Dorothee Sölle
(1929 - 2003)
>>>Gott
Wer ist Jesus Christus für
uns heute?
Jesus Christus ist nach christlicher Lehre der Erlöser der Welt. Der griechische Fachausdruck für die Lehre über Christus heißt »Christologie«, der Logos über Christus. Wenn ich
hier zu der Frage »Wer ist Jesus Christus?« die Worte »für uns heute«, die in der Ökumene häufig
auftauchen, hinzufüge, dann geschieht das im Wissen, dass nicht alle
Christen sich auf das »heute« und auf das »für uns«
einlassen. Viele konzentrieren sich auf einen ewigen Christus, ja sie benutzen
Christus zur Distanzierung von der eigenen Geschichte. Historisches Bewusstsein
ist also ein Grund, warum Christen in der Ökumene — die ja eine Art
Weltgespräch zwischen der Dritten, der Zweiten und der Ersten Welt offenhält
— diese Formulierung gewählt haben. Der zweite Grund ist ein Solidaritätsbewusstsein:
Mit dem »für uns« wollen die Christen in der Ökumene über
diejenigen, die nur ein »für mich« gelten lassen wollen, hinausgehen.
Um das zu verstehen, muss man die fundamentalistischen Strömungen
im Protestantismus im Auge behalten, die eine »persönliche Beziehung
zum persönlichen Heiland und Erlöser« zum zentralen Thema machen
und eine Spiritualität pflegen, in der die Frage, welche Bedeutung Jesus
Christus für mich hat, jene andere Frage, was er für die ganze geschaffene
und historisch verfasste Welt bedeute, ganz verschlingt.
Ich glaube nicht, dass der Individualismus als Horizont ausreicht, um das,
was Jesus Christus bedeutet, auszudrücken. Das individualistische Verständnis sagt: »Jesus Christus ist mein persönlicher
Heiland, mein Erlöser.« Vorausgesetzt ist dabei, dass
ich als Individuum allein bin und die Tiefe meiner Spiritualität nur dann
berührt ist, wenn mich dieser Erlöser, Jesus Christus, in eine persönliche
Beziehung zu sich stellt, die dann zum Wichtigsten wird, sie definiert mein
Christsein. Meine Anfragen an diese Frömmigkeit gehen darauf, wie meine
persönliche Bindung an Christus sich mit meinem ökonomischen, politischen,
sexuellen Leben verknüpft.
Ich will das noch einmal deutlich machen am Beispiel meiner nationalen Identität.
Mein Leben ist mitbestimmt durch die Geschichte meines Volkes. Der Glaube an
Christus betrifft unser ganzes Leben und zieht uns nicht heraus aus der Geschichte
in eine private Heilsgeschichte, sondern er verbindet uns tiefer und unausweichlicher
mit den anderen um uns herum. Christus begegnet mir in den Dimensionen meiner
Lebenszeit. Was im Namen Jesu Christi anderen Menschen angetan worden ist von
meinem Volk, betrifft auch mein Christsein. Es ist deutlich, dass Auschwitz
ohne Christentum nicht möglich gewesen wäre. Der christliche Antijudaismus
und moderne Antisemitismus sind ein Teil meines Erbes. In dieser Verantwortlichkeit
für das, was ich geerbt habe, und für das, was ich weitergebe, verstehe
ich mein Leben. Die Annahme Jesu verbindet mich mit anderen, aus dem »für
mich« wird das »für uns«.
Eine der katastrophalen Folgen des Kapitalismus besteht in dem, was er den reichen
Menschen im Herzen dieses wirtschaftlichen Systems antut an Reduktion des Menschseins
auf das einzelne Individuum. In der amerikanischen Werbung ist zu beobachten,
wie alle Gegenstände »ganz persönlich für dich« dasein
sollen, auch wenn sie millionenfach existieren. Deine Initialen, deine Anfangsbuchstaben
müssen auf deinem T-Shirt sein, auf deinem Kugelschreiber, auf deiner Tasse
— und auf deinem Jesus! Auch er ist ganz persönlich für dich
da. In dieser Religion lebt kein anderer Geist als in der Verkaufskultur; Jesus
ist für den massenwirksamen Fundamentalismus »mein ganz persönlicher
Heiland«, und darüber hinaus ist eigentlich nichts zu sagen. In dem
Bekenntnis zu »Jesus Christ — my personal
saviour« steckt keine Hoffnung für diejenigen, die unser System
zum Hungertod verurteilt. Es ist ein frommer Satz voller Gleichgültigkeit
für die Armen und voller Hoffnungslosigkeit für uns alle. Im Lichte
dieser individualistischen Verkürzung müssen wir die Frage der Christologie ökumenisch stellen und nach Jesus Christus »für uns heute« in unserem Lebensraum und in unserer Lebenszeit fragen.
Eine der Keunergeschichten von Bertolt Brecht lautet: »Einer
fragte Herrn K., ob es einen Gott gäbe. Herr K. sagte: >Ich rate dir,
nachzudenken, ob dein Verhalten je nach der Antwort auf diese Frage sich ändern
würde. Würde es sich nicht ändern, dann können wir die Frage
fallenlassen. Würde es sich ändern, dann kann ich dir wenigstens noch
so weit behilflich sein, daß ich dir sage, du hast dich schon entschieden:
Du brauchst einen Gott.« Diese Erkenntnis trifft für Christus
und unsere Beziehung zu ihm genauso zu. Wenn sich unser Verhalten nicht ändert
durch unsere Beziehung zu ihm, so können wir die christologische Frage
fallenlassen. Würde es sich ändern, so »brauchen« wir Christus. In welchem Sinn?
Ich will hier methodisch etwas anders vorgehen als in den bisherigen Teilen
dieser Vorlesung. Bisher habe ich die theologischen Themen dargestellt im Rahmen
der drei großen Paradigmen, die den heutigen Diskurs bestimmen. Ich habe
die Unterschiede herausgehoben und die Gemeinsamkeiten bewusst vernachlässigt.
Ich wollte den Sinn für die Verschiedenartigkeit heutiger Theologien wecken.
Auf die Überschneidungen und auf die theologischen Ansätze, die sich
nur schwer in das hier vorgeschlagene Grundschema einordnen lassen, habe ich
wenig geachtet, obwohl mir natürlich die Relativität einer solchen
Einteilung, die bewusst nicht von der Theologie, sondern von verschiedenen
theologischen Paradigmen spricht, klar ist. Ich will hier mit einem Zeugnis über Christus beginnen, das aus einer Umfrage zum Thema »Wer ist
Jesus von Nazareth — für mich?« stammt. (Vielleicht lässt
sich dieser Text unter der Frage, zu welchem theologischen Paradigma er die
größte Nähe hat, hören oder lesen; es ist ein Merkmal der
Qualität bestimmter theologischer Texte, daß sie die Denkschulen
und Lehrmeinungen, aus denen sie stammen, übersteigen.) Helmut Gollwitzer war einer der hundert Zeitgenossen, die auf die Frage antworteten; seine Antwort
ist ganz persönlich, aber nicht im mindesten individualistisch. »Was
Jesus in meinem Leben bedeutet, soll ich sagen, wenn ich die Aufforderung recht
verstehe. Nicht also zusammenfassen, was mir von dem, was ich durch die Vermittlung
der christlichen Überlieferung von ihm höre, als das Wichtigste erscheint,
sondern wie dies in meinem Leben, soweit es mir bewusst geworden ist, gewirkt
hat.
Das Wichtigste, aus dem alles andere folgt: Ich bin durch das Hören dessen,
was von ihm zu hören ist, nie allein gewesen. Wohl habe ich mich, wie jeder
Mensch, oft genug allein gefühlt, verlassen, hilflos preisgegeben, aber
in dieses Alleinsein sprach er mit seinem >Ich bin da!< herein. Ich sprach
mit ihm, fragte ihn, hörte sehr deutliche Worte, die er mir sagte, hatte
mich damit zu beschäftigen — der Bann des Alleinseins war gebrochen.
Er gab und gibt mir zu tun. Er steht in einem großen Werk, dem größten
hier auf Erden: die Revolution des Menschengeschlechts, der einzelnen und aller,
zu einem neuen Leben, zum wirklichen, erfüllten Menschsein. Daran beteiligt
er den, den er zu seinem Jünger gewinnt. Daran beteiligt zu werden ist
selbst schon Teilhabe am neuen Leben. Wir haben auch ohne ihn allerlei zu tun,
allerlei, was wir tun wollen, und allerlei, was wir — aus den verschiedensten
Gründen — tun müssen. Darauf legt sich immer wieder der Staub
der Vergänglichkeit, einer letzten Sinnlosigkeit. Der Zusammenhang mit
Jesu großem Werk gibt auch dem Unscheinbarsten eine ewige Bedeutung; es
wird nichts verloren sein. Ein freudiger Sinn kommt in alles Tun.
Dass er mich dabei haben will, ist täglicher Anlass zum Staunen.
Ich erfahre täglich die Grenzen meiner Dienstwilligkeit, meiner Bereitschaft
zu opfern. Meine Mitarbeit an seinem Werk ist meist ein ziemlich kläglicher
Kompromiss zwischen dem, was dieses Werk braucht, und dem, was ich für
mich zu brauchen meine. Weder möchte ich die Mitarbeit fahrenlassen noch
auch darauf verzichten, auf meine eigene Rechnung zu kommen. So ist es mit der
Revolutionierung meines eigenen Lebens doch nicht so weit her. Dennoch verzichtet
er nicht auf mich. Daran ging mir, als ich ein junger Mensch war, der Kern der
lutherischen Rechtfertigungslehre auf, der >Rechtfertigung des Gottlosen<,
und das hat mich seither nicht verlassen: Er nimmt den Untauglichen an und verspricht
ihm damit täglich, ihn tauglich zu machen.
Er macht mir die Menschen lieb. Einige sind das ohnehin, viele andere nicht.
Er sagt mir, dass er den liebt, der mir fremd, gleichgültig oder gar
unsympathisch ist. Damit hilft er zu einem anderen Verhalten: gesprächsfähig
werden, den anderen so offen und ernsthaft hören, wie ich selbst gern gehört
und ernstgenommen werden möchte, keinen abschreiben, über keinen ein
letztes Urteil sprechen, in Hoffnung immer neu es mit jedem versuchen. Damit
weitet er meinen Blick auf die Fernerstehenden: auf die außerhalb meines
Milieus, auf die Gesellschaftsnöte, auf die Dritte Welt. Sie alle werden
zu meinem Nächsten.
Damit stört er mich. Ich kann mich wegen seines Dazwischentretens nicht
verhalten, wie ich zunächst wollte. Oft genug tue ich es natürlich,
leider. Aber er überläßt mich nicht meinen Neigungen und Launen.
Er ringt mit mir, es kommt zum Streit, manchmal setzt er sich durch. So gestört
zu werden ist das Heilsamste, was uns widerfahren kann. Daß man ihn >Herr<
nennt, kann ich dieser Erfahrung wegen nicht als bedrückend empfinden.
Er beschneidet meine Freiheit nicht, er ist kein despotisches Über-Ich,
gegen das ich ankämpfen muss, um zu mir selbst zu kommen, im Gegenteil,
je mehr ich mich von seinem Dazwischenreden bestimmen lasse, desto freier, unbefangener,
freundlicher und fröhlicher werde ich.
Als ich zum ersten Mal in Gestapohaft lag, sagte ich mir alte Gesangbuchverse
vor. In ihnen sprechen Christen davon, dass Jesus alles sei und daß
es gut sei, ihm alles hinzugeben. Ich fand mich dazu nicht in der Lage. Ich
hatte Angst und liebte mein Leben. An die Wand der Zelle kratzte ich mit einem
Stück Draht den Namen ein: Jesus. Er sagte mir, sooft ich darauf schaute,
alles, was ich hier geschrieben habe. Es kam dann nicht so schlimm, wie ich
gefürchtet hatte, aber auch wenn es — wie für viele andere!
— schlimmer gekommen wäre, hätte er recht behalten. Er wird
mit dem, was er mir und allen sagt, recht behalten.«
Christologie ist der Versuch, das Geheimnis Jesu zu erfassen. Was ist das Besondere
an diesem zu Tode gefolterten Mann aus Galiläa? Warum war er nicht umzubringen?
Warum ist er, wie in diesem Text, immer noch wirkend gegenwärtig? Gollwitzers
Antwort auf diese Fragen ist tief in der orthodoxen Tradition verwurzelt, und ich habe seinen Text gerade darum ausgewählt,
um dieser Tradition, die uns oft vergangen und formelhaft erscheint, in ihrer
eigenen Stärke und Lebendigkeit gerecht zu werden. Das erste, was Gollwitzer über Jesus sagt, ist ein Hinweis auf das, was Jesus für ihn geleistet
hat: »Ich bin nie allein gewesen.« Das ist eine Beschreibung der Funktion Christi oder der »Werke«
Christi. Die Bedeutung Christi ist für die Theologie der Reformation nicht
aus seinen beiden »Naturen«, also seiner göttlichen und menschlichen
Wesensart, abzulesen, sondern aus seinen »Werken« oder seinem »Amt«,
wie Luther gern sagt. Ein reformatorischer Grundsatz heißt: »Hoc
est Christum cognoscere, beneficia ejus cognoscere, non... ejus naturas« (Melanchthon, Loci Communes, 1521). Christus zu erkennen bedeutet, seine
Wohltaten, nicht seine Naturen zu erkennen. Darin ist eine Abwendung von einer
spekulativen Christologie, eine Hinwendung zu einer praxis-orientierten Christologie
gedacht.
Christus bricht den Bann des Alleinseins und »gab und gibt mir zu tun«,
wie Gollwitzer sagt. Das bedeutet, er beteiligt mich an seinem Werk, der Revolution
des Menschengeschlechts, die wirkliches, erfülltes Leben für alle
bedeutet. Dieses Werk Jesu wird zwar von meiner Sünde, die Gollwitzer »die
Grenzen meiner Dienstwilligkeit« nennt, behindert, aber nicht aufgehoben. »Dennoch verzichtet Christus nicht auf mich«, sagt Gollwitzer und verknüpft so die Christologie als Lehre davon, wie Christus mich beteiligt,
mit der Rechtfertigungslehre Luthers, die entwickelt, wie Gott »den
Untauglichen« annimmt und täglich verspricht, ihn tauglich
zu machen und zu heiligen.
Indem Gollwitzer vom Werk oder den Wohltaten Christi spricht, artikuliert er
indirekt zugleich, was die alte Tradition die beiden »Naturen« Christi
nannte: sein Mensch-Sein und sein Gott-Sein. Wie kann beides so gedacht werden,
daß die Einheit der Person gewahrt bleibt? Das ist die Frage, die auf
dem kirchlichen Konzil von Chalzedon (451) mit der Formel »wahrer Mensch und wahrer Gott« (vere homo, vere Deus) beantwortet wurde. Es ist wichtig zu begreifen, dass die Erkenntnis der »Naturen« Christi der Annahme seines »Werkes«, das er
für uns tut, untergeordnet bleibt. Die dritte Strophe des Liedes »Es
ist ein Ros entsprungen« drückt das klar aus:
Das Blümelein so kleine, das duftet
uns so süß;
mit seinem hellen Scheine vertreibt‘s die Finsternis:
Wahr‘ Mensch und wahrer Gott,
hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd und Tod.
1844 (EG 30,3)
Es wird zunächst auf das, was Christus tut, gesehen.
Vom Duften der Rose, die ein altes Bild für Christus ist, wird gesprochen
— dem großen »Weltgestank« gegenüber, von dem das
Mittelalter zu reden wusste; dann davon, dass Christus die Finsternis,
in der man nichts erkennt, vertreibt, und dann erst erscheint die christologische
Formel, fast wie ein Gebetsruf gebraucht.
Wenn wir die Bedeutung Christi in einem theologischen Text verstehen wollen,
so ist es eine gute Methode, die Mensch-Aussagen und die Gott-Aussagen herauszusuchen.
Bei Gollwitzer sind die Aussagen. die sich auf Gott-in-Christus beziehen, die
folgenden: Christus verzichtet nicht auf mich, er ringt mit mir, er stört
mich, er ist kein despotisches Über-Ich, er macht mich freier, unbefangener.
freundlicher und fröhlicher, und — in einer eschatologischen Wendung
— er wird recht behalten. Gollwitzer hat in diesem Text die traditionellen
Bilder für Christus vermieden und seine Bedeutung mit der Hilfe von Verben
wie stören, ringen. freier machen, recht behalten herausgearbeitet. Diese
Art Sprache bewegt sich vom Dogma weg auf die Narration, die Erzählung
zu. Er hat allerdings auch ein Bildwort der Tradition. das Wort Herr, das heute
bei vielen Anstoß erregt, gerechtfertigt.
Aus: Dorothee Sölle, Gott denken . Einführung
in die Theologie (Serie Piper 3416, S.137-143)
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