalistische Unterordnung unter eine höhere Kraft muss
zu einem bewussten, freien Dienen für das vollkommen
Gute werden, die natürliche Solidarität mit den anderen Menschen
muss in eine mitfühlende Wechselwirkung und Übereinstimmung mit ihnen übergehen, und unsere realen Vorzüge
vor der stofflichen Natur müssen sich in eine vernünftige Herrschaft
über sie zu ihrem und unserem Heile umwandeln.
Das reale Prinzip der moralischen Vervollkommnung ist in drei Grundgefühlen enthalten, die
der menschlichen Wesenheit eigen sind und ihre natürliche Tugend ausmachen: im Schamgefühle, das
unsere höhere Würde vor den Angriffen tierischer Begierden schützt, im Gefühle
des Mitleides,
das uns mit allen anderen gleichmacht, und endlich im religiösen Gefühle, in dem sich unsere Erkenntnis
des Höchsten Guten ausspricht. In diesen Gefühlen,
die das gute Element unserer Natur darstellen, die von Anbeginn an nach dem
Pflichtgemäßen strebt (denn untrennbar von
diesen Gefühlen ist das wenn auch unklare Bewusstsein, dass sie normal
sind; dass wir uns der Maßlosigkeit sinnlicher Begierden und der sklavischen Unterordnung unter unsere tierische Natur zu schämen
haben, dass wir mit anderen Mitleid, dass wir vor
dem Göttlichen Ehrfurcht empfinden müssen, dass dieses alles gut,
das Gegenteil aber böse ist), in diesen Gefühlen und im Mahnen unseres mit ihnen verbundenen Gewissens ist
die einige, oder genauer dreieinige Grundlage der moralischen Vervollkommnung
enthalten. Eine gewissenhafte Vernunft, die
die Impulse unserer guten Natur verallgemeinert, macht diese Impulse zum Gesetze.
Der Inhalt des moralischen Gesetzes ist dasselbe, was uns
in unseren guten Gefühlen gegeben ist, nur in die Form einer allgemeinen
und notwendigen (pflichtgemäßen) Forderung
beziehungsweise eines Verbotes gekleidet. Das moralische Gesetz wächst
aus der Sprache des Gewissens empor, sowie auch
das Gewissen eine Entwicklung des Schamgefühles
ist, nicht seiner physischen, sondern seiner formalen Seite nach.
Das moralische Gesetz, das das unmittelbare Gefühl
der Schamhaftigkeit verallgemeinert, gebietet uns, unsere sinnlichen Begierden
immer zu beherrschen und ihnen nur als einem untergeordneten Element in den
Grenzen der Vernunft Raum zu geben; hier kommt die Moral schon nicht (wie im elementaren Schamgefühle) einfach
als das instinktive Abweisen eines feindlichen Elementes oder als ein ihm Nachgeben
zum Ausdrucke, sondern es fordert einen wirklichen Kampf mit dem Fleische. In Bezug auf andere Menschen gibt das
moralische Gesetz dem Gefühle des Mitleides oder der Sympathie die Form der Gerechtigkeit und verlangt von uns, dass wir
jedem einzelnen unserer Nebenmenschen eine ebensolche absolute Bedeutung beimessen
wie uns selbst, oder dass wir uns zu den anderen verhalten, wie wir wünschen,
dass sie sich zu uns verhalten möchten, ganz unabhängig von dem einen
oder anderen Gefühle.
Endlich behauptet sich das moralische Gesetz in Bezug auf das Göttliche als Ausdruck seines gesetzgeberischen Willens und verlangt von uns die
absolute Anerkennung dieses Willens in Anbetracht seines Wertes oder seiner
Vollkommenheit. Aber dem Menschen, der eine solche reine
Erkenntnis des göttlichen
Willens, als des all-einigen und umfassenden Guten,
erlangt hat, muss es klar sein, dass die Fülle dieses Willens sich nur kraft
ihrer eigenen, inneren Tätigkeit in
der Seele des Menschen
offenbaren kann. Wenn die formelle oder rationelle Moral zu einer solchen Höhe gelangt ist, geht sie in das Gebiet der absoluten
Moral über, das im vernünftigen Gesetze enthaltene Gute wird
von dem Guten ausgefüllt, das aus der göttlichen Gnade
fließt.
Wie das wahre, mit dem eigentlichen Wesen der Sache übereinstimmende Christentum
immer gelehrt hat, hebt die Gnade weder die Natur,
noch die natürliche Moral auf, sondern vollendet
sie, sie führt sie zur Vollendung, und ebenso wenig hebt die Gnade das Gesetz auf, sondern erfüllt es, und nur nach Maßgabe seiner wirklichen
Erfüllung macht sie das Gesetz überflüssig.
Die Anwendung des moralischen
Prinzips jedoch kann sich (der Natur und dem
Gesetze nach) aus zwei Gründen, aus einem natürlichen und einem
moralischen, nicht nur auf das persönliche Leben des einzelnen Menschen
beschränken. Der natürliche Grund besteht darin, dass der Mensch als
abgesondertes Einzelwesen gar nicht existiert,
und dieser Grund würde vom praktischen Gesichtspunkte aus vollständig
genügen, aber für die hartgesottenen Moralisten, denen nicht das Dasein,
sondern nur die Pflichterfüllung wichtig ist, gibt es auch noch einen moralischen
Grund: nämlich, dass der Begriff des einzelnen von allen abgesonderten
Menschen und der Begriff der Vollkommenheit sich nicht entsprechen. Somit kann aus natürlichen
und moralischen Gründen der Vervollkommnungsprozess, der den moralischen
Sinn unseres Lebens ausmacht, nur als ein Prozess der Gesamtheit gedacht werden,
der im »Gesamtmenschen«, das ist in
der Familie, im Volke und in der Menschheit, vor sich geht...
Bei einer ständigen Wechselwirkung zwischen
persönlichen moralischen Opfertaten und einer organisierten moralischen
Arbeit des »Gesamtmenschen« wird der
moralische Sinn des Lebens oder das Gute endgültig gerechtfertigt, indem
er in aller Reinheit, Vollkommenheit und Kraft in die Erscheinung tritt. Die
verstandesmäßige Wiedergabe dieses Prozesses in seiner Gesamtheit,
wo das im geschichtlichen Geschehen schon Erreichte verfolgt und das noch zu
Erreichende vorausgenommen wird, das ist die in diesem Buche dargestellte Moralphilosophie.
Indem wir den ganzen Inhalt dieses Buches zusammenfassen, finden wir, dass das
vollkommene Gute endgültig bestimmt werden muss als die unteilbare
Organisation der dreieinigen Liebe.
Das Gefühl der Ehrfurcht oder der Gottesfurcht verwandelt sich aus einer
furchtsamen und unwillkürlichen, dann aber aus einer freien, kindlichen
Unterordnung unter das höchste Prinzip, nachdem es sein Objekt als die
unendliche Vollkommenheit erkannt hat, in eine reine, alles umfassende, unbegrenzte,
nur durch die Erkenntnis seiner Absolutheit bedingte Liebe zu Ihm, in die aufstrebende,
höhere Liebe. Nachdem diese Liebe
sich mit ihrem alles umfassenden Objekte in Einklang gebracht hat, umfasst sie
in Gott auch alles
andere und insbesondere alles, was gleicherweise an ihr teilnehmen kann, nämlich
alle menschlichen Wesen; hier wird unser physisches und dann auch unser moralisch-soziales
Mitleid mit den Menschen zur geistigen Liebe
oder zur Gleichheit in der Liebe. Aber
die göttliche Liebe, die sich der Mensch als eine allumfassende angeeignet
hat, kann hierbei nicht stehen bleiben. Indem sie zu einer sich hinabneigenden
Liebe wird, wirkt sie auch auf die physische Natur, und leitet diese in die
Fülle des absoluten Guten als den lebendigen Thron göttlichen Ruhmes...
Wenn der moralische Sinn des Lebens, im Grunde genommen, zu einem allseitigen
Kampfe und zum Siege des Guten über das Böse führt, taucht die
ewige Frage auf:
Woher kommt dieses Böse selbst? Wenn es aus
dem Guten kommt, ist der Kampf mit ihm dann nicht
ein Missverständnis? Wenn es aber seinen Quell
nicht im Guten, sondern in etwas anderem hat, wie
kann dann das Gute ein Absolutes sein, da es doch die Bedingung für seine Verwirklichung in diesem Fall
außer sich hat? Ist es aber nicht absolut, worin liegt dann sein eigentlicher
Vorzug und die Bürgschaft seines endgültigen Sieges über das
Böse?
Der vernünftige Glaube an das absolut Gute stützt sich auf die innere Erfahrung und
darauf, was sich aus ihr mit logischer
Notwendigkeit ergibt. Die
innere, religiöse Erfahrung ist aber eine persönliche und von einem
äußeren Gesichtspunkte aus eine bedingte Sache. Wenn daher der auf
dieser Erfahrung begründete, vernünftige Glaube in allgemeine theoretische Behauptungen übergeht, so wird von diesem
Glauben auch eine theoretische Rechtfertigung gefordert.
Die Frage nach der Entstehung des Bösen ist eine rein verstandesmäßige
und kann nur durch wahre Metaphysik entschieden werden, die ihrerseits wieder die Entscheidung einer anderen Frage
voraussetzt, nämlich: Was ist Wahrheit,
worin besteht ihre Glaubwürdigkeit, und auf welche Weise wird sie erkannt?
Die Selbständigkeit der Moralphilosophie auf ihrem eigenen Gebiete schließt
einen inneren Zusammenhang dieses Gebietes mit dem Gegenstande der theoretischen
Philosophie, mit der Erkenntnislehre und der Metaphysik
nicht aus.
Am allerwenigsten steht es den an das absolut Gute Glaubenden
an, die philosophische Untersuchung der Wahrheit zu
fürchten, gerade als ob der moralische Sinn der Welt durch seine endgültige
Erklärung etwas verlieren könnte, und als ob die Vereinigung mit Gott
in der Liebe, und die Übereinstimmung mit
dem göttlichen Willen im Leben uns keinen
Anteil an der göttlichen Vernunft gestatten
würde. Nachdem wir das Gute als solches in der Moralphilosophie gerechtfertigt
haben, müssen wir die Rechtfertigung des Guten als Wahrheit in der Erkenntnistheorie geben. S. 285-290
Aus: Slavische Geisteswelt 1 - Russland, herausgegeben von Martin Winkler, Holle
Verlag
Der
Übermensch
Die Gottheit aufnehmen kann der Mensch nur in seiner wahren
Ganzheit, in der inneren Einheit mit allem; folglich ist der wahrhaft vergottete Mensch oder der wahre Mensch-Gott unbedingt
kollektiv oder katholisch — die Allmenschheit oder die universale Kirche.
Der Mensch, der durch sich selbst, ohne die Kirche, göttliche Bedeutung
erlangen will, ein solcher individueller Mensch-Gott ist die Verkörperung
der Lüge, eine Parodie auf Christus oder der Antichrist. Der Gottmensch
ist individuell, der wahre Mensch-Gott ist universal. S.40f.
Der Mensch, der nur Mensch bleiben will, der sich für immer auf die Grenzen
der menschlichen Natur allein beschränken will, der hört eben damit
auf, wahrer Mensch, legitimer Menschensohn zu sein; je mehr sich der Mensch
aber über die menschliche Beschränktheit erhebt, um so mehr nähert
er sich der wahren Menschlichkeit Der wahre Mensch und legitime Menschensohn im absoluten Sinne aber ist der Gottmensch
Christus, der die menschliche Beschränktheit in absoluter Weise überwunden
hat. Der Gottmensch der das Ende und das Ziel der menschlichen Natur ist, ist
gleichzeitig damit und eben dadurch für uns der Erstling oder die bestimmende
Grundlage der neuen übermenschlichen Bildungsform in welcher die Menschheit,
sich über sich selbst erhebend, sich wesenhaft mit der Gottheit vereint
und Glied des Reiches Gottes wird. Diese Bildungsform der Menschheit, die wiedergeboren
wird zum Reiche Gottes, ist die Kirche. Sie verhält sich zur natürlichen
Menschheit so, wie diese letztere sich zu der übrigen irdischen Natur verhält.
Im natürlichen Menschen realisiert sich das Ideal der irdischen Natur,
in der Kirche realisiert sich das Ideal der Menschheit. S.42
Kurze
Erzählung vom Antichrist
... In dieser Zeit war unter den wenigen gläubigen Spiritualisten ein bemerkenswerter
Mensch viele nannten ihn einen Übermenschen —, der gleich weit entfernt
war von der Kindlichkeit des Verständnisses wie von der des Herzens. Er
war noch jung, aber dank seiner hohen Genialität hatte er mit seinen kaum
dreiunddreißig Jahren durch seine philosophische, schriftstellerische
und soziale Tätigkeit bereits eine bedeutende Berühmtheit erlangt.
Aus dem Bewusstsein der ihm innewohnenden großen Geisteskraft war
er stets überzeugter Spiritualist, und sein klarer Geist wies ihn immer
auf die Wahrheit dessen, woran man glauben muß: an das Gute, an Gott,
an den Messias. Daran glaubte er, aber
er liebte nur sich
allein. Er glaubte an Gott, aber ohne
es zu wollen und ohne sich darüber klar zu sein, zog er in der Tiefe seiner
Seele sich Ihm vor. Er glaubte an das Gute, doch das alles sehende Auge der
Ewigkeit wußte, daß dieser Mensch sich vor der Macht des Bösen
beugen werde, sobald sie ihn erkaufen würde — nicht mit dem Trug
der Sinne und niedriger Leidenschaften, ja nicht einmal mit der so verführerischen
Lockspeise der Macht, sondern allein durch eine grenzenlose Eigenliebe. Übrigens
war diese Eigenliebe weder ein dunkler Instinkt noch eine unsinnige Anmaßung.
Außer seiner einzigartigen Genialität, seiner Schönheit und
seinem Seelenadel rechtfertigten die glänzendsten Beweise der Enthaltsamkeit,
der Uneigennützigkeit und aktiver Wohltätigkeit doch wohl hinreichend
die überaus starke Eigenliebe des großen Spiritualisten, Asketen
und Philanthropen. Und kann man es ihm zum Vorwurf machen, daß er, so
reich beschenkt mit Gottes Gaben, sie als Zeichen dafür nahm, daß
Gott ein besonderes Wohlgefallen an ihm habe, daß er sich für den
Zweiten nach Gott hielt, für den in seiner Art einzigen Sohn Gottes? Mit
einem Wort — er hielt sich für das, was in Wirklichkeit Christus war. Doch dieses Bewußtsein seiner höheren Würde empfand er
nun nicht als sittliche Verpflichtung gegen Gott und Welt, sondern als sein
Recht und seinen Vorzug vor den anderen, besonders aber vor Christus. Anfangs
stand er auch Jesus nicht feindlich gegenüber. Er erkannte Seine messianische
Bedeutung und Würde an, aber im Grunde sah er in Ihm nur seinen größten
Vorgänger — die sittliche Tat Christi und Seine absolute Einzigkeit
waren diesem durch Eigenliebe verfinsterten Geiste unverständlich. Er urteilte
so: ,,Christus ist vor mir gekommen; ich erscheine als Zweiter; nun ist aber
das, was in der Ordnung der Zeit später erscheint, dem Wesen nach das Erste.
Ich komme als Letzter, am Ende der Geschichte, eben weil ich der vollkommene,
endgültige Erlöser bin. Jener Christus war mein Vorläufer. Seine
Aufgabe war, mein Erscheinen vorherzuverkünden und vorzubereiten.“
Und in diesem Gedanken wird der große Mensch des 21. Jahrhunderts all
das auf sich anwenden, was im Neuen Testament über das zweite Kommen gesagt
ist, indem er dies Kommen nicht als Wiederkunft desselben Christus erklärt,
sondern als die Ersetzung des vorläufigen Christus durch den endgültigen,
für den er sich selbst hält.
In diesem Stadium ist der Mensch der Zukunft noch eine wenig charakteristische
und originale Erscheinung. Denn in ähnlicher Weise betrachtete zum Beispiel
Muhammed, der doch ein rechtschaffener Mann war und den man keiner bösen
Absicht zeihen kann, sein Verhältnis zu Christus.
Daß er aus Eigenliebe sich selbst den Vorzug vor Christus gibt, wird dieser
Mensch noch mit folgender Erwägung rechtfertigen: »Christus, der das sittlich
Gute predigte und in seinem Leben darstellte, war ein
Besserer der Menschheit, ich aber bin berufen, der Wohltäter dieser teils gebesserten, teils aber unverbesserlichen Menschheit zu sein. Ich
werde allen Menschen alles geben, was sie brauchen. Als Moralist trennte Christus
die Menschen durch die Unterscheidung von Gut und Böse, ich werde sie vereinigen
durch die Güter, deren Gute und Böse in gleicher Weise bedürfen.
Ich werde der wirkliche Vertreter des Gottes sein, der seine Sonne aufgehen läßt über die Guten und
über die Bösen und regnen läßt über Gerechte und Ungerechte.
Christus brachte das Schwert, ich bringe den Frieden. Er drohte der Erde mit
dem schrecklichen Jüngsten Gericht. Aber der letzte Richter werde ja ich
sein, und mein Gericht wird nicht ein Gericht der bloßen Gerechtigkeit,
sondern ein Gericht der Gnade sein. Auch Gerechtigkeit wird in meinem Gericht
sein, aber keine vergeltende Gerechtigkeit, sondern eine verteilende Gerechtigkeit.
Ich unterscheide sie alle und gebe jedem das, was er braucht.«
Und in dieser wundervollen Stimmung wartet er nun auf irgendeinen klaren Ruf
Gottes zum Werk der neuen Erlösung der Menschheit, auf irgendeine deutliche
und schlagende Bezeugung dessen, daß er der ältere Sohn, der geliebte
Erstling Gottes sei. Er wartet und nährt sein Selbst mit dem Bewußtsein
seiner übermenschlichen Tugenden und Begabungen — denn, wie gesagt,
er ist ein Mensch von untadeliger Sittlichkeit und ungewöhnlicher Genialität.
So wartet der stolze Gerechte der höheren Sanktion, um seine Erlösung
der Menschheit zu beginnen — doch er wartet vergebens. Er hat die Dreißig
schon überschritten, noch drei Jahre vergehen. Und da blitzt es in seinem
Geiste auf, und wie ein heißer Schauder jagt ihm der Gedanke durch Mark
und Bein: .,Wenn aber doch? ... Wenn nun nicht ich, sondern dieser ... Galiläer
... Wenn Er nun doch nicht mein Vorläufer wäre, sondern der Wirkliche,
der Erste und der Letzte? Aber dann müßte Er ja leben ... aber wo
ist Er denn? ... Wenn Er nun plötzlich zu mir käme ... jetzt, hier
... Was sollte ich Ihm sagen? Beugen müßte ich mich ja vor Ihm wie
der letzte dumme Christ, wie irgend so ein russischer Mushik sinnlos brummeln:
Herr Jesus Christ, sei mir Sünder gnädig — oder mich mit ausgebreiteten
Armen hinwerfen wie ein polnisches Bauernweib? Ich, der lichte Genius, der Übermensch.
Nein, nie!“ Und an Stelle der früheren, vernünftig-kalten Achtung
gegen Gott und Christus entsteht und wächst jetzt in seinem Herzen zuerst
eine Art Schrecken, dann aber ein brennender, sein ganzes Wesen erdrückender,
einschnürender Neid und ein greller, den Geist überwältigender
Haß. ,,Ich, ich, und nicht Er! Er ist nicht unter den Lebenden, ist es
nicht und wird es nicht sein. Er ist nicht auferstanden, ist nicht auferstanden,
ist nicht auferstanden! Verfault ist er im Grab, verfault wie die letzte ...“
Und mit Schaum vor dem Munde, in krampfhaften Sprüngen, rennt er aus dem
Hause, aus dem Garten und läuft hinaus in die öde schwarze Nacht auf
felsigem Pfade ... Seine Wut legte sich, und nun überkam ihn Verzweiflung,
trocken und schwer wie diese Felsen, finster wie diese Nacht. An einer senkrecht
abfallenden Wand blieb er stehen und hörte ganz aus der Tiefe einen Wildbach
über die Steine rauschen. Eine unerträgliche Seelenqual bedrückte
sein Herz. Plötzlich regte sich etwas in ihm. ,,Soll ich Ihn rufen, fragen,
was ich tun soll ?,, Und inmitten der Dunkelheit erschien ihm eine Gestalt voller
Sanftmut und Trauer. ,,Er bemitleidet mich ... nein, niemals! Er ist nicht auferstanden,
ist nicht auferstanden.“ Und er stürzte sich den Abhang hinab. Aber
etwas Elastisches, wie eine Wassersäule, hielt ihn in der Luft, er fühlte
eine Erschütterung wie von einem elektrischen Schlage, und eine unsichtbare
Kraft warf ihn zurück. Für einen Augenblick verlor er das Bewußtsein
und fand sich plötzlich kniend, einige Schritte vom Abgrund entfernt. Vor
ihm zeichneten sich die Umrisse einer in phosphorischem, nebelhaftem Glanz leuchtenden
Figur, aus der zwei Augen mit unerträglich scharfem Blick seine Seele durchbohrten
. . .
Er sieht diese zwei durchdringenden Augen und hört eine seltsame Stimme
— er weiß nicht recht, kommt sie von außen oder von innen
—, sie klingt hohl, gleichsam gedrückt, und gleichzeitig deutlich,
metallisch und völlig seelenlos, wie aus einem Phonographen. Und diese
Stimme sagt zu ihm: »Du bist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen
habe. Warum bist du nicht zu mir gekommen? Wofür hast du den geehrt, den
Hässlichen, und seinen Vater? Ich bin dein Gott und Vater. Und jener
Bettler, der Gekreuzigte — mir ist er fremd und dir. Ich habe keinen anderen
Sohn als dich. Du bist der Einzige, der Eingeborene, bist mir gleich. Ich liebe
dich und fordere nichts von dir. Du bist auch so schön, groß, mächtig.
Tu dein Werk in deinem Namen, nicht in
meinem. Ich kenne keinen Neid dir gegenüber. Ich liebe dich. Ich will nichts
von dir. Der, den du für Gott hieltest, forderte von seinem Sohne Gehorsam,
grenzenlosen Gehorsam, bis zum Tode am Kreuz, und er half ihm nicht, als er
am Kreuze hing. Ich fordere nichts von dir, und ich werde dir helfen. Um deiner
selbst willen, um deines eigenen Wertes und deiner Vorzüge willen und aus
meiner reinen uneigennützigen Liebe zu dir werde ich dir helfen. Nimm hin
meinen Geist! Wie mein Geist dich früher in Schönheit
gezeugt hat, so zeugt er dich jetzt in Kraft.« Und bei diesen Worten des Unbekannten öffnete sich der Mund des Übermenschen
ohne dessen Willen, die zwei durchdringenden Augen kamen seinem Gesicht ganz
nahe, und er fühlte, wie ein scharfer, eisiger Strom in ihn eingig und
sein ganzes Wesen erfüllte. Und gleichzeitig empfand er eine unerhörte
Kraft, Munterkeit, Leichtigkeit und Wonne. Im gleichen Augenblick verschwanden
plötzlich das leuchtende Antlitz und die zwei Augen, eine geheimnisvolle
Kraft erhob den Übermenschen über die Erde und ließ ihn dann
schnell in seinem Garten nieder, an der Tür seines Hauses.
S. 105-109 [...]
Aus: Wladimir Solowjew: Übermensch und Anti-Christ, Über das Ende
der Weltgeschichte
Aus dem Gesamtwerk Solowjews ausgewählt und übersetzt, eingeleitet
und erläutert von Ludolf Müller, Verlag Herder Freiburg 1958
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